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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Aus Württemberg

Kammer geht, so würde die Steuer sogar für die Einkommen von mehr als
100000 Mark bis auf sechs Prozent ansteigen; die Regierung und die erste
Kammer haben sich aber dem gegenüber für das Höchstmaß von vier Prozent
(wie in Preußen) ausgesprochen, um nicht das im Lande vorhandne Kapital
zur Auswanderung zu treiben, und ein Ausgleich auf fünf Prozent steht in
Aussicht.

Was endlich die Gemeindereform angeht, so bestand in Württemberg
bisher die Lebenslänglichkeit sämtlicher -- wohl gemerkt, auch vom allgemeinen
und gleichen Stimmrecht gewühlter -- Ortsvorsteher, deren Befugnisse sehr
viel weiter gehen, als die ihrer Amtsgenossen im übrigen Deutschland. Diese
große Machtfülle verschaffte tüchtigen und gewissenhaften Ortsvorstehern die
Möglichkeit, ihren Gemeinden sehr nützlich zu werden, versetzte aber andrerseits
solche Gemeinden, die schlechte Schultheißen hatten, in um so größere Be¬
drängnis. Die Klagen wurden denn auch immer lauter; die Demokratie, der
die lebenslänglichen Ortsvorsteher wie alle festen Autoritäten sehr unbequem
waren, nutzte das weidlich aus, und nachdem die zweite Kammer am 27. April
die Regierungsvorlage über die Wahl der Schultheißen auf zehn Jahre gut
geheißen hat, wird auch die erste Kammer ohne Zweifel die Sache annehmen.
Sicherlich wird das neue Gesetz dem genannten Übelstand abhelfen und den
Gemeinden ermöglichen, unfähige Ortsvorsteher nach zehn Jahren abzusetzen;
andrerseits wird die Stelle der Schultheißen gegen unten sehr viel abhängiger
werden, und das ist auch "zeitgemäß."

In der zweiten Maiwoche hat sich nun aus den sogenannten Initiativ¬
anträgen der Zentrumsfraktion in unsrer zweiten Kammer eine Situation ent¬
wickelt, der ein viel allgemeineres Interesse zukommt als irgend welchen andern
politischen Vorgängen innerhalb unsers Landes seit geraumer Zeit. Gewiß
waren auch die Fragen bedeutsam, die unsre Verfassungsreform in Fluß ge¬
bracht hat: ob es in unsrer Zeit wohl gethan sei, die Volksvertretung unter
Beseitigung aller konservativen Bürgschaften ausschließlich auf das -- wie
gesagt, mit dem Bezug von Tagegeldern für die Abgeordneten verbundne --
schrankenlose allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht zu gründen
und das Proportionalwahlsystem zum ersten mal in einem monarchischen Staate
einzuführen. Aber die Initiativanträge haben noch tiefer eingegriffen und zu
einer grundsätzlichen Debatte über das Verhältnis von Kirche und Staat ge¬
führt, also über eine Frage, die noch jedes Jahrhundert beschäftigt hat und
für das gesamte Volksleben von größter Tragweite ist.

Als das Zentrum nämlich sah, daß die Verfassungsreform notwendig zu
einer wesentlichen Verstärkung des evangelischen Elements in der (bisher etwa
zu zwei Dritteln katholischen) Kammer der Standesherren führen müsse, sind ihm
Bedenken aufgestiegen, ob seine Parteiinteressen nicht dadurch, trotz des ihm in
der zweiten Kammer durch Proporz und Wegfall der Stichwahlen winkenden


Aus Württemberg

Kammer geht, so würde die Steuer sogar für die Einkommen von mehr als
100000 Mark bis auf sechs Prozent ansteigen; die Regierung und die erste
Kammer haben sich aber dem gegenüber für das Höchstmaß von vier Prozent
(wie in Preußen) ausgesprochen, um nicht das im Lande vorhandne Kapital
zur Auswanderung zu treiben, und ein Ausgleich auf fünf Prozent steht in
Aussicht.

Was endlich die Gemeindereform angeht, so bestand in Württemberg
bisher die Lebenslänglichkeit sämtlicher — wohl gemerkt, auch vom allgemeinen
und gleichen Stimmrecht gewühlter — Ortsvorsteher, deren Befugnisse sehr
viel weiter gehen, als die ihrer Amtsgenossen im übrigen Deutschland. Diese
große Machtfülle verschaffte tüchtigen und gewissenhaften Ortsvorstehern die
Möglichkeit, ihren Gemeinden sehr nützlich zu werden, versetzte aber andrerseits
solche Gemeinden, die schlechte Schultheißen hatten, in um so größere Be¬
drängnis. Die Klagen wurden denn auch immer lauter; die Demokratie, der
die lebenslänglichen Ortsvorsteher wie alle festen Autoritäten sehr unbequem
waren, nutzte das weidlich aus, und nachdem die zweite Kammer am 27. April
die Regierungsvorlage über die Wahl der Schultheißen auf zehn Jahre gut
geheißen hat, wird auch die erste Kammer ohne Zweifel die Sache annehmen.
Sicherlich wird das neue Gesetz dem genannten Übelstand abhelfen und den
Gemeinden ermöglichen, unfähige Ortsvorsteher nach zehn Jahren abzusetzen;
andrerseits wird die Stelle der Schultheißen gegen unten sehr viel abhängiger
werden, und das ist auch „zeitgemäß."

