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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Mas ist uns Anatolien?

schon einmal grausame Wirklichkeit gewesen in der Zeit, wo der amerikanische
Bürgerkrieg die Baumwollenspