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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Upanischads
Des Kleinen Kleinstes bin ich, und nicht weniger
Bin groß ich, bin das bunte, reiche Weltall,
Der Alte bin ich, bin der Geist, der Gottherr,
Ganz golden bin ich, seliger Erscheinung.
Ohr Hand und Fuß bin ich, unendlich mächtig.
Seh ohne Augen, höre ohne Ohren;
Ich bin der Wissende, und außer mir ist
Kein andrer Wissender in ewgen Zeiten.

Von einer Betrachtung über den Atman in den Zuständen des Wachens
und Träumers, des Tiefschlafs, des Sterbens, der Wanderung schreibt Deußen
Seite 463, sie entrolle ein Bild, "das an Wärme und Reichtum der Dar¬
stellung wohl einzig in der indischen Litteratur und vielleicht in der Litteratur
aller Völker dasteht." Es heißt darin nnter anderen: "Das jder Tiefschlaf) ist
die Wesensform des Atman, in der er über das Verlangen erhaben, von Übel
frei und ohne Furcht ist. Denn so wie einer, von einem geliebten Weibe um¬
schlungen, kein Bewußtsein hat von dem, was außen oder innen ist, so auch
hat der Geist, von dem erkenntnisartigen Selbst umschlungen, kein Bewußtsein
von dem, was außen oder innen ist. Das ist die Wesensform, in der er ge¬
stillten Verlangens, selbst sein Verlangen, ohne Verlangen ist und von Kummer
geschieden. Dann ist der Vater nicht Vater und die Mutter nicht Mutter,
die Welten sind nicht Welten, die Götter nicht Götter, die Veden nicht Veden;
dann ist der Dieb nicht Dieb, der Mörder nicht Mörder, der Tschandala nicht
Tschandala, der Büßer nicht Büßer; dann ist Unberührtheit vom Guten und
Unberührtheit vom Bösen, dann hat er überwunden alle Qualen seines Herzens.
Wenn er dann nicht sieht, so ist er doch sehend, obschon er nicht sieht usw."
Gar nicht übel, aber wir müssen gestehen, wir finden es matt, trocken und
Pedantisch im Vergleich z. B. mit den Hymnen von Novalis an die Nacht.

Die ursprüngliche Bestimmung der Upanischads mußte sie mit der Volks¬
religion in die allerengste Verbindung setzen; aber auch später, als sie sich zu
einer halb selbständigen Philosophie aufwuchsen, sind sie ein heilloser Misch¬
masch von Philosophie, Mythologie und Volksaberglauben geblieben und
können daher weder mit der griechisch-römischen, noch mit der modernen Philo¬
sophie auf eine Stufe gestellt werden. Es wimmelt darin von abgeschmackten
Schöpfungsgeschichten, Verwandlungen, Kämpfen zwischen Göttern und Dä¬
monen und sonstigem mythologischen Zubehör, und die heiligen Gebote und
Sprüche werden als Zauberformeln zur Erlangung von Gütern und Abwen¬
dung von Übeln empfohlen. Das Zu- und Abnehmen des Mondes z. B.
rührt nach dieser "Philosophie" von der Aufnahme und Wiederabgabe der
Kinderseelen her; der Mond verspeist solche, wenn die Kinder sterben, und
giebt sie wieder von sich, wenn Kinder geboren werden. Will einer den Tod
seiner Kinder abwenden, so muß er unter gewissen Zeremonien die Strophe
sprechen:


Die Upanischads
Des Kleinen Kleinstes bin ich, und nicht weniger
Bin groß ich, bin das bunte, reiche Weltall,
Der Alte bin ich, bin der Geist, der Gottherr,
Ganz golden bin ich, seliger Erscheinung.
Ohr Hand und Fuß bin ich, unendlich mächtig.
Seh ohne Augen, höre ohne Ohren;
Ich bin der Wissende, und außer mir ist
Kein andrer Wissender in ewgen Zeiten.

Von einer Betrachtung über den Atman in den Zuständen des Wachens
und Träumers, des Tiefschlafs, des Sterbens, der Wanderung schreibt Deußen
Seite 463, sie entrolle ein Bild, „das an Wärme und Reichtum der Dar¬
stellung wohl einzig in der indischen Litteratur und vielleicht in der Litteratur
aller Völker dasteht." Es heißt darin nnter anderen: „Das jder Tiefschlaf) ist
die Wesensform des Atman, in der er über das Verlangen erhaben, von Übel
frei und ohne Furcht ist. Denn so wie einer, von einem geliebten Weibe um¬
schlungen, kein Bewußtsein hat von dem, was außen oder innen ist, so auch
hat der Geist, von dem erkenntnisartigen Selbst umschlungen, kein Bewußtsein
von dem, was außen oder innen ist. Das ist die Wesensform, in der er ge¬
stillten Verlangens, selbst sein Verlangen, ohne Verlangen ist und von Kummer
geschieden. Dann ist der Vater nicht Vater und die Mutter nicht Mutter,
die Welten sind nicht Welten, die Götter nicht Götter, die Veden nicht Veden;
dann ist der Dieb nicht Dieb, der Mörder nicht Mörder, der Tschandala nicht
Tschandala, der Büßer nicht Büßer; dann ist Unberührtheit vom Guten und
Unberührtheit vom Bösen, dann hat er überwunden alle Qualen seines Herzens.
Wenn er dann nicht sieht, so ist er doch sehend, obschon er nicht sieht usw."
Gar nicht übel, aber wir müssen gestehen, wir finden es matt, trocken und
Pedantisch im Vergleich z. B. mit den Hymnen von Novalis an die Nacht.