In der zweiten Maiwoche hat sich nun aus den sogenannten Initiativ¬
anträgen der Zentrumsfraktion in unsrer zweiten Kammer eine Situation ent¬
wickelt, der ein viel allgemeineres Interesse zukommt als irgend welchen andern
politischen Vorgängen innerhalb unsers Landes seit geraumer Zeit. Gewiß
waren auch die Fragen bedeutsam, die unsre Verfassungsreform in Fluß ge¬
bracht hat: ob es in unsrer Zeit wohl gethan sei, die Volksvertretung unter
Beseitigung aller konservativen Bürgschaften ausschließlich auf das — wie
gesagt, mit dem Bezug von Tagegeldern für die Abgeordneten verbundne —
schrankenlose allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht zu gründen
und das Proportionalwahlsystem zum ersten mal in einem monarchischen Staate
einzuführen. Aber die Initiativanträge haben noch tiefer eingegriffen und zu
einer grundsätzlichen Debatte über das Verhältnis von Kirche und Staat ge¬
führt, also über eine Frage, die noch jedes Jahrhundert beschäftigt hat und
für das gesamte Volksleben von größter Tragweite ist.

Als das Zentrum nämlich sah, daß die Verfassungsreform notwendig zu
einer wesentlichen Verstärkung des evangelischen Elements in der (bisher etwa
zu zwei Dritteln katholischen) Kammer der Standesherren führen müsse, sind ihm
Bedenken aufgestiegen, ob seine Parteiinteressen nicht dadurch, trotz des ihm in
der zweiten Kammer durch Proporz und Wegfall der Stichwahlen winkenden


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[0075] Aus Württemberg Kammer geht, so würde die Steuer sogar für die Einkommen von mehr als 100000 Mark bis auf sechs Prozent ansteigen; die Regierung und die erste Kammer haben sich aber dem gegenüber für das Höchstmaß von vier Prozent (wie in Preußen) ausgesprochen, um nicht das im Lande vorhandne Kapital zur Auswanderung zu treiben, und ein Ausgleich auf fünf Prozent steht in Aussicht. Was endlich die Gemeindereform angeht, so bestand in Württemberg bisher die Lebenslänglichkeit sämtlicher — wohl gemerkt, auch vom allgemeinen und gleichen Stimmrecht gewühlter — Ortsvorsteher, deren Befugnisse sehr viel weiter gehen, als die ihrer Amtsgenossen im übrigen Deutschland. Diese große Machtfülle verschaffte tüchtigen und gewissenhaften Ortsvorstehern die Möglichkeit, ihren Gemeinden sehr nützlich zu werden, versetzte aber andrerseits solche Gemeinden, die schlechte Schultheißen hatten, in um so größere Be¬ drängnis. Die Klagen wurden denn auch immer lauter; die Demokratie, der die lebenslänglichen Ortsvorsteher wie alle festen Autoritäten sehr unbequem waren, nutzte das weidlich aus, und nachdem die zweite Kammer am 27. April die Regierungsvorlage über die Wahl der Schultheißen auf zehn Jahre gut geheißen hat, wird auch die erste Kammer ohne Zweifel die Sache annehmen. Sicherlich wird das neue Gesetz dem genannten Übelstand abhelfen und den Gemeinden ermöglichen, unfähige Ortsvorsteher nach zehn Jahren abzusetzen; andrerseits wird die Stelle der Schultheißen gegen unten sehr viel abhängiger werden, und das ist auch „zeitgemäß." In der zweiten Maiwoche hat sich nun aus den sogenannten Initiativ¬ anträgen der Zentrumsfraktion in unsrer zweiten Kammer eine Situation ent¬ wickelt, der ein viel allgemeineres Interesse zukommt als irgend welchen andern politischen Vorgängen innerhalb unsers Landes seit geraumer Zeit. Gewiß waren auch die Fragen bedeutsam, die unsre Verfassungsreform in Fluß ge¬ bracht hat: ob es in unsrer Zeit wohl gethan sei, die Volksvertretung unter Beseitigung aller konservativen Bürgschaften ausschließlich auf das — wie gesagt, mit dem Bezug von Tagegeldern für die Abgeordneten verbundne — schrankenlose allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht zu gründen und das Proportionalwahlsystem zum ersten mal in einem monarchischen Staate einzuführen. Aber die Initiativanträge haben noch tiefer eingegriffen und zu einer grundsätzlichen Debatte über das Verhältnis von Kirche und Staat ge¬ führt, also über eine Frage, die noch jedes Jahrhundert beschäftigt hat und für das gesamte Volksleben von größter Tragweite ist. Als das Zentrum nämlich sah, daß die Verfassungsreform notwendig zu einer wesentlichen Verstärkung des evangelischen Elements in der (bisher etwa zu zwei Dritteln katholischen) Kammer der Standesherren führen müsse, sind ihm Bedenken aufgestiegen, ob seine Parteiinteressen nicht dadurch, trotz des ihm in der zweiten Kammer durch Proporz und Wegfall der Stichwahlen winkenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/75>, abgerufen am 28.07.2024.