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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Line Zwickauer Dramaturgie

In dem überhitzten künstlichen Gegensatz -- vom natürlichen sprechen wir hier
nicht -- der "neuen" zur "alten" Kunst liegt alles eher, als die rührende
uneigennützige Arbeit kunstfroher Geister. Wenn ein denkender Beobachter und
Mitempfinder -- und das ist Edgar Steiger jedenfalls -- den Versuch macht,
auch diesen Gegensatz selig zu sprechen und mit einem Heiligenschein zu um¬
geben, so muß er weit ausholen, "mit den Waffen der modernen Erkenntnis¬
theorie den Grnndproblemen der Ästhetik zu Leibe gehen und das künstlerische
Schauen und Schaffen nach eigner innerer Erfahrung zu schildern suchen."
Als solche Erfahrung steht ihm fest, daß die Stimmung nicht nur Ursache
und Triebfeder, sondern auch der eigentliche Lebensgehalt des künstlerischen
Schaffens sei, daß die Gebilde aller verschiednen Künste lediglich als der sinn¬
liche Niederschlag einer künstlerischen Stimmung erscheinen. "Es ist ja möglich,
daß sie, um die frohen und traurigen Gefühle ihres Schöpfers, genau so wie
er sie fühlte, auf den Betrachter oder Hörer zu übertragen, gar viele packende
Bilder von ihm entrollen oder sehr lange, lustige und traurige Geschichten er¬
zählen müssen. Aber diese Bilder, diese Geschichten dienten dem schaffenden
Künstler nur als Mittel, um sich seiner Stimmung zu entäußern, und diese
Stimmung, die sich infolge dessen auch des Betrachters oder Hörers bemächtigt,
giebt den Bildern und Geschichten selbst erst das künstlerische Leben." Wenn
der Verfasser der Zwickauer Dramaturgie nun weiter folgert, daß die Stim¬
mung des Dramatikers ihn zwingt, die ganze Welt in sein Ich hereinzuziehen
("er kriecht nicht etwa, wie der erzählende Dichter, nur für kurze Augenblicke
in seine Menschen hinein, um aus ihrer Seele heraus schnell einige Worte zu
sprechen und sich dann sofort wieder in sein eignes Ich zurückzuziehen und sie,
in deren Namen er noch eben sprach, gleichsam schmunzelnd von anßen zu be¬
trachten, sondern er lebt beständig in den von ihm geschaffnen Menschen und
betrachtet die ganze Welt umher nur mit ihren Augen"), wenn er sonach im
Drama ein Gedicht sieht, aus dem der Dichter verschwunden ist ("vor lauter
Jchwerdungen hat der Seelenwandler sein eignes Ich verloren"), in dem sich
"die Welt als Ich" -- in "die Welt als Kampf" verwandelt hat, so läßt
sich mit einem nicht allzuweiter Sprung die Anschauung gewinnen, daß sich
der dramatische Dichter äußerst wohl suhlen müsse in einem Jahrhundert, "da
vor seinen Augen eine altgewordne Welt mit dem Tode ringt und eine neue
unter schweren Wehen geboren wird."

Freilich muß auch unser Zwickaner Dramaturg zugeben, daß gerade den
angeblichen Vertretern der neuen Welt der neue Dramatiker noch lange aus¬
bleiben könne. "Das Proletariat, meint er, wird, solange es Proletariat ist,
auch keine Kunst aus sich heraus erzeugen. Kommt die Zeit aber, da es, im
Vollbesitz der ganzen Kultur der Vergangenheit, unter neuen Kulturzuständen,
die es sich selber geschaffen hat, künstlerisch zu schaffen beginnt, so hat es längst
aufgehört, Proletariat zu sein; dann ist es eben die neue Menschheit geworden,


Line Zwickauer Dramaturgie

In dem überhitzten künstlichen Gegensatz — vom natürlichen sprechen wir hier
nicht — der „neuen" zur „alten" Kunst liegt alles eher, als die rührende
uneigennützige Arbeit kunstfroher Geister. Wenn ein denkender Beobachter und
Mitempfinder — und das ist Edgar Steiger jedenfalls — den Versuch macht,
auch diesen Gegensatz selig zu sprechen und mit einem Heiligenschein zu um¬
geben, so muß er weit ausholen, „mit den Waffen der modernen Erkenntnis¬
theorie den Grnndproblemen der Ästhetik zu Leibe gehen und das künstlerische
Schauen und Schaffen nach eigner innerer Erfahrung zu schildern suchen."
Als solche Erfahrung steht ihm fest, daß die Stimmung nicht nur Ursache
und Triebfeder, sondern auch der eigentliche Lebensgehalt des künstlerischen
Schaffens sei, daß die Gebilde aller verschiednen Künste lediglich als der sinn¬
liche Niederschlag einer künstlerischen Stimmung erscheinen. „Es ist ja möglich,
daß sie, um die frohen und traurigen Gefühle ihres Schöpfers, genau so wie
er sie fühlte, auf den Betrachter oder Hörer zu übertragen, gar viele packende
Bilder von ihm entrollen oder sehr lange, lustige und traurige Geschichten er¬
zählen müssen. Aber diese Bilder, diese Geschichten dienten dem schaffenden
Künstler nur als Mittel, um sich seiner Stimmung zu entäußern, und diese
Stimmung, die sich infolge dessen auch des Betrachters oder Hörers bemächtigt,
giebt den Bildern und Geschichten selbst erst das künstlerische Leben." Wenn
der Verfasser der Zwickauer Dramaturgie nun weiter folgert, daß die Stim¬
mung des Dramatikers ihn zwingt, die ganze Welt in sein Ich hereinzuziehen
(„er kriecht nicht etwa, wie der erzählende Dichter, nur für kurze Augenblicke
in seine Menschen hinein, um aus ihrer Seele heraus schnell einige Worte zu
sprechen und sich dann sofort wieder in sein eignes Ich zurückzuziehen und sie,
in deren Namen er noch eben sprach, gleichsam schmunzelnd von anßen zu be¬
trachten, sondern er lebt beständig in den von ihm geschaffnen Menschen und
betrachtet die ganze Welt umher nur mit ihren Augen"), wenn er sonach im
Drama ein Gedicht sieht, aus dem der Dichter verschwunden ist („vor lauter
Jchwerdungen hat der Seelenwandler sein eignes Ich verloren"), in dem sich
„die Welt als Ich" — in „die Welt als Kampf" verwandelt hat, so läßt
sich mit einem nicht allzuweiter Sprung die Anschauung gewinnen, daß sich
der dramatische Dichter äußerst wohl suhlen müsse in einem Jahrhundert, „da
vor seinen Augen eine altgewordne Welt mit dem Tode ringt und eine neue
unter schweren Wehen geboren wird."

