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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte

die Sorge der Geschichtschreiber ist, den Gang dieser Geschichte klar darzustellen.
In der Geschichte eines beschränkten Gebiets, wie z. B. Dierauers Geschichte
der schweizerischen Eidgenossenschaft, zeigt sich das ebenso deutlich, wie in
Kaemmels lichtvollen Werdegang des deutschen Volkes. In großer Zahl sind
darin Hinweise auf den Zusammenhang zwischen der Geschichte und ihrem
Boden gegeben, vereinzelt zwar und zerstreut, aber doch gerade in ihrer un¬
beabsichtigten Wiederkehr ein starker Beweis für die Notwendigkeit einer solchen
Betrachtungsweise. Da sollte sich doch wohl der Versuch lohnen, diesen Zu¬
sammenhang auch einmal zusammenhängend darzustellen, und sei es auch nur
in gedrängtester Übersicht, die mehr anregen, als bestimmt nachweisen und
ausführen soll.

Wir werden uns vor allem zu hüten haben, in der Weise jener vorhin
gerügten Behauptungen irgend eine geographische Eigenschaft unsers Landes
willkürlich herauszuheben und in dieser den Schlüssel zu seiner Geschichte
finden zu wollen. Es giebt eine logisch gebotne Abstufung des geschichtlichen
Wertes geographischer Eigenschaften, über die man sich nicht ungestraft wegsetzt.
Im Vordergrunde bleibt immer die Lage, die unveränderliche Quelle einer Fülle
von Eigenschaften geringern Grades. Solange es ein deutsches Volk giebt,
spielt sich seine Geschichte in dem zwischen der Nord- und der Ostsee und den
Alpen, den Vogesen und der Weichsel liegenden Herzraum Mitteleuropas ab.
Ein großer Teil unsrer Geschichte besteht in den Versuchen, über diesen Raum
hinaus, besonders nach Süden und Westen überzugreifen; aber die Bewegungen
finden zurück wie die sturmbewegten Wellen eines Sees in ihr Becken, und das
alte Land behält seinen alten Wert. Unter manchen Schwankungen wird dabei
der Raum abgegrenzt, den wir heute als deu Flächenraum des Deutschen
Reichs und die Flächenräume der von Deutschen bewohnten Gebiete in Europa
bestimmen. In diesen Bewegungen und in deu Gegenbewegungen, die ihnen
folgen, machen sich dann erst weitere Eigenschaften der Bodcnformen und des
Flußnetzes geltend. Auch hier sind große und kleine Ursachen auseinander
zu halten.

Der Gegensatz von Tiefland und Hochland tritt vor allen andern hervor.
Es ist nicht bloß ein Gegensatz der Höhe und der Formen. Die nach
Norden offne Lage des Tieflandes am Meer, die nach Süden geschlossene
Lage des Hochlands vor den Alpen sind ebenso wichtig. In ihnen liegt der
tiefste, dauerndste Unterschied zwischen Nord und Süd in unserm Vaterlande.
Besonders gehört aber zu den Merkmalen Mitteleuropas der enge Zu¬
sammenhang mit dem flachern Tiefland des Ostens, das. doppelt so groß als
unser Erdteil, sich in seiner ganzen kontinentalen Breite hinter Mitteleuropa
aufthut. Daher der mächtige Einfluß des Ostens auf die Mitte Europas.
Die Geschichte Deutschlands trägt die Spuren dieses Zusammenhangs am
deutlichsten; doch sind sie auch in der Geschichte Österreichs und der Nieder-


Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte

die Sorge der Geschichtschreiber ist, den Gang dieser Geschichte klar darzustellen.
In der Geschichte eines beschränkten Gebiets, wie z. B. Dierauers Geschichte
der schweizerischen Eidgenossenschaft, zeigt sich das ebenso deutlich, wie in
Kaemmels lichtvollen Werdegang des deutschen Volkes. In großer Zahl sind
darin Hinweise auf den Zusammenhang zwischen der Geschichte und ihrem
Boden gegeben, vereinzelt zwar und zerstreut, aber doch gerade in ihrer un¬
beabsichtigten Wiederkehr ein starker Beweis für die Notwendigkeit einer solchen
Betrachtungsweise. Da sollte sich doch wohl der Versuch lohnen, diesen Zu¬
sammenhang auch einmal zusammenhängend darzustellen, und sei es auch nur
in gedrängtester Übersicht, die mehr anregen, als bestimmt nachweisen und
ausführen soll.

