Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Gedichte Michelangelos

und doch der sinnlichsten Bilder fähige Phantasie, die in dem Einundachtzig-
jährigcn noch lebendig war. Von den idyllischen Szenen im Anfang bis zu
den grandiosen Gestalten einer allegorischen Welt reißt den Dichter wie willen¬
los die innere Sehkraft fort. Man erkennt zugleich das Bedürfnis der Per¬
sonifikation, den unbewußten Drang, sich Empfindungen und Begriffe als be¬
lebte Wesen vorzustellen und mit greifbarer Deutlichkeit vor das Auge zu
rücken. Das Gedicht ist im höchsten Grade lehrreich für die Art, wie in
Michelangelo der innere Dämon arbeitete, wie er als Künstler verfuhr und
als Dichter. Und so wenig hatte der bußfertige Christ in ihm den gestaltenden
Künstler ausgelöscht!

Ich fasse in Kürze zusammen. Die Gedichte Michelangelos sind Zeugnisse
seines innern Lebens, Selbstbekenntnisse von seinen jungen Jahren bis in
das hohe Greisenalter. Im Anfang mag ihm das Dichten mehr ein Spiel
der Einbildungskraft gewesen sein, eine Übung in müßigen Stunden, Nach¬
ahmung der vaterländischen Dichter. Auf ihren Spuren wandelnd wurde es
ihm mit der Zeit Bedürfnis, für das, was er erlebte, was ihn bewegte, dich¬
terischen Ausdruck zu suchen. Diese Kunstübung wurde ihm nicht leicht; umso
mehr mühte er sich ab, die Schwierigkeiten zu besiegen und seine Gedanken in
die Form der Sonette, Madrigale, Terzinen einzuzwängen. Selten geht der
Gedanke rein in der Form auf. Es bleiben Dunkelheiten, es bleibt ein Nest,
der zu raten giebt. Aber die verschiedenartigsten Töne weiß er anzuschlagen.
Er hat eine humoristische Aoer, die launige Epistel gelingt ihm, und in bur¬
lesken Versen schont er sich selber nicht. Auch für patriotische Empfindung,
für ernste, gehaltene Lebensbetrachtung findet er entsprechende Töne. Doch
der Inhalt der meisten Gedichte ist das unerschöpfliche Thema der Liebe, es
siud Offenbarungen der Gewalt, die Gott Amor über ihn ausübt, und seine
Eigentümlichkeit als Dichter hat er eben auf diesem Gebiete. Von Liebe er¬
griffen ist er durch das ganze Leben bis in die späten Mannesjahre und
darüber hinaus. Aber erst von diesen spätern Jahren gewinnen wir bestimmtere
Züge seiner Liebesleidenschaft. Gedichte seiner frühern Jahre sind überhaupt
nur in geringer Anzahl erhalten, und ihr fragmentarischer Charakter erlaubt
kaum einen Schluß auf sein Innenleben. Erst mit dem Jahre 1532 wird
das anders, als Michelangelo, schon über die Mitte der Fünfziger hinaus, sich
anschickt, Florenz zu verlassen und ganz nach Rom überzusiedeln. Was er
seitdem dichtete, haben seine Freunde gesammelt und aufbewahrt, und durch sie
wurde er selber veranlaßt, allmählich den bisher sorglos behandelten Kindern
seiner Muse größere Sorgfalt zu widmen. Seine Dichtung ist aber in dieser
Zeit ganz überwiegend durch Liebe zu männlicher Schönheit eingegeben, und
besonders tritt der junge Römer Tommaso Cavalieri als Gegenstand einer
feurigen Anbetung hervor, die an Shakespeares schwärmerische, dem schönen


Die Gedichte Michelangelos

und doch der sinnlichsten Bilder fähige Phantasie, die in dem Einundachtzig-
jährigcn noch lebendig war. Von den idyllischen Szenen im Anfang bis zu
den grandiosen Gestalten einer allegorischen Welt reißt den Dichter wie willen¬
los die innere Sehkraft fort. Man erkennt zugleich das Bedürfnis der Per¬
sonifikation, den unbewußten Drang, sich Empfindungen und Begriffe als be¬
lebte Wesen vorzustellen und mit greifbarer Deutlichkeit vor das Auge zu
rücken. Das Gedicht ist im höchsten Grade lehrreich für die Art, wie in
Michelangelo der innere Dämon arbeitete, wie er als Künstler verfuhr und
als Dichter. Und so wenig hatte der bußfertige Christ in ihm den gestaltenden
Künstler ausgelöscht!

