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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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wenig verworfen, daß vielmehr das Heil der eignen Seele und das Streben
darnach seinen eigentlichen Inhalt bildet; ist es doch die srohe Botschaft von
der verheißenen Seligkeit. Aber auch die Upanischads sind durch und durch
egoistisch in diesem Sinne. Ganz abgesehen von dem oben angeführten Mond-
zcmber, der auf dem allergröbsten, im Alten Testament nirgends vertretnen
Egoismus beruht, finden wir S. 482 folgende Lehre: "Fürwahr, nicht um
des Gatten willen ist der Gatte lieb, sondern um des Selbstes willen ist der
Gatte lieb; fürwahr, nicht um der Gattin willen ist die Gattin lieb, sondern
um des Selbstes willen ist die Gattin lieb; fürwahr, nicht um der Söhne
willen sind die Söhne lieb, sondern um des Selbstes willen sind die Söhne
lieb usw." Dasselbe wird von den Tieren, vom Reichtum, von den Ständen,
von den Göttern, von den Veden. von allen Wesen, vom Weltall gesagt. Und
was kann denn egoistischer gedacht werden, als wenn der Asket seine Familie
von sich stößt und in die Einsamkeit geht, um dort sein Seelenheil zu wirken?
Der Egoismus hört darum nicht ans, Egoismus zu sein, weil er beim weisen
Brahmanen auf die Vernichtung des Ego gerichtet ist. Was ein solcher sucht,
das ist allemal sein eignes Wohl, mag dieses auch nur in der Befreiung vom
Übel bestehen. Der Optimist sucht positives Glück in irgend einer Form, der
Pessimist negatives, ebenso wie der Selbstmörder, der das leibliche Ich los
werden will, weil es ihm eine Last ist. Philosophen wie Deußen bemerken
nicht, daß ihnen zwei ganz verschiedne Begriffe von Egoismus durch einander
fließen. Der tadelnswerte Egoismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes ist
die Behauptung seines Ich auf Kosten und zum Nachteil der andern. Der
Egoismus dagegen, den die Mystiker, nicht bloß die indischen, verwerfen, be¬
steht in der Behauptung des individuellen Daseins, der eignen Persönlichkeit,
die aber nach der Lehre des Neuen Testaments und unsrer größten Philosophen
gerade die höchste Pflicht ist. Selbstlosigkeit im mystischen Sinne der Inder
aber, das Streben nach Selbstvernichtung mit Verleugnung der gesellschaft¬
lichen, Bürger- und Familienpflichten ist nach christlichen Begriffen verwerf¬
licher Egoismus im ersten Sinn.

Und wie es nichts ist mit der Ergänzung des Neuen Testaments durch
die Upanischads im allgemeinen, so ist es auch nichts mit den vermeintlichen
einzelnen Korrekturen des einen durch die andern. Eine solche sieht Deußen
in folgendem. Das Christentum lehre seinem Geiste, wenn auch uicht überall
seinem Buchstaben nach, "daß der Mensch als solcher nur zu sündlichen, d. h.
egoistischen Handlungen" fähig sei (wobei wir gleich schon die Identität von
egoistisch und sündhaft bestreiten müssen), und daß das Gute nur von Gott
M uns gewirkt werden könne. Der Kirche sei es aber zu allen Zeiten schwer
geworden, sich mit dieser Lehre zu befreunden, und sie habe stets dem Synergis¬
mus, der Mitwirkung des Menschen eine Hinterthür offen zu lassen gewußt --
"offenbar, weil sie hinter dem Monergismus, der alles Gute auf Gott zurück-


Grenzboten III 1898 70

wenig verworfen, daß vielmehr das Heil der eignen Seele und das Streben
darnach seinen eigentlichen Inhalt bildet; ist es doch die srohe Botschaft von
der verheißenen Seligkeit. Aber auch die Upanischads sind durch und durch
egoistisch in diesem Sinne. Ganz abgesehen von dem oben angeführten Mond-
zcmber, der auf dem allergröbsten, im Alten Testament nirgends vertretnen
Egoismus beruht, finden wir S. 482 folgende Lehre: „Fürwahr, nicht um
des Gatten willen ist der Gatte lieb, sondern um des Selbstes willen ist der
Gatte lieb; fürwahr, nicht um der Gattin willen ist die Gattin lieb, sondern
um des Selbstes willen ist die Gattin lieb; fürwahr, nicht um der Söhne
willen sind die Söhne lieb, sondern um des Selbstes willen sind die Söhne
lieb usw." Dasselbe wird von den Tieren, vom Reichtum, von den Ständen,
von den Göttern, von den Veden. von allen Wesen, vom Weltall gesagt. Und
was kann denn egoistischer gedacht werden, als wenn der Asket seine Familie
von sich stößt und in die Einsamkeit geht, um dort sein Seelenheil zu wirken?
Der Egoismus hört darum nicht ans, Egoismus zu sein, weil er beim weisen
Brahmanen auf die Vernichtung des Ego gerichtet ist. Was ein solcher sucht,
das ist allemal sein eignes Wohl, mag dieses auch nur in der Befreiung vom
Übel bestehen. Der Optimist sucht positives Glück in irgend einer Form, der
Pessimist negatives, ebenso wie der Selbstmörder, der das leibliche Ich los
werden will, weil es ihm eine Last ist. Philosophen wie Deußen bemerken
nicht, daß ihnen zwei ganz verschiedne Begriffe von Egoismus durch einander
fließen. Der tadelnswerte Egoismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes ist
die Behauptung seines Ich auf Kosten und zum Nachteil der andern. Der
Egoismus dagegen, den die Mystiker, nicht bloß die indischen, verwerfen, be¬
steht in der Behauptung des individuellen Daseins, der eignen Persönlichkeit,
die aber nach der Lehre des Neuen Testaments und unsrer größten Philosophen
gerade die höchste Pflicht ist. Selbstlosigkeit im mystischen Sinne der Inder
aber, das Streben nach Selbstvernichtung mit Verleugnung der gesellschaft¬
lichen, Bürger- und Familienpflichten ist nach christlichen Begriffen verwerf¬
licher Egoismus im ersten Sinn.