Wir werden uns vor allem zu hüten haben, in der Weise jener vorhin
gerügten Behauptungen irgend eine geographische Eigenschaft unsers Landes
willkürlich herauszuheben und in dieser den Schlüssel zu seiner Geschichte
finden zu wollen. Es giebt eine logisch gebotne Abstufung des geschichtlichen
Wertes geographischer Eigenschaften, über die man sich nicht ungestraft wegsetzt.
Im Vordergrunde bleibt immer die Lage, die unveränderliche Quelle einer Fülle
von Eigenschaften geringern Grades. Solange es ein deutsches Volk giebt,
spielt sich seine Geschichte in dem zwischen der Nord- und der Ostsee und den
Alpen, den Vogesen und der Weichsel liegenden Herzraum Mitteleuropas ab.
Ein großer Teil unsrer Geschichte besteht in den Versuchen, über diesen Raum
hinaus, besonders nach Süden und Westen überzugreifen; aber die Bewegungen
finden zurück wie die sturmbewegten Wellen eines Sees in ihr Becken, und das
alte Land behält seinen alten Wert. Unter manchen Schwankungen wird dabei
der Raum abgegrenzt, den wir heute als deu Flächenraum des Deutschen
Reichs und die Flächenräume der von Deutschen bewohnten Gebiete in Europa
bestimmen. In diesen Bewegungen und in deu Gegenbewegungen, die ihnen
folgen, machen sich dann erst weitere Eigenschaften der Bodcnformen und des
Flußnetzes geltend. Auch hier sind große und kleine Ursachen auseinander
zu halten.

Der Gegensatz von Tiefland und Hochland tritt vor allen andern hervor.
Es ist nicht bloß ein Gegensatz der Höhe und der Formen. Die nach
Norden offne Lage des Tieflandes am Meer, die nach Süden geschlossene
Lage des Hochlands vor den Alpen sind ebenso wichtig. In ihnen liegt der
tiefste, dauerndste Unterschied zwischen Nord und Süd in unserm Vaterlande.
Besonders gehört aber zu den Merkmalen Mitteleuropas der enge Zu¬
sammenhang mit dem flachern Tiefland des Ostens, das. doppelt so groß als
unser Erdteil, sich in seiner ganzen kontinentalen Breite hinter Mitteleuropa
aufthut. Daher der mächtige Einfluß des Ostens auf die Mitte Europas.
Die Geschichte Deutschlands trägt die Spuren dieses Zusammenhangs am
deutlichsten; doch sind sie auch in der Geschichte Österreichs und der Nieder-


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[0601] Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte die Sorge der Geschichtschreiber ist, den Gang dieser Geschichte klar darzustellen. In der Geschichte eines beschränkten Gebiets, wie z. B. Dierauers Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft, zeigt sich das ebenso deutlich, wie in Kaemmels lichtvollen Werdegang des deutschen Volkes. In großer Zahl sind darin Hinweise auf den Zusammenhang zwischen der Geschichte und ihrem Boden gegeben, vereinzelt zwar und zerstreut, aber doch gerade in ihrer un¬ beabsichtigten Wiederkehr ein starker Beweis für die Notwendigkeit einer solchen Betrachtungsweise. Da sollte sich doch wohl der Versuch lohnen, diesen Zu¬ sammenhang auch einmal zusammenhängend darzustellen, und sei es auch nur in gedrängtester Übersicht, die mehr anregen, als bestimmt nachweisen und ausführen soll. Wir werden uns vor allem zu hüten haben, in der Weise jener vorhin gerügten Behauptungen irgend eine geographische Eigenschaft unsers Landes willkürlich herauszuheben und in dieser den Schlüssel zu seiner Geschichte finden zu wollen. Es giebt eine logisch gebotne Abstufung des geschichtlichen Wertes geographischer Eigenschaften, über die man sich nicht ungestraft wegsetzt. Im Vordergrunde bleibt immer die Lage, die unveränderliche Quelle einer Fülle von Eigenschaften geringern Grades. Solange es ein deutsches Volk giebt, spielt sich seine Geschichte in dem zwischen der Nord- und der Ostsee und den Alpen, den Vogesen und der Weichsel liegenden Herzraum Mitteleuropas ab. Ein großer Teil unsrer Geschichte besteht in den Versuchen, über diesen Raum hinaus, besonders nach Süden und Westen überzugreifen; aber die Bewegungen finden zurück wie die sturmbewegten Wellen eines Sees in ihr Becken, und das alte Land behält seinen alten Wert. Unter manchen Schwankungen wird dabei der Raum abgegrenzt, den wir heute als deu Flächenraum des Deutschen Reichs und die Flächenräume der von Deutschen bewohnten Gebiete in Europa bestimmen. In diesen Bewegungen und in deu Gegenbewegungen, die ihnen folgen, machen sich dann erst weitere Eigenschaften der Bodcnformen und des Flußnetzes geltend. Auch hier sind große und kleine Ursachen auseinander zu halten. Der Gegensatz von Tiefland und Hochland tritt vor allen andern hervor. Es ist nicht bloß ein Gegensatz der Höhe und der Formen. Die nach Norden offne Lage des Tieflandes am Meer, die nach Süden geschlossene Lage des Hochlands vor den Alpen sind ebenso wichtig. In ihnen liegt der tiefste, dauerndste Unterschied zwischen Nord und Süd in unserm Vaterlande. Besonders gehört aber zu den Merkmalen Mitteleuropas der enge Zu¬ sammenhang mit dem flachern Tiefland des Ostens, das. doppelt so groß als unser Erdteil, sich in seiner ganzen kontinentalen Breite hinter Mitteleuropa aufthut. Daher der mächtige Einfluß des Ostens auf die Mitte Europas. Die Geschichte Deutschlands trägt die Spuren dieses Zusammenhangs am deutlichsten; doch sind sie auch in der Geschichte Österreichs und der Nieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/601>, abgerufen am 28.07.2024.