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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Was ist uns Anatolien?

Stellen der Oberfläche zu nahe steht. Jetzt im Monat Mai, nachdem man
hier ausnahmsweise ein trocknes Frühjahr gehabt hat, kann in der Umgegend
von Eskischehir von eigentlicher Trockenheit des Bodens, da wo er auf irgend
welche Art tief bearbeitet ist, keine Rede sein, während die seit Jahrhun¬
derten nicht umgepflügten Weideflächen aussehen wie ein großer Exerzierplatz,
steinhart, von der Trockenheit gespalten, mit lückenhaften, büschelartigem Gras¬
wuchs, ein wundervolles Feld, um mit den kleinen, harthufigen Pferden darüber
hinzugaloppiren. Die Eingebornen selbst geben uns durch allerlei unbeabsich¬
tigte Experimente die beste Belehrung. Während sie den schweren Boden der
Flußthäler unbenutzt lassen, steigen sie auf die Anhöhen und wählen sich zu¬
weilen leichten, steinigen Boden auf den Kämmen von Bodenerhebungen, wo
es am allertrockensten sein muß. Dort im Anfang Mai zu säen, ist in einem
Lande, wo der Sommerregeu selten ist, natürlich das reine Hazardspiel.
Immerhin scheint doch bei diesem Spiel die Aussicht auf Gewinn noch größer
zu sein, als die auf Verlust. Maulbeeranlagen, die an der Meeresküste zu¬
meist bewässert werden, habe ich bei Eskischehir auf dem Rücken eines Hügels
üppig grünen sehen, wo weder verborgne Quellen sein können, noch künstliche
Berieselung möglich ist. Diesen erfrischenden Anblick in dem weiten, baumlosen,
fahlen Gelände -- man wird nämlich hier sehr bescheiden in Bezug auf Natur-
schönheiten -- verdankten wir offenbar nur dem Umstände, daß der Landmann
mit der Grabehacke den lehmigen Boden tief gelockert hatte, besser, als es ihm
mit seinem Pfluge jemals gelingt.

Die Hauptsache in diesem Lande müßte sein, daß man die Winterfeuchtig-
keit ausnutzt. Im Thal liegt der Schnee bis in den Februar, auf hohen
Bergen bis in den April. Aber ich beabsichtige nicht, auf landwirtschaftliche
Erörterungen weiter einzugehen, um nicht den Äußerungen der Fachleute, die
bei der Arbeit sind, vorzugreifen. Ich will nur soviel sagen: man hat gute
Gründe, anzunehmen, daß das Gespenst der Trockenheit nur der unvollkommnen
Bodenbearbeitung der Eingebornen seine Entstehung verdankt. Ist dies so, so
müßte der Getreidebau in diesem Lande, wo kein Sommerregeu die Ernte ver¬
dirbt, geradezu sichrer sein als bei uns. Daß sich einstmals jemand seinen
Kochkessel etwas genauer angesehen hat, dieser Zufall hat uns die Dampf¬
maschine geschenkt und hat das Aussehen der Welt verändert. So kann auch
das Aussehen dieser Länder durch einige kluge Verbesserungen in sein Gegen¬
teil verkehrt werden. Wo die Natur nur Steppen und Einöden hat, da schasst
der Geist der Menschen grüne Felder und ein Paradies von Gärten.

Kann man von den Einheimischen erwarten, daß sie sich einer verständigem
Arbeitsweise zuwenden werden? Man sagt, die Direktion der Bahn habe die
menschenfreundliche Absicht, die Bauern in großem Maße mit europäischen
Pflügen zu versorgen und zugleich durch Belehrung zur europäischen Wirt¬
schaftsweise anleiten zu lassen, eine Sisyphusarbeit, wie ich glaube. Man denke


Was ist uns Anatolien?

Stellen der Oberfläche zu nahe steht. Jetzt im Monat Mai, nachdem man
hier ausnahmsweise ein trocknes Frühjahr gehabt hat, kann in der Umgegend
von Eskischehir von eigentlicher Trockenheit des Bodens, da wo er auf irgend
welche Art tief bearbeitet ist, keine Rede sein, während die seit Jahrhun¬
derten nicht umgepflügten Weideflächen aussehen wie ein großer Exerzierplatz,
steinhart, von der Trockenheit gespalten, mit lückenhaften, büschelartigem Gras¬
wuchs, ein wundervolles Feld, um mit den kleinen, harthufigen Pferden darüber
hinzugaloppiren. Die Eingebornen selbst geben uns durch allerlei unbeabsich¬
tigte Experimente die beste Belehrung. Während sie den schweren Boden der
Flußthäler unbenutzt lassen, steigen sie auf die Anhöhen und wählen sich zu¬
weilen leichten, steinigen Boden auf den Kämmen von Bodenerhebungen, wo
es am allertrockensten sein muß. Dort im Anfang Mai zu säen, ist in einem
Lande, wo der Sommerregeu selten ist, natürlich das reine Hazardspiel.
Immerhin scheint doch bei diesem Spiel die Aussicht auf Gewinn noch größer
zu sein, als die auf Verlust. Maulbeeranlagen, die an der Meeresküste zu¬
meist bewässert werden, habe ich bei Eskischehir auf dem Rücken eines Hügels
üppig grünen sehen, wo weder verborgne Quellen sein können, noch künstliche
Berieselung möglich ist. Diesen erfrischenden Anblick in dem weiten, baumlosen,
fahlen Gelände — man wird nämlich hier sehr bescheiden in Bezug auf Natur-
schönheiten — verdankten wir offenbar nur dem Umstände, daß der Landmann
mit der Grabehacke den lehmigen Boden tief gelockert hatte, besser, als es ihm
mit seinem Pfluge jemals gelingt.

