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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Upanischads

Kälte zum Opfer gefallen waren, und sobald sie sich nur einigermaßen in
Sicherheit sahen, that sich sofort ihre ungebrochne Lebenslust wieder in fröh¬
lichen Spielen kund. Ganz besonders charakteristisch aber ist eine Stelle aus
dem achten Kapitel des fünften Buches der Anabasis, weil darin der unbesieg¬
bare Lebensmut zur echten und höchsten Humanität verklärt erscheint. Als mau
den Xenophon nicht mehr so notwendig brauchte, da thaten, wie das so zu
gehen pflegt, die Verleumdungen und Aussetzungen seiner Neider ihre Wirkung,
und es wurden allerlei Beschwerden laut; unter andern, klagten etliche Sol¬
daten, sie seien von ihm geschlagen worden. Als er aber in der Versammlung
fragte, wer ihn deshalb beschuldige, so meldete sich nur einer zum Wort. Bei
diesem ergab sich nun folgender Thatbestand. Aenophon hatte ihn genötigt,
einen maroden Kameraden zu fuhren, der nicht mehr fortkonnte, und das hatte
er nur widerwillig gethan. Nach einiger Zeit hatte ihn Tenophon angetroffen,
wie er für diesen Mann, der mittlerweile -- so schien es -- gestorben war,
ein Grab grub. Da verriet eine Bewegung des Beines, daß der halb Er¬
starrte noch lebe, und da es dem Xenophon schien, als habe der Führer das
gewußt, so schlug er ihn. In der erwähnten Versammlung nun gestand der
Soldat ein, daß die Sache so verlaufen sei, bemerkte aber, der Mann sei ja
doch bald darauf gestorben, worauf Xenophon erwiderte: Wir sterben alle
einmal; sollen wir uns deswegen lebendig begraben lassen? Und dann fügte
er hinzu, er gestehe offen, daß er nicht bloß diesen Mann, sondern noch
manchen andern geschlagen habe. Nämlich solche, die aus den Reihen liefen,
um zu plündern, und so die Marschordnung mit Auflösung bedrohten, solche,
die sich in den Schnee legten und so in Gefahr gerieten, die Zehen zu ver¬
lieren oder zu erfrieren oder den Feinden in die Hände zu fallen, und solchen,
die mitten im Marsch stehen blieben, habe er eins mit der Faust versetzt,
damit sie nicht die Lanze der Feinde croisade. Das sei also alles nur zu
ihrem besten geschehen. Wäre er gewohnt aus Übermut zu schlagen, so würde
er es jetzt thun, wo er reichlich Wein trinke und wohlgemut sei; aber jetzt
schlage er keinen, da er sehe, daß es ihnen gut gehe. Das also ist Hellenen-,
das ist Enropäerart!

Das Christentum schlägt nun freilich mit seiner beständigen Predigt
vom Kreuz, von der Selbstverleugnung und Abtötung Töne an, die deu
indischen verwandt klingen, aber wer genauer hinhört, wird doch bald den
großen Unterschied merken. Während die indische Askese die Vernichtung zum
Ziele hat, und der Asket allen menschlichen Regungen, auch der Liebe ent¬
sagt, soll der christliche Asket nur alle dem entsagen, was die Entfaltung
seiner höhern Kräfte, namentlich der Liebe, hindert. Sein Ziel ist also durch¬
aus positiv: höchste Bethätigung der Liebe in diesem Leben und höchste Wonne,
nicht die Wonne der Schmerzlosigkeit, sondern die bewußte Wonne höchster
Lust, im Jenseits. Und während dem Brahmanen völlige Freiheit von Leiden-


Die Upanischads

Kälte zum Opfer gefallen waren, und sobald sie sich nur einigermaßen in
Sicherheit sahen, that sich sofort ihre ungebrochne Lebenslust wieder in fröh¬
lichen Spielen kund. Ganz besonders charakteristisch aber ist eine Stelle aus
dem achten Kapitel des fünften Buches der Anabasis, weil darin der unbesieg¬
bare Lebensmut zur echten und höchsten Humanität verklärt erscheint. Als mau
den Xenophon nicht mehr so notwendig brauchte, da thaten, wie das so zu
gehen pflegt, die Verleumdungen und Aussetzungen seiner Neider ihre Wirkung,
und es wurden allerlei Beschwerden laut; unter andern, klagten etliche Sol¬
daten, sie seien von ihm geschlagen worden. Als er aber in der Versammlung
fragte, wer ihn deshalb beschuldige, so meldete sich nur einer zum Wort. Bei
diesem ergab sich nun folgender Thatbestand. Aenophon hatte ihn genötigt,
einen maroden Kameraden zu fuhren, der nicht mehr fortkonnte, und das hatte
er nur widerwillig gethan. Nach einiger Zeit hatte ihn Tenophon angetroffen,
wie er für diesen Mann, der mittlerweile — so schien es — gestorben war,
ein Grab grub. Da verriet eine Bewegung des Beines, daß der halb Er¬
starrte noch lebe, und da es dem Xenophon schien, als habe der Führer das
gewußt, so schlug er ihn. In der erwähnten Versammlung nun gestand der
Soldat ein, daß die Sache so verlaufen sei, bemerkte aber, der Mann sei ja
doch bald darauf gestorben, worauf Xenophon erwiderte: Wir sterben alle
einmal; sollen wir uns deswegen lebendig begraben lassen? Und dann fügte
er hinzu, er gestehe offen, daß er nicht bloß diesen Mann, sondern noch
manchen andern geschlagen habe. Nämlich solche, die aus den Reihen liefen,
um zu plündern, und so die Marschordnung mit Auflösung bedrohten, solche,
die sich in den Schnee legten und so in Gefahr gerieten, die Zehen zu ver¬
lieren oder zu erfrieren oder den Feinden in die Hände zu fallen, und solchen,
die mitten im Marsch stehen blieben, habe er eins mit der Faust versetzt,
damit sie nicht die Lanze der Feinde croisade. Das sei also alles nur zu
ihrem besten geschehen. Wäre er gewohnt aus Übermut zu schlagen, so würde
er es jetzt thun, wo er reichlich Wein trinke und wohlgemut sei; aber jetzt
schlage er keinen, da er sehe, daß es ihnen gut gehe. Das also ist Hellenen-,
das ist Enropäerart!