Freilich muß auch unser Zwickaner Dramaturg zugeben, daß gerade den
angeblichen Vertretern der neuen Welt der neue Dramatiker noch lange aus¬
bleiben könne. „Das Proletariat, meint er, wird, solange es Proletariat ist,
auch keine Kunst aus sich heraus erzeugen. Kommt die Zeit aber, da es, im
Vollbesitz der ganzen Kultur der Vergangenheit, unter neuen Kulturzuständen,
die es sich selber geschaffen hat, künstlerisch zu schaffen beginnt, so hat es längst
aufgehört, Proletariat zu sein; dann ist es eben die neue Menschheit geworden,


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[0617] Line Zwickauer Dramaturgie In dem überhitzten künstlichen Gegensatz — vom natürlichen sprechen wir hier nicht — der „neuen" zur „alten" Kunst liegt alles eher, als die rührende uneigennützige Arbeit kunstfroher Geister. Wenn ein denkender Beobachter und Mitempfinder — und das ist Edgar Steiger jedenfalls — den Versuch macht, auch diesen Gegensatz selig zu sprechen und mit einem Heiligenschein zu um¬ geben, so muß er weit ausholen, „mit den Waffen der modernen Erkenntnis¬ theorie den Grnndproblemen der Ästhetik zu Leibe gehen und das künstlerische Schauen und Schaffen nach eigner innerer Erfahrung zu schildern suchen." Als solche Erfahrung steht ihm fest, daß die Stimmung nicht nur Ursache und Triebfeder, sondern auch der eigentliche Lebensgehalt des künstlerischen Schaffens sei, daß die Gebilde aller verschiednen Künste lediglich als der sinn¬ liche Niederschlag einer künstlerischen Stimmung erscheinen. „Es ist ja möglich, daß sie, um die frohen und traurigen Gefühle ihres Schöpfers, genau so wie er sie fühlte, auf den Betrachter oder Hörer zu übertragen, gar viele packende Bilder von ihm entrollen oder sehr lange, lustige und traurige Geschichten er¬ zählen müssen. Aber diese Bilder, diese Geschichten dienten dem schaffenden Künstler nur als Mittel, um sich seiner Stimmung zu entäußern, und diese Stimmung, die sich infolge dessen auch des Betrachters oder Hörers bemächtigt, giebt den Bildern und Geschichten selbst erst das künstlerische Leben." Wenn der Verfasser der Zwickauer Dramaturgie nun weiter folgert, daß die Stim¬ mung des Dramatikers ihn zwingt, die ganze Welt in sein Ich hereinzuziehen („er kriecht nicht etwa, wie der erzählende Dichter, nur für kurze Augenblicke in seine Menschen hinein, um aus ihrer Seele heraus schnell einige Worte zu sprechen und sich dann sofort wieder in sein eignes Ich zurückzuziehen und sie, in deren Namen er noch eben sprach, gleichsam schmunzelnd von anßen zu be¬ trachten, sondern er lebt beständig in den von ihm geschaffnen Menschen und betrachtet die ganze Welt umher nur mit ihren Augen"), wenn er sonach im Drama ein Gedicht sieht, aus dem der Dichter verschwunden ist („vor lauter Jchwerdungen hat der Seelenwandler sein eignes Ich verloren"), in dem sich „die Welt als Ich" — in „die Welt als Kampf" verwandelt hat, so läßt sich mit einem nicht allzuweiter Sprung die Anschauung gewinnen, daß sich der dramatische Dichter äußerst wohl suhlen müsse in einem Jahrhundert, „da vor seinen Augen eine altgewordne Welt mit dem Tode ringt und eine neue unter schweren Wehen geboren wird." Freilich muß auch unser Zwickaner Dramaturg zugeben, daß gerade den angeblichen Vertretern der neuen Welt der neue Dramatiker noch lange aus¬ bleiben könne. „Das Proletariat, meint er, wird, solange es Proletariat ist, auch keine Kunst aus sich heraus erzeugen. Kommt die Zeit aber, da es, im Vollbesitz der ganzen Kultur der Vergangenheit, unter neuen Kulturzuständen, die es sich selber geschaffen hat, künstlerisch zu schaffen beginnt, so hat es längst aufgehört, Proletariat zu sein; dann ist es eben die neue Menschheit geworden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/617>, abgerufen am 28.07.2024.