Die Hauptsache in diesem Lande müßte sein, daß man die Winterfeuchtig-
keit ausnutzt. Im Thal liegt der Schnee bis in den Februar, auf hohen
Bergen bis in den April. Aber ich beabsichtige nicht, auf landwirtschaftliche
Erörterungen weiter einzugehen, um nicht den Äußerungen der Fachleute, die
bei der Arbeit sind, vorzugreifen. Ich will nur soviel sagen: man hat gute
Gründe, anzunehmen, daß das Gespenst der Trockenheit nur der unvollkommnen
Bodenbearbeitung der Eingebornen seine Entstehung verdankt. Ist dies so, so
müßte der Getreidebau in diesem Lande, wo kein Sommerregeu die Ernte ver¬
dirbt, geradezu sichrer sein als bei uns. Daß sich einstmals jemand seinen
Kochkessel etwas genauer angesehen hat, dieser Zufall hat uns die Dampf¬
maschine geschenkt und hat das Aussehen der Welt verändert. So kann auch
das Aussehen dieser Länder durch einige kluge Verbesserungen in sein Gegen¬
teil verkehrt werden. Wo die Natur nur Steppen und Einöden hat, da schasst
der Geist der Menschen grüne Felder und ein Paradies von Gärten.

Kann man von den Einheimischen erwarten, daß sie sich einer verständigem
Arbeitsweise zuwenden werden? Man sagt, die Direktion der Bahn habe die
menschenfreundliche Absicht, die Bauern in großem Maße mit europäischen
Pflügen zu versorgen und zugleich durch Belehrung zur europäischen Wirt¬
schaftsweise anleiten zu lassen, eine Sisyphusarbeit, wie ich glaube. Man denke


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[0592] Was ist uns Anatolien? Stellen der Oberfläche zu nahe steht. Jetzt im Monat Mai, nachdem man hier ausnahmsweise ein trocknes Frühjahr gehabt hat, kann in der Umgegend von Eskischehir von eigentlicher Trockenheit des Bodens, da wo er auf irgend welche Art tief bearbeitet ist, keine Rede sein, während die seit Jahrhun¬ derten nicht umgepflügten Weideflächen aussehen wie ein großer Exerzierplatz, steinhart, von der Trockenheit gespalten, mit lückenhaften, büschelartigem Gras¬ wuchs, ein wundervolles Feld, um mit den kleinen, harthufigen Pferden darüber hinzugaloppiren. Die Eingebornen selbst geben uns durch allerlei unbeabsich¬ tigte Experimente die beste Belehrung. Während sie den schweren Boden der Flußthäler unbenutzt lassen, steigen sie auf die Anhöhen und wählen sich zu¬ weilen leichten, steinigen Boden auf den Kämmen von Bodenerhebungen, wo es am allertrockensten sein muß. Dort im Anfang Mai zu säen, ist in einem Lande, wo der Sommerregeu selten ist, natürlich das reine Hazardspiel. Immerhin scheint doch bei diesem Spiel die Aussicht auf Gewinn noch größer zu sein, als die auf Verlust. Maulbeeranlagen, die an der Meeresküste zu¬ meist bewässert werden, habe ich bei Eskischehir auf dem Rücken eines Hügels üppig grünen sehen, wo weder verborgne Quellen sein können, noch künstliche Berieselung möglich ist. Diesen erfrischenden Anblick in dem weiten, baumlosen, fahlen Gelände — man wird nämlich hier sehr bescheiden in Bezug auf Natur- schönheiten — verdankten wir offenbar nur dem Umstände, daß der Landmann mit der Grabehacke den lehmigen Boden tief gelockert hatte, besser, als es ihm mit seinem Pfluge jemals gelingt. Die Hauptsache in diesem Lande müßte sein, daß man die Winterfeuchtig- keit ausnutzt. Im Thal liegt der Schnee bis in den Februar, auf hohen Bergen bis in den April. Aber ich beabsichtige nicht, auf landwirtschaftliche Erörterungen weiter einzugehen, um nicht den Äußerungen der Fachleute, die bei der Arbeit sind, vorzugreifen. Ich will nur soviel sagen: man hat gute Gründe, anzunehmen, daß das Gespenst der Trockenheit nur der unvollkommnen Bodenbearbeitung der Eingebornen seine Entstehung verdankt. Ist dies so, so müßte der Getreidebau in diesem Lande, wo kein Sommerregeu die Ernte ver¬ dirbt, geradezu sichrer sein als bei uns. Daß sich einstmals jemand seinen Kochkessel etwas genauer angesehen hat, dieser Zufall hat uns die Dampf¬ maschine geschenkt und hat das Aussehen der Welt verändert. So kann auch das Aussehen dieser Länder durch einige kluge Verbesserungen in sein Gegen¬ teil verkehrt werden. Wo die Natur nur Steppen und Einöden hat, da schasst der Geist der Menschen grüne Felder und ein Paradies von Gärten. Kann man von den Einheimischen erwarten, daß sie sich einer verständigem Arbeitsweise zuwenden werden? Man sagt, die Direktion der Bahn habe die menschenfreundliche Absicht, die Bauern in großem Maße mit europäischen Pflügen zu versorgen und zugleich durch Belehrung zur europäischen Wirt¬ schaftsweise anleiten zu lassen, eine Sisyphusarbeit, wie ich glaube. Man denke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/592>, abgerufen am 28.07.2024.