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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Line Zwickauer Dramaturgie

gange geweiht ist, so kann Steiger wohl dem kommenden poetischen Über¬
menschen hoffnungsvoll entgegensehen, einstweilen aber nur die als Talente
gelten lassen, die am Werke der Zersetzung und der Zerstörung mitarbeiten.
Und hier ists, wo der tiefste Gegensatz seiner Weltanschauung zu der unsern
begründet liegt, ihm gilt als historische und künstlerische Notwendigkeit,
was uns andern, wenn nicht überall, so doch vielfach, als launische oder
modische und frevle Willkür erscheint, für ihn hebt das Moderne erst da an,
wo es entweder als "Dekadence," als halb wahnsinnig gewordne Genußsucht
und Ichsucht mit jeder "Philistertum" getauften physischen und geistigen Ge¬
sundheit in Widerspruch tritt, oder wo es als Sturmbock gegen Lebensmächte
dienen kann, die, trotz allem, auch das zwanzigste und einundzwanzigste Jahr¬
hundert zu beherrschen -- wir sagen versprechen -- Edgar Steiger wird sagen
zu beherrschen drohen. Die Doppelsophistik des sozialdemokratischen Apostels
und des Vertreters der litterarischen Moderne, die im Grunde genommen gar
nichts mit einander gemeinsam haben, wirken in den Auseinandersetzungen dieser
Zwickauer Dramaturgie zusammen, um die letzte Wendung "aus der drückenden
Enge und der verdorbnen Stickluft, in der die Stimmungsmenschlein langsam
verglühen, auf das stürmende Meer des großen Lebens, wo der freie Wille
mit den Naturmächten kämpft, wo in der Ferne wie das helle Licht eines Leucht¬
turms das neue moralische Ideal der Zukuuftsmeuschheit winkt," als eine
bloße Phrase erscheinen zu lassen.

Wem es ganzer Ernst um die große Tragödie, um den Kampf des freien
Willens nut den Naturmüchten. um die Starken und Überwinder ist, der muß
wissen und spüren, daß weder der Haschischrausch von Kunstwerken wie Richard
Dehmels "Mitmensch" oder Cäsar Flaischlens "Toni Stürmer" auch nur eine
Vorstufe zur Stärke und Überwindung sein kann, noch das verkniffne, ver-
grübelte Problemspiel von Ibsens "Baumeister Solneß" oder "Klein Eyolf"
im Ernst als "Kritik der bestehenden Gesellschaft" ausgedeutet werden darf.
Er hat, um sich und rückwärts schauend, ganz andre Dinge zu sehen und ganz
andre Leistungen zu würdigen, als was hier unter der Firma "das Werden
des Neuen" in künstlichen und zum kleinsten Teil berechtigten Gegensatz zur
Kunst zweier Jahrtausende gebracht wird. Wohl sagt der Verfasser: "Ibsen,
Hauptmann und Maeterlinck waren mir mehr als drei vereinzelte Dichter der
Gegenwart. Ich bediente mich der drei Namen lediglich, um an ihnen, wie
an einem Faden, meine Gedanken über das moderne Drama aufzureihen. Ob
ein späterer Geschichtschreiber sie ebenso aus der Menge der Mitlebenden
herausheben oder ans seiner Vogelperspektive andre, die mir in der Nähe
kleiner dünken, höher bewerten wird, kann meine kritische Seelenruhe nicht
stören. Ich wollte ja nur das Werden des neuen Dramas an einigen Haupt¬
beispielen veranschaulichen, ich spürte mitten in dem chaotischen Getriebe der
heutigen Bühne dem Neuen nach, das sich erst gestalten wollte; ich mühte mich


Line Zwickauer Dramaturgie

gange geweiht ist, so kann Steiger wohl dem kommenden poetischen Über¬
menschen hoffnungsvoll entgegensehen, einstweilen aber nur die als Talente
gelten lassen, die am Werke der Zersetzung und der Zerstörung mitarbeiten.
Und hier ists, wo der tiefste Gegensatz seiner Weltanschauung zu der unsern
begründet liegt, ihm gilt als historische und künstlerische Notwendigkeit,
was uns andern, wenn nicht überall, so doch vielfach, als launische oder
modische und frevle Willkür erscheint, für ihn hebt das Moderne erst da an,
wo es entweder als „Dekadence," als halb wahnsinnig gewordne Genußsucht
und Ichsucht mit jeder „Philistertum" getauften physischen und geistigen Ge¬
sundheit in Widerspruch tritt, oder wo es als Sturmbock gegen Lebensmächte
dienen kann, die, trotz allem, auch das zwanzigste und einundzwanzigste Jahr¬
hundert zu beherrschen — wir sagen versprechen — Edgar Steiger wird sagen
zu beherrschen drohen. Die Doppelsophistik des sozialdemokratischen Apostels
und des Vertreters der litterarischen Moderne, die im Grunde genommen gar
nichts mit einander gemeinsam haben, wirken in den Auseinandersetzungen dieser
Zwickauer Dramaturgie zusammen, um die letzte Wendung „aus der drückenden
Enge und der verdorbnen Stickluft, in der die Stimmungsmenschlein langsam
verglühen, auf das stürmende Meer des großen Lebens, wo der freie Wille
mit den Naturmächten kämpft, wo in der Ferne wie das helle Licht eines Leucht¬
turms das neue moralische Ideal der Zukuuftsmeuschheit winkt," als eine
bloße Phrase erscheinen zu lassen.