Ich fasse in Kürze zusammen. Die Gedichte Michelangelos sind Zeugnisse
seines innern Lebens, Selbstbekenntnisse von seinen jungen Jahren bis in
das hohe Greisenalter. Im Anfang mag ihm das Dichten mehr ein Spiel
der Einbildungskraft gewesen sein, eine Übung in müßigen Stunden, Nach¬
ahmung der vaterländischen Dichter. Auf ihren Spuren wandelnd wurde es
ihm mit der Zeit Bedürfnis, für das, was er erlebte, was ihn bewegte, dich¬
terischen Ausdruck zu suchen. Diese Kunstübung wurde ihm nicht leicht; umso
mehr mühte er sich ab, die Schwierigkeiten zu besiegen und seine Gedanken in
die Form der Sonette, Madrigale, Terzinen einzuzwängen. Selten geht der
Gedanke rein in der Form auf. Es bleiben Dunkelheiten, es bleibt ein Nest,
der zu raten giebt. Aber die verschiedenartigsten Töne weiß er anzuschlagen.
Er hat eine humoristische Aoer, die launige Epistel gelingt ihm, und in bur¬
lesken Versen schont er sich selber nicht. Auch für patriotische Empfindung,
für ernste, gehaltene Lebensbetrachtung findet er entsprechende Töne. Doch
der Inhalt der meisten Gedichte ist das unerschöpfliche Thema der Liebe, es
siud Offenbarungen der Gewalt, die Gott Amor über ihn ausübt, und seine
Eigentümlichkeit als Dichter hat er eben auf diesem Gebiete. Von Liebe er¬
griffen ist er durch das ganze Leben bis in die späten Mannesjahre und
darüber hinaus. Aber erst von diesen spätern Jahren gewinnen wir bestimmtere
Züge seiner Liebesleidenschaft. Gedichte seiner frühern Jahre sind überhaupt
nur in geringer Anzahl erhalten, und ihr fragmentarischer Charakter erlaubt
kaum einen Schluß auf sein Innenleben. Erst mit dem Jahre 1532 wird
das anders, als Michelangelo, schon über die Mitte der Fünfziger hinaus, sich
anschickt, Florenz zu verlassen und ganz nach Rom überzusiedeln. Was er
seitdem dichtete, haben seine Freunde gesammelt und aufbewahrt, und durch sie
wurde er selber veranlaßt, allmählich den bisher sorglos behandelten Kindern
seiner Muse größere Sorgfalt zu widmen. Seine Dichtung ist aber in dieser
Zeit ganz überwiegend durch Liebe zu männlicher Schönheit eingegeben, und
besonders tritt der junge Römer Tommaso Cavalieri als Gegenstand einer
feurigen Anbetung hervor, die an Shakespeares schwärmerische, dem schönen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0574" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228876"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Gedichte Michelangelos</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1967" prev="#ID_1966"> und doch der sinnlichsten Bilder fähige Phantasie, die in dem Einundachtzig-<lb/>
jährigcn noch lebendig war. Von den idyllischen Szenen im Anfang bis zu<lb/>
den grandiosen Gestalten einer allegorischen Welt reißt den Dichter wie willen¬<lb/>
los die innere Sehkraft fort. Man erkennt zugleich das Bedürfnis der Per¬<lb/>
sonifikation, den unbewußten Drang, sich Empfindungen und Begriffe als be¬<lb/>
lebte Wesen vorzustellen und mit greifbarer Deutlichkeit vor das Auge zu<lb/>
rücken. Das Gedicht ist im höchsten Grade lehrreich für die Art, wie in<lb/>
Michelangelo der innere Dämon arbeitete, wie er als Künstler verfuhr und<lb/>
als Dichter. Und so wenig hatte der bußfertige Christ in ihm den gestaltenden<lb/>
Künstler ausgelöscht!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1968" next="#ID_1969"> Ich fasse in Kürze zusammen. Die Gedichte Michelangelos sind Zeugnisse<lb/>
seines innern Lebens, Selbstbekenntnisse von seinen jungen Jahren bis in<lb/>
das hohe Greisenalter. Im Anfang mag ihm das Dichten mehr ein Spiel<lb/>
der Einbildungskraft gewesen sein, eine Übung in müßigen Stunden, Nach¬<lb/>
ahmung der vaterländischen Dichter. Auf ihren Spuren wandelnd wurde es<lb/>
ihm mit der Zeit Bedürfnis, für das, was er erlebte, was ihn bewegte, dich¬<lb/>
terischen Ausdruck zu suchen. Diese Kunstübung wurde ihm nicht leicht; umso<lb/>
mehr mühte er sich ab, die Schwierigkeiten zu besiegen und seine Gedanken in<lb/>
die Form der Sonette, Madrigale, Terzinen einzuzwängen. Selten geht der<lb/>
Gedanke rein in der Form auf. Es bleiben Dunkelheiten, es bleibt ein Nest,<lb/>
der zu raten giebt. Aber die verschiedenartigsten Töne weiß er anzuschlagen.<lb/>
Er hat eine humoristische Aoer, die launige Epistel gelingt ihm, und in bur¬<lb/>
lesken Versen schont er sich selber nicht. Auch für patriotische Empfindung,<lb/>
für ernste, gehaltene Lebensbetrachtung findet er entsprechende Töne. Doch<lb/>