Die ursprüngliche Bestimmung der Upanischads mußte sie mit der Volks¬
religion in die allerengste Verbindung setzen; aber auch später, als sie sich zu
einer halb selbständigen Philosophie aufwuchsen, sind sie ein heilloser Misch¬
masch von Philosophie, Mythologie und Volksaberglauben geblieben und
können daher weder mit der griechisch-römischen, noch mit der modernen Philo¬
sophie auf eine Stufe gestellt werden. Es wimmelt darin von abgeschmackten
Schöpfungsgeschichten, Verwandlungen, Kämpfen zwischen Göttern und Dä¬
monen und sonstigem mythologischen Zubehör, und die heiligen Gebote und
Sprüche werden als Zauberformeln zur Erlangung von Gütern und Abwen¬
dung von Übeln empfohlen. Das Zu- und Abnehmen des Mondes z. B.
rührt nach dieser „Philosophie" von der Aufnahme und Wiederabgabe der
Kinderseelen her; der Mond verspeist solche, wenn die Kinder sterben, und
giebt sie wieder von sich, wenn Kinder geboren werden. Will einer den Tod
seiner Kinder abwenden, so muß er unter gewissen Zeremonien die Strophe
sprechen:


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[0559] Die Upanischads Des Kleinen Kleinstes bin ich, und nicht weniger Bin groß ich, bin das bunte, reiche Weltall, Der Alte bin ich, bin der Geist, der Gottherr, Ganz golden bin ich, seliger Erscheinung. Ohr Hand und Fuß bin ich, unendlich mächtig. Seh ohne Augen, höre ohne Ohren; Ich bin der Wissende, und außer mir ist Kein andrer Wissender in ewgen Zeiten. Von einer Betrachtung über den Atman in den Zuständen des Wachens und Träumers, des Tiefschlafs, des Sterbens, der Wanderung schreibt Deußen Seite 463, sie entrolle ein Bild, „das an Wärme und Reichtum der Dar¬ stellung wohl einzig in der indischen Litteratur und vielleicht in der Litteratur aller Völker dasteht." Es heißt darin nnter anderen: „Das jder Tiefschlaf) ist die Wesensform des Atman, in der er über das Verlangen erhaben, von Übel frei und ohne Furcht ist. Denn so wie einer, von einem geliebten Weibe um¬ schlungen, kein Bewußtsein hat von dem, was außen oder innen ist, so auch hat der Geist, von dem erkenntnisartigen Selbst umschlungen, kein Bewußtsein von dem, was außen oder innen ist. Das ist die Wesensform, in der er ge¬ stillten Verlangens, selbst sein Verlangen, ohne Verlangen ist und von Kummer geschieden. Dann ist der Vater nicht Vater und die Mutter nicht Mutter, die Welten sind nicht Welten, die Götter nicht Götter, die Veden nicht Veden; dann ist der Dieb nicht Dieb, der Mörder nicht Mörder, der Tschandala nicht Tschandala, der Büßer nicht Büßer; dann ist Unberührtheit vom Guten und Unberührtheit vom Bösen, dann hat er überwunden alle Qualen seines Herzens. Wenn er dann nicht sieht, so ist er doch sehend, obschon er nicht sieht usw." Gar nicht übel, aber wir müssen gestehen, wir finden es matt, trocken und Pedantisch im Vergleich z. B. mit den Hymnen von Novalis an die Nacht. Die ursprüngliche Bestimmung der Upanischads mußte sie mit der Volks¬ religion in die allerengste Verbindung setzen; aber auch später, als sie sich zu einer halb selbständigen Philosophie aufwuchsen, sind sie ein heilloser Misch¬ masch von Philosophie, Mythologie und Volksaberglauben geblieben und können daher weder mit der griechisch-römischen, noch mit der modernen Philo¬ sophie auf eine Stufe gestellt werden. Es wimmelt darin von abgeschmackten Schöpfungsgeschichten, Verwandlungen, Kämpfen zwischen Göttern und Dä¬ monen und sonstigem mythologischen Zubehör, und die heiligen Gebote und Sprüche werden als Zauberformeln zur Erlangung von Gütern und Abwen¬ dung von Übeln empfohlen. Das Zu- und Abnehmen des Mondes z. B. rührt nach dieser „Philosophie" von der Aufnahme und Wiederabgabe der Kinderseelen her; der Mond verspeist solche, wenn die Kinder sterben, und giebt sie wieder von sich, wenn Kinder geboren werden. Will einer den Tod seiner Kinder abwenden, so muß er unter gewissen Zeremonien die Strophe sprechen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/559>, abgerufen am 28.07.2024.