Wem es ganzer Ernst um die große Tragödie, um den Kampf des freien
Willens nut den Naturmüchten. um die Starken und Überwinder ist, der muß
wissen und spüren, daß weder der Haschischrausch von Kunstwerken wie Richard
Dehmels „Mitmensch" oder Cäsar Flaischlens „Toni Stürmer" auch nur eine
Vorstufe zur Stärke und Überwindung sein kann, noch das verkniffne, ver-
grübelte Problemspiel von Ibsens „Baumeister Solneß" oder „Klein Eyolf"
im Ernst als „Kritik der bestehenden Gesellschaft" ausgedeutet werden darf.
Er hat, um sich und rückwärts schauend, ganz andre Dinge zu sehen und ganz
andre Leistungen zu würdigen, als was hier unter der Firma „das Werden
des Neuen" in künstlichen und zum kleinsten Teil berechtigten Gegensatz zur
Kunst zweier Jahrtausende gebracht wird. Wohl sagt der Verfasser: „Ibsen,
Hauptmann und Maeterlinck waren mir mehr als drei vereinzelte Dichter der
Gegenwart. Ich bediente mich der drei Namen lediglich, um an ihnen, wie
an einem Faden, meine Gedanken über das moderne Drama aufzureihen. Ob
ein späterer Geschichtschreiber sie ebenso aus der Menge der Mitlebenden
herausheben oder ans seiner Vogelperspektive andre, die mir in der Nähe
kleiner dünken, höher bewerten wird, kann meine kritische Seelenruhe nicht
stören. Ich wollte ja nur das Werden des neuen Dramas an einigen Haupt¬
beispielen veranschaulichen, ich spürte mitten in dem chaotischen Getriebe der
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[0619] Line Zwickauer Dramaturgie gange geweiht ist, so kann Steiger wohl dem kommenden poetischen Über¬ menschen hoffnungsvoll entgegensehen, einstweilen aber nur die als Talente gelten lassen, die am Werke der Zersetzung und der Zerstörung mitarbeiten. Und hier ists, wo der tiefste Gegensatz seiner Weltanschauung zu der unsern begründet liegt, ihm gilt als historische und künstlerische Notwendigkeit, was uns andern, wenn nicht überall, so doch vielfach, als launische oder modische und frevle Willkür erscheint, für ihn hebt das Moderne erst da an, wo es entweder als „Dekadence," als halb wahnsinnig gewordne Genußsucht und Ichsucht mit jeder „Philistertum" getauften physischen und geistigen Ge¬ sundheit in Widerspruch tritt, oder wo es als Sturmbock gegen Lebensmächte dienen kann, die, trotz allem, auch das zwanzigste und einundzwanzigste Jahr¬ hundert zu beherrschen — wir sagen versprechen — Edgar Steiger wird sagen zu beherrschen drohen. Die Doppelsophistik des sozialdemokratischen Apostels und des Vertreters der litterarischen Moderne, die im Grunde genommen gar nichts mit einander gemeinsam haben, wirken in den Auseinandersetzungen dieser Zwickauer Dramaturgie zusammen, um die letzte Wendung „aus der drückenden Enge und der verdorbnen Stickluft, in der die Stimmungsmenschlein langsam verglühen, auf das stürmende Meer des großen Lebens, wo der freie Wille mit den Naturmächten kämpft, wo in der Ferne wie das helle Licht eines Leucht¬ turms das neue moralische Ideal der Zukuuftsmeuschheit winkt," als eine bloße Phrase erscheinen zu lassen. Wem es ganzer Ernst um die große Tragödie, um den Kampf des freien Willens nut den Naturmüchten. um die Starken und Überwinder ist, der muß wissen und spüren, daß weder der Haschischrausch von Kunstwerken wie Richard Dehmels „Mitmensch" oder Cäsar Flaischlens „Toni Stürmer" auch nur eine Vorstufe zur Stärke und Überwindung sein kann, noch das verkniffne, ver- grübelte Problemspiel von Ibsens „Baumeister Solneß" oder „Klein Eyolf" im Ernst als „Kritik der bestehenden Gesellschaft" ausgedeutet werden darf. Er hat, um sich und rückwärts schauend, ganz andre Dinge zu sehen und ganz andre Leistungen zu würdigen, als was hier unter der Firma „das Werden des Neuen" in künstlichen und zum kleinsten Teil berechtigten Gegensatz zur Kunst zweier Jahrtausende gebracht wird. Wohl sagt der Verfasser: „Ibsen, Hauptmann und Maeterlinck waren mir mehr als drei vereinzelte Dichter der Gegenwart. Ich bediente mich der drei Namen lediglich, um an ihnen, wie an einem Faden, meine Gedanken über das moderne Drama aufzureihen. Ob ein späterer Geschichtschreiber sie ebenso aus der Menge der Mitlebenden herausheben oder ans seiner Vogelperspektive andre, die mir in der Nähe kleiner dünken, höher bewerten wird, kann meine kritische Seelenruhe nicht stören. Ich wollte ja nur das Werden des neuen Dramas an einigen Haupt¬ beispielen veranschaulichen, ich spürte mitten in dem chaotischen Getriebe der heutigen Bühne dem Neuen nach, das sich erst gestalten wollte; ich mühte mich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/619>, abgerufen am 28.07.2024.