Das Christentum schlägt nun freilich mit seiner beständigen Predigt
vom Kreuz, von der Selbstverleugnung und Abtötung Töne an, die deu
indischen verwandt klingen, aber wer genauer hinhört, wird doch bald den
großen Unterschied merken. Während die indische Askese die Vernichtung zum
Ziele hat, und der Asket allen menschlichen Regungen, auch der Liebe ent¬
sagt, soll der christliche Asket nur alle dem entsagen, was die Entfaltung
seiner höhern Kräfte, namentlich der Liebe, hindert. Sein Ziel ist also durch¬
aus positiv: höchste Bethätigung der Liebe in diesem Leben und höchste Wonne,
nicht die Wonne der Schmerzlosigkeit, sondern die bewußte Wonne höchster
Lust, im Jenseits. Und während dem Brahmanen völlige Freiheit von Leiden-


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[0565] Die Upanischads Kälte zum Opfer gefallen waren, und sobald sie sich nur einigermaßen in Sicherheit sahen, that sich sofort ihre ungebrochne Lebenslust wieder in fröh¬ lichen Spielen kund. Ganz besonders charakteristisch aber ist eine Stelle aus dem achten Kapitel des fünften Buches der Anabasis, weil darin der unbesieg¬ bare Lebensmut zur echten und höchsten Humanität verklärt erscheint. Als mau den Xenophon nicht mehr so notwendig brauchte, da thaten, wie das so zu gehen pflegt, die Verleumdungen und Aussetzungen seiner Neider ihre Wirkung, und es wurden allerlei Beschwerden laut; unter andern, klagten etliche Sol¬ daten, sie seien von ihm geschlagen worden. Als er aber in der Versammlung fragte, wer ihn deshalb beschuldige, so meldete sich nur einer zum Wort. Bei diesem ergab sich nun folgender Thatbestand. Aenophon hatte ihn genötigt, einen maroden Kameraden zu fuhren, der nicht mehr fortkonnte, und das hatte er nur widerwillig gethan. Nach einiger Zeit hatte ihn Tenophon angetroffen, wie er für diesen Mann, der mittlerweile — so schien es — gestorben war, ein Grab grub. Da verriet eine Bewegung des Beines, daß der halb Er¬ starrte noch lebe, und da es dem Xenophon schien, als habe der Führer das gewußt, so schlug er ihn. In der erwähnten Versammlung nun gestand der Soldat ein, daß die Sache so verlaufen sei, bemerkte aber, der Mann sei ja doch bald darauf gestorben, worauf Xenophon erwiderte: Wir sterben alle einmal; sollen wir uns deswegen lebendig begraben lassen? Und dann fügte er hinzu, er gestehe offen, daß er nicht bloß diesen Mann, sondern noch manchen andern geschlagen habe. Nämlich solche, die aus den Reihen liefen, um zu plündern, und so die Marschordnung mit Auflösung bedrohten, solche, die sich in den Schnee legten und so in Gefahr gerieten, die Zehen zu ver¬ lieren oder zu erfrieren oder den Feinden in die Hände zu fallen, und solchen, die mitten im Marsch stehen blieben, habe er eins mit der Faust versetzt, damit sie nicht die Lanze der Feinde croisade. Das sei also alles nur zu ihrem besten geschehen. Wäre er gewohnt aus Übermut zu schlagen, so würde er es jetzt thun, wo er reichlich Wein trinke und wohlgemut sei; aber jetzt schlage er keinen, da er sehe, daß es ihnen gut gehe. Das also ist Hellenen-, das ist Enropäerart! Das Christentum schlägt nun freilich mit seiner beständigen Predigt vom Kreuz, von der Selbstverleugnung und Abtötung Töne an, die deu indischen verwandt klingen, aber wer genauer hinhört, wird doch bald den großen Unterschied merken. Während die indische Askese die Vernichtung zum Ziele hat, und der Asket allen menschlichen Regungen, auch der Liebe ent¬ sagt, soll der christliche Asket nur alle dem entsagen, was die Entfaltung seiner höhern Kräfte, namentlich der Liebe, hindert. Sein Ziel ist also durch¬ aus positiv: höchste Bethätigung der Liebe in diesem Leben und höchste Wonne, nicht die Wonne der Schmerzlosigkeit, sondern die bewußte Wonne höchster Lust, im Jenseits. Und während dem Brahmanen völlige Freiheit von Leiden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/565>, abgerufen am 28.07.2024.