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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Was ist uns Anatolien?

Aber auf Anatolien kann man dabei jetzt nicht rechnen. Heute nach dem
glücklichen Kriege der Türken weniger als je. Man rechne nicht mit der deutsch¬
freundlichen Gesinnung des Sultans und der gesamten türkischen Bevölkerung.
Sie würde sehr bald verschwinden, wenn wir für unsre uneigennützigen Dienste
eine entsprechende Rechnung vorlegen wollten. Mau glaube auch nicht, daß
der Sultan etwa im wirtschaftlichen Interesse des Landes eine Einwandrung
von Deutschen gern sehen würde. Seine Herrschaft ist eine Säbelherrschaft.
Ihr liegt nicht daran, die natürlichen Kräfte des Landes zu entwickeln, sondern
nur daran, daß die Völker ihr Joch weiter tragen. Es sind in den letzten
Jahrzehnten eine halbe Million Tscherkessen in Anatolien eingewandert, in
Religion, Sitte und Kulturstufe den Türken verwandt. Schon diese Ein¬
wandrung, die bisher begünstigt wurde, kommt dem Sultan politisch bedenklich
vor. Sie soll eingeschränkt werden! Noch viel weniger würde er zulassen,
daß eine starke und selbständige deutsche Kolonie hier entstünde. Man thut
gut, bei der Berechnung der hiesigen politischen Verhältnisse nicht solche Kruste
anzusetzen, wie Deutschfreuudlichkeit des Sultans oder gar "guter Wille zur
moralischen und materiellen Hebung des Reichs," sondern vielmehr diese:
Ohnmacht und Angst des Sultans vor seiner Umgebung und Habgier dieser
Palastbeamten, die keine Neuerung zulassen. Vor einer europäischen Ein¬
wandrung haben sie alle zusammen mehr Angst, als vor den diplomatischen
Noten der uneinigen Großmächte, und mit Recht. Denn türkische Verwaltung
und europäische Ansiedlung sind absolut unverträglich. Die Gefahr der
deutschen Einwandrung ist es, womit unsre Feinde am goldnen Horn, die
Engländer, den Sultan zu schrecken suchen, wenn es gilt, dieses oder jenes
Geschäft der deutscheu Eisenbahnunternehmer zu hindern. Ich schlage vor,
diese akademischen Dissertationen über Kolonisation in Anatolien aufzugeben,
erstens weil sie zwecklos, und zweitens weil sie schädlich sind. Sie können
dem reellen Geschäft in Anatolien nur schaden. Denn wir haben allerdings
Interessen in Anatolien. Für unsre Arbeiter zu Hause brauchen wir Laud,
nämlich Absatzlünder, Märkte. Hier ist schon eine Kolonie gegründet worden,
acht eine politische, sondern eine kaufmännische, nicht eine Bauernkolonie,
sondern eine des Kapitals, das deutsche Eisenbahnunternehmer. Ich glaube,
daß das deutsche Publikum sich hierfür interessirt. Darum will ich einiges
berichten.

Um keine Illusionen über dieses deutsche Unternehmen aufkommen zu
lassen, gebe ich ein kurzes Nationale. Das Geld, womit es gegründet ist, ist
deutsch, soweit eben das Geld national zu sein vermag. Das Material ist
größtenteils deutschen Ursprungs. Ebenso ist die Spitze der Verwaltung deutsch.
Die Intelligenz, die den Bau gemacht hat, und die höhern Beamten des Betriebes
sind deutsch und französisch; die untern italienisch, griechisch und türkisch, und
die Arbeiter türkisch und armenisch mit Beimischung aus aller Herren Ländern.


Grenzboten III 1398 08
Was ist uns Anatolien?

Aber auf Anatolien kann man dabei jetzt nicht rechnen. Heute nach dem
glücklichen Kriege der Türken weniger als je. Man rechne nicht mit der deutsch¬
freundlichen Gesinnung des Sultans und der gesamten türkischen Bevölkerung.
Sie würde sehr bald verschwinden, wenn wir für unsre uneigennützigen Dienste
eine entsprechende Rechnung vorlegen wollten. Mau glaube auch nicht, daß
der Sultan etwa im wirtschaftlichen Interesse des Landes eine Einwandrung
von Deutschen gern sehen würde. Seine Herrschaft ist eine Säbelherrschaft.
Ihr liegt nicht daran, die natürlichen Kräfte des Landes zu entwickeln, sondern
nur daran, daß die Völker ihr Joch weiter tragen. Es sind in den letzten
Jahrzehnten eine halbe Million Tscherkessen in Anatolien eingewandert, in
Religion, Sitte und Kulturstufe den Türken verwandt. Schon diese Ein¬
wandrung, die bisher begünstigt wurde, kommt dem Sultan politisch bedenklich
vor. Sie soll eingeschränkt werden! Noch viel weniger würde er zulassen,
daß eine starke und selbständige deutsche Kolonie hier entstünde. Man thut
gut, bei der Berechnung der hiesigen politischen Verhältnisse nicht solche Kruste
anzusetzen, wie Deutschfreuudlichkeit des Sultans oder gar „guter Wille zur
moralischen und materiellen Hebung des Reichs," sondern vielmehr diese:
Ohnmacht und Angst des Sultans vor seiner Umgebung und Habgier dieser
Palastbeamten, die keine Neuerung zulassen. Vor einer europäischen Ein¬
wandrung haben sie alle zusammen mehr Angst, als vor den diplomatischen
Noten der uneinigen Großmächte, und mit Recht. Denn türkische Verwaltung
und europäische Ansiedlung sind absolut unverträglich. Die Gefahr der
deutschen Einwandrung ist es, womit unsre Feinde am goldnen Horn, die
Engländer, den Sultan zu schrecken suchen, wenn es gilt, dieses oder jenes
Geschäft der deutscheu Eisenbahnunternehmer zu hindern. Ich schlage vor,
diese akademischen Dissertationen über Kolonisation in Anatolien aufzugeben,
erstens weil sie zwecklos, und zweitens weil sie schädlich sind. Sie können
dem reellen Geschäft in Anatolien nur schaden. Denn wir haben allerdings
Interessen in Anatolien. Für unsre Arbeiter zu Hause brauchen wir Laud,
nämlich Absatzlünder, Märkte. Hier ist schon eine Kolonie gegründet worden,
acht eine politische, sondern eine kaufmännische, nicht eine Bauernkolonie,
sondern eine des Kapitals, das deutsche Eisenbahnunternehmer. Ich glaube,
daß das deutsche Publikum sich hierfür interessirt. Darum will ich einiges
berichten.

