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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte

fand seine Bedeutung. Wer die Vogesen durchwandert, sieht leicht, wie die
Menge vorgelagerter Klippen und hinausziehender Rücken vom Ochsenstein bis
zum Stans die Burgbauten und die Beherrschung der Thäler und des
Ebnensaums am Gebirge begünstigt hat.

Der Hauptgrund politischer Zersplitterung lag aber in Deutschland viel
tiefer. Es war das Auseiuanderstreben der politischen Ziele und Aufgaben
zu einer Zeit, wo die Naumbeherrschung noch nicht den großen Entwürfen
gewachsen war. Als die Hohenstaufen in Sizilien ihren wertvollsten Besitz
sahen, strebte Norddeutschland nach der Beherrschung der Ostsee und der Ge¬
winnung des Weichsellandes. Die Richtung des Wachstums macht seit dem
dreizehnten Jahrhundert eine Schwenkung um mehr als neunzig Grad von
Süden nach Nordosten. Der für die Stellung unter den Seemächten so
wichtige Halt am Rheiumündungsland, durch das Streben nach Süden gelockert,
ging nun vollends verloren. Deutschland rückt fast gleichzeitig von den Alpen
und der Nordsee zurück, d. h. von natürlichen Grenzen und verheißungsvoller
Pforten; es gravitirt nach dem grenzenlosen und in der Kultur tiefstehenden
Osten. Und dabei war nicht bloß der für das römische Reich deutscher Nation
vitale Verkehr über die Alpen fünfzehnhundert Jahre lang auf die alte Römer-
straße angewiesen, sondern Deutschland selbst war ein wegarmes Land. Und
deshalb hat seine Geschichte niemals den ganzen Raum des Reiches ausgefüllt.
Norddeutschland ist den Staufern ein fremdes Land. Deutschland hat überhaupt
seine alpinen und transalpinen, burgundischen und danubischen Interessen mit
denen des Tieflands und den maritimen immer nur vorübergehend vereinigen
können. Und darin liegt ein Hauptgrund des Auseinanderfallens Nord- und
Süddeutschlands. Hie Süddeutschland, Alpen und Mittelmeer, hie Nord-
deutschland, Ostseelünder und Ozean! In einer Zeit der Naumschwierigkeiten
bedeutete es Auseinandcrzerrung bis zur Zerreißung oder mindestens Ent¬
fremdung, wenn die politischen und wirtschaftlichen Zielpunkte der einen Reichs-
hälfte nicht bloß am Meer, sondern weit über dem Meer lagen. Die Hcmse-
angelegenheitcn konnten damals nicht Reichsangelegenheiten sür Kaiser sein, deren
Horizont den Oberrhein mit dem Rhoneland und Oberitalien verband. Gegen
Friedrich Barbarossa konnte sich Nordwestdeutschland mit Flandern, England und
Dänemark verbünden. Die auffallende Nordwestlücke in der heutigen politischen
Gestalt Deutschlands ist eben darum von altem Ursprung. Der Niederrhein
und das Rhein- und Maasmündungsland hatten früh eine ganz andre Ent¬
wicklung als das übrige Deutschland. Unter den frühern Kaisern war dieses
das einzige internationale Handelsgebiet Deutschlands, Köln seine einzige See¬
stadt. Dem Binnenverkehr des übrigen Deutschland gegenüber entwickelte sich
hier ein Berbindnngsstrom zum westeuropäischen Verkehr, in den sich die Aus¬
läufer des morgenländischen ergossen. Ein Kaufmannsstand, ein blühendes
Städtewesen kommt bei Sachsen und Friesen früher zur Entwicklung. Wenn


Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte

fand seine Bedeutung. Wer die Vogesen durchwandert, sieht leicht, wie die
Menge vorgelagerter Klippen und hinausziehender Rücken vom Ochsenstein bis
zum Stans die Burgbauten und die Beherrschung der Thäler und des
Ebnensaums am Gebirge begünstigt hat.