Und wie es nichts ist mit der Ergänzung des Neuen Testaments durch
die Upanischads im allgemeinen, so ist es auch nichts mit den vermeintlichen
einzelnen Korrekturen des einen durch die andern. Eine solche sieht Deußen
in folgendem. Das Christentum lehre seinem Geiste, wenn auch uicht überall
seinem Buchstaben nach, „daß der Mensch als solcher nur zu sündlichen, d. h.
egoistischen Handlungen" fähig sei (wobei wir gleich schon die Identität von
egoistisch und sündhaft bestreiten müssen), und daß das Gute nur von Gott
M uns gewirkt werden könne. Der Kirche sei es aber zu allen Zeiten schwer
geworden, sich mit dieser Lehre zu befreunden, und sie habe stets dem Synergis¬
mus, der Mitwirkung des Menschen eine Hinterthür offen zu lassen gewußt —
»offenbar, weil sie hinter dem Monergismus, der alles Gute auf Gott zurück-


Grenzboten III 1898 70
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[0561] wenig verworfen, daß vielmehr das Heil der eignen Seele und das Streben darnach seinen eigentlichen Inhalt bildet; ist es doch die srohe Botschaft von der verheißenen Seligkeit. Aber auch die Upanischads sind durch und durch egoistisch in diesem Sinne. Ganz abgesehen von dem oben angeführten Mond- zcmber, der auf dem allergröbsten, im Alten Testament nirgends vertretnen Egoismus beruht, finden wir S. 482 folgende Lehre: „Fürwahr, nicht um des Gatten willen ist der Gatte lieb, sondern um des Selbstes willen ist der Gatte lieb; fürwahr, nicht um der Gattin willen ist die Gattin lieb, sondern um des Selbstes willen ist die Gattin lieb; fürwahr, nicht um der Söhne willen sind die Söhne lieb, sondern um des Selbstes willen sind die Söhne lieb usw." Dasselbe wird von den Tieren, vom Reichtum, von den Ständen, von den Göttern, von den Veden. von allen Wesen, vom Weltall gesagt. Und was kann denn egoistischer gedacht werden, als wenn der Asket seine Familie von sich stößt und in die Einsamkeit geht, um dort sein Seelenheil zu wirken? Der Egoismus hört darum nicht ans, Egoismus zu sein, weil er beim weisen Brahmanen auf die Vernichtung des Ego gerichtet ist. Was ein solcher sucht, das ist allemal sein eignes Wohl, mag dieses auch nur in der Befreiung vom Übel bestehen. Der Optimist sucht positives Glück in irgend einer Form, der Pessimist negatives, ebenso wie der Selbstmörder, der das leibliche Ich los werden will, weil es ihm eine Last ist. Philosophen wie Deußen bemerken nicht, daß ihnen zwei ganz verschiedne Begriffe von Egoismus durch einander fließen. Der tadelnswerte Egoismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes ist die Behauptung seines Ich auf Kosten und zum Nachteil der andern. Der Egoismus dagegen, den die Mystiker, nicht bloß die indischen, verwerfen, be¬ steht in der Behauptung des individuellen Daseins, der eignen Persönlichkeit, die aber nach der Lehre des Neuen Testaments und unsrer größten Philosophen gerade die höchste Pflicht ist. Selbstlosigkeit im mystischen Sinne der Inder aber, das Streben nach Selbstvernichtung mit Verleugnung der gesellschaft¬ lichen, Bürger- und Familienpflichten ist nach christlichen Begriffen verwerf¬ licher Egoismus im ersten Sinn. Und wie es nichts ist mit der Ergänzung des Neuen Testaments durch die Upanischads im allgemeinen, so ist es auch nichts mit den vermeintlichen einzelnen Korrekturen des einen durch die andern. Eine solche sieht Deußen in folgendem. Das Christentum lehre seinem Geiste, wenn auch uicht überall seinem Buchstaben nach, „daß der Mensch als solcher nur zu sündlichen, d. h. egoistischen Handlungen" fähig sei (wobei wir gleich schon die Identität von egoistisch und sündhaft bestreiten müssen), und daß das Gute nur von Gott M uns gewirkt werden könne. Der Kirche sei es aber zu allen Zeiten schwer geworden, sich mit dieser Lehre zu befreunden, und sie habe stets dem Synergis¬ mus, der Mitwirkung des Menschen eine Hinterthür offen zu lassen gewußt — »offenbar, weil sie hinter dem Monergismus, der alles Gute auf Gott zurück- Grenzboten III 1898 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/561>, abgerufen am 28.07.2024.