Um keine Illusionen über dieses deutsche Unternehmen aufkommen zu
lassen, gebe ich ein kurzes Nationale. Das Geld, womit es gegründet ist, ist
deutsch, soweit eben das Geld national zu sein vermag. Das Material ist
größtenteils deutschen Ursprungs. Ebenso ist die Spitze der Verwaltung deutsch.
Die Intelligenz, die den Bau gemacht hat, und die höhern Beamten des Betriebes
sind deutsch und französisch; die untern italienisch, griechisch und türkisch, und
die Arbeiter türkisch und armenisch mit Beimischung aus aller Herren Ländern.


Grenzboten III 1398 08
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[0545] Was ist uns Anatolien? Aber auf Anatolien kann man dabei jetzt nicht rechnen. Heute nach dem glücklichen Kriege der Türken weniger als je. Man rechne nicht mit der deutsch¬ freundlichen Gesinnung des Sultans und der gesamten türkischen Bevölkerung. Sie würde sehr bald verschwinden, wenn wir für unsre uneigennützigen Dienste eine entsprechende Rechnung vorlegen wollten. Mau glaube auch nicht, daß der Sultan etwa im wirtschaftlichen Interesse des Landes eine Einwandrung von Deutschen gern sehen würde. Seine Herrschaft ist eine Säbelherrschaft. Ihr liegt nicht daran, die natürlichen Kräfte des Landes zu entwickeln, sondern nur daran, daß die Völker ihr Joch weiter tragen. Es sind in den letzten Jahrzehnten eine halbe Million Tscherkessen in Anatolien eingewandert, in Religion, Sitte und Kulturstufe den Türken verwandt. Schon diese Ein¬ wandrung, die bisher begünstigt wurde, kommt dem Sultan politisch bedenklich vor. Sie soll eingeschränkt werden! Noch viel weniger würde er zulassen, daß eine starke und selbständige deutsche Kolonie hier entstünde. Man thut gut, bei der Berechnung der hiesigen politischen Verhältnisse nicht solche Kruste anzusetzen, wie Deutschfreuudlichkeit des Sultans oder gar „guter Wille zur moralischen und materiellen Hebung des Reichs," sondern vielmehr diese: Ohnmacht und Angst des Sultans vor seiner Umgebung und Habgier dieser Palastbeamten, die keine Neuerung zulassen. Vor einer europäischen Ein¬ wandrung haben sie alle zusammen mehr Angst, als vor den diplomatischen Noten der uneinigen Großmächte, und mit Recht. Denn türkische Verwaltung und europäische Ansiedlung sind absolut unverträglich. Die Gefahr der deutschen Einwandrung ist es, womit unsre Feinde am goldnen Horn, die Engländer, den Sultan zu schrecken suchen, wenn es gilt, dieses oder jenes Geschäft der deutscheu Eisenbahnunternehmer zu hindern. Ich schlage vor, diese akademischen Dissertationen über Kolonisation in Anatolien aufzugeben, erstens weil sie zwecklos, und zweitens weil sie schädlich sind. Sie können dem reellen Geschäft in Anatolien nur schaden. Denn wir haben allerdings Interessen in Anatolien. Für unsre Arbeiter zu Hause brauchen wir Laud, nämlich Absatzlünder, Märkte. Hier ist schon eine Kolonie gegründet worden, acht eine politische, sondern eine kaufmännische, nicht eine Bauernkolonie, sondern eine des Kapitals, das deutsche Eisenbahnunternehmer. Ich glaube, daß das deutsche Publikum sich hierfür interessirt. Darum will ich einiges berichten. Um keine Illusionen über dieses deutsche Unternehmen aufkommen zu lassen, gebe ich ein kurzes Nationale. Das Geld, womit es gegründet ist, ist deutsch, soweit eben das Geld national zu sein vermag. Das Material ist größtenteils deutschen Ursprungs. Ebenso ist die Spitze der Verwaltung deutsch. Die Intelligenz, die den Bau gemacht hat, und die höhern Beamten des Betriebes sind deutsch und französisch; die untern italienisch, griechisch und türkisch, und die Arbeiter türkisch und armenisch mit Beimischung aus aller Herren Ländern. Grenzboten III 1398 08

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/545>, abgerufen am 01.09.2024.