Der Hauptgrund politischer Zersplitterung lag aber in Deutschland viel
tiefer. Es war das Auseiuanderstreben der politischen Ziele und Aufgaben
zu einer Zeit, wo die Naumbeherrschung noch nicht den großen Entwürfen
gewachsen war. Als die Hohenstaufen in Sizilien ihren wertvollsten Besitz
sahen, strebte Norddeutschland nach der Beherrschung der Ostsee und der Ge¬
winnung des Weichsellandes. Die Richtung des Wachstums macht seit dem
dreizehnten Jahrhundert eine Schwenkung um mehr als neunzig Grad von
Süden nach Nordosten. Der für die Stellung unter den Seemächten so
wichtige Halt am Rheiumündungsland, durch das Streben nach Süden gelockert,
ging nun vollends verloren. Deutschland rückt fast gleichzeitig von den Alpen
und der Nordsee zurück, d. h. von natürlichen Grenzen und verheißungsvoller
Pforten; es gravitirt nach dem grenzenlosen und in der Kultur tiefstehenden
Osten. Und dabei war nicht bloß der für das römische Reich deutscher Nation
vitale Verkehr über die Alpen fünfzehnhundert Jahre lang auf die alte Römer-
straße angewiesen, sondern Deutschland selbst war ein wegarmes Land. Und
deshalb hat seine Geschichte niemals den ganzen Raum des Reiches ausgefüllt.
Norddeutschland ist den Staufern ein fremdes Land. Deutschland hat überhaupt
seine alpinen und transalpinen, burgundischen und danubischen Interessen mit
denen des Tieflands und den maritimen immer nur vorübergehend vereinigen
können. Und darin liegt ein Hauptgrund des Auseinanderfallens Nord- und
Süddeutschlands. Hie Süddeutschland, Alpen und Mittelmeer, hie Nord-
deutschland, Ostseelünder und Ozean! In einer Zeit der Naumschwierigkeiten
bedeutete es Auseinandcrzerrung bis zur Zerreißung oder mindestens Ent¬
fremdung, wenn die politischen und wirtschaftlichen Zielpunkte der einen Reichs-
hälfte nicht bloß am Meer, sondern weit über dem Meer lagen. Die Hcmse-
angelegenheitcn konnten damals nicht Reichsangelegenheiten sür Kaiser sein, deren
Horizont den Oberrhein mit dem Rhoneland und Oberitalien verband. Gegen
Friedrich Barbarossa konnte sich Nordwestdeutschland mit Flandern, England und
Dänemark verbünden. Die auffallende Nordwestlücke in der heutigen politischen
Gestalt Deutschlands ist eben darum von altem Ursprung. Der Niederrhein
und das Rhein- und Maasmündungsland hatten früh eine ganz andre Ent¬
wicklung als das übrige Deutschland. Unter den frühern Kaisern war dieses
das einzige internationale Handelsgebiet Deutschlands, Köln seine einzige See¬
stadt. Dem Binnenverkehr des übrigen Deutschland gegenüber entwickelte sich
hier ein Berbindnngsstrom zum westeuropäischen Verkehr, in den sich die Aus¬
läufer des morgenländischen ergossen. Ein Kaufmannsstand, ein blühendes
Städtewesen kommt bei Sachsen und Friesen früher zur Entwicklung. Wenn


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[0606] Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte fand seine Bedeutung. Wer die Vogesen durchwandert, sieht leicht, wie die Menge vorgelagerter Klippen und hinausziehender Rücken vom Ochsenstein bis zum Stans die Burgbauten und die Beherrschung der Thäler und des Ebnensaums am Gebirge begünstigt hat. Der Hauptgrund politischer Zersplitterung lag aber in Deutschland viel tiefer. Es war das Auseiuanderstreben der politischen Ziele und Aufgaben zu einer Zeit, wo die Naumbeherrschung noch nicht den großen Entwürfen gewachsen war. Als die Hohenstaufen in Sizilien ihren wertvollsten Besitz sahen, strebte Norddeutschland nach der Beherrschung der Ostsee und der Ge¬ winnung des Weichsellandes. Die Richtung des Wachstums macht seit dem dreizehnten Jahrhundert eine Schwenkung um mehr als neunzig Grad von Süden nach Nordosten. Der für die Stellung unter den Seemächten so wichtige Halt am Rheiumündungsland, durch das Streben nach Süden gelockert, ging nun vollends verloren. Deutschland rückt fast gleichzeitig von den Alpen und der Nordsee zurück, d. h. von natürlichen Grenzen und verheißungsvoller Pforten; es gravitirt nach dem grenzenlosen und in der Kultur tiefstehenden Osten. Und dabei war nicht bloß der für das römische Reich deutscher Nation vitale Verkehr über die Alpen fünfzehnhundert Jahre lang auf die alte Römer- straße angewiesen, sondern Deutschland selbst war ein wegarmes Land. Und deshalb hat seine Geschichte niemals den ganzen Raum des Reiches ausgefüllt. Norddeutschland ist den Staufern ein fremdes Land. Deutschland hat überhaupt seine alpinen und transalpinen, burgundischen und danubischen Interessen mit denen des Tieflands und den maritimen immer nur vorübergehend vereinigen können. Und darin liegt ein Hauptgrund des Auseinanderfallens Nord- und Süddeutschlands. Hie Süddeutschland, Alpen und Mittelmeer, hie Nord- deutschland, Ostseelünder und Ozean! In einer Zeit der Naumschwierigkeiten bedeutete es Auseinandcrzerrung bis zur Zerreißung oder mindestens Ent¬ fremdung, wenn die politischen und wirtschaftlichen Zielpunkte der einen Reichs- hälfte nicht bloß am Meer, sondern weit über dem Meer lagen. Die Hcmse- angelegenheitcn konnten damals nicht Reichsangelegenheiten sür Kaiser sein, deren Horizont den Oberrhein mit dem Rhoneland und Oberitalien verband. Gegen Friedrich Barbarossa konnte sich Nordwestdeutschland mit Flandern, England und Dänemark verbünden. Die auffallende Nordwestlücke in der heutigen politischen Gestalt Deutschlands ist eben darum von altem Ursprung. Der Niederrhein und das Rhein- und Maasmündungsland hatten früh eine ganz andre Ent¬ wicklung als das übrige Deutschland. Unter den frühern Kaisern war dieses das einzige internationale Handelsgebiet Deutschlands, Köln seine einzige See¬ stadt. Dem Binnenverkehr des übrigen Deutschland gegenüber entwickelte sich hier ein Berbindnngsstrom zum westeuropäischen Verkehr, in den sich die Aus¬ läufer des morgenländischen ergossen. Ein Kaufmannsstand, ein blühendes Städtewesen kommt bei Sachsen und Friesen früher zur Entwicklung. Wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/606>, abgerufen am 28.07.2024.