der Inhalt der meisten Gedichte ist das unerschöpfliche Thema der Liebe, es<lb/>
siud Offenbarungen der Gewalt, die Gott Amor über ihn ausübt, und seine<lb/>
Eigentümlichkeit als Dichter hat er eben auf diesem Gebiete. Von Liebe er¬<lb/>
griffen ist er durch das ganze Leben bis in die späten Mannesjahre und<lb/>
darüber hinaus. Aber erst von diesen spätern Jahren gewinnen wir bestimmtere<lb/>
Züge seiner Liebesleidenschaft. Gedichte seiner frühern Jahre sind überhaupt<lb/>
nur in geringer Anzahl erhalten, und ihr fragmentarischer Charakter erlaubt<lb/>
kaum einen Schluß auf sein Innenleben. Erst mit dem Jahre 1532 wird<lb/>
das anders, als Michelangelo, schon über die Mitte der Fünfziger hinaus, sich<lb/>
anschickt, Florenz zu verlassen und ganz nach Rom überzusiedeln. Was er<lb/>
seitdem dichtete, haben seine Freunde gesammelt und aufbewahrt, und durch sie<lb/>
wurde er selber veranlaßt, allmählich den bisher sorglos behandelten Kindern<lb/>
seiner Muse größere Sorgfalt zu widmen. Seine Dichtung ist aber in dieser<lb/>
Zeit ganz überwiegend durch Liebe zu männlicher Schönheit eingegeben, und<lb/>
besonders tritt der junge Römer Tommaso Cavalieri als Gegenstand einer<lb/>
feurigen Anbetung hervor, die an Shakespeares schwärmerische, dem schönen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0574] Die Gedichte Michelangelos und doch der sinnlichsten Bilder fähige Phantasie, die in dem Einundachtzig- jährigcn noch lebendig war. Von den idyllischen Szenen im Anfang bis zu den grandiosen Gestalten einer allegorischen Welt reißt den Dichter wie willen¬ los die innere Sehkraft fort. Man erkennt zugleich das Bedürfnis der Per¬ sonifikation, den unbewußten Drang, sich Empfindungen und Begriffe als be¬ lebte Wesen vorzustellen und mit greifbarer Deutlichkeit vor das Auge zu rücken. Das Gedicht ist im höchsten Grade lehrreich für die Art, wie in Michelangelo der innere Dämon arbeitete, wie er als Künstler verfuhr und als Dichter. Und so wenig hatte der bußfertige Christ in ihm den gestaltenden Künstler ausgelöscht! Ich fasse in Kürze zusammen. Die Gedichte Michelangelos sind Zeugnisse seines innern Lebens, Selbstbekenntnisse von seinen jungen Jahren bis in das hohe Greisenalter. Im Anfang mag ihm das Dichten mehr ein Spiel der Einbildungskraft gewesen sein, eine Übung in müßigen Stunden, Nach¬ ahmung der vaterländischen Dichter. Auf ihren Spuren wandelnd wurde es ihm mit der Zeit Bedürfnis, für das, was er erlebte, was ihn bewegte, dich¬ terischen Ausdruck zu suchen. Diese Kunstübung wurde ihm nicht leicht; umso mehr mühte er sich ab, die Schwierigkeiten zu besiegen und seine Gedanken in die Form der Sonette, Madrigale, Terzinen einzuzwängen. Selten geht der Gedanke rein in der Form auf. Es bleiben Dunkelheiten, es bleibt ein Nest, der zu raten giebt. Aber die verschiedenartigsten Töne weiß er anzuschlagen. Er hat eine humoristische Aoer, die launige Epistel gelingt ihm, und in bur¬ lesken Versen schont er sich selber nicht. Auch für patriotische Empfindung, für ernste, gehaltene Lebensbetrachtung findet er entsprechende Töne. Doch der Inhalt der meisten Gedichte ist das unerschöpfliche Thema der Liebe, es siud Offenbarungen der Gewalt, die Gott Amor über ihn ausübt, und seine Eigentümlichkeit als Dichter hat er eben auf diesem Gebiete. Von Liebe er¬ griffen ist er durch das ganze Leben bis in die späten Mannesjahre und darüber hinaus. Aber erst von diesen spätern Jahren gewinnen wir bestimmtere Züge seiner Liebesleidenschaft. Gedichte seiner frühern Jahre sind überhaupt nur in geringer Anzahl erhalten, und ihr fragmentarischer Charakter erlaubt kaum einen Schluß auf sein Innenleben. Erst mit dem Jahre 1532 wird das anders, als Michelangelo, schon über die Mitte der Fünfziger hinaus, sich anschickt, Florenz zu verlassen und ganz nach Rom überzusiedeln. Was er seitdem dichtete, haben seine Freunde gesammelt und aufbewahrt, und durch sie wurde er selber veranlaßt, allmählich den bisher sorglos behandelten Kindern seiner Muse größere Sorgfalt zu widmen. Seine Dichtung ist aber in dieser Zeit ganz überwiegend durch Liebe zu männlicher Schönheit eingegeben, und besonders tritt der junge Römer Tommaso Cavalieri als Gegenstand einer feurigen Anbetung hervor, die an Shakespeares schwärmerische, dem schönen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/574
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/574>, abgerufen am 28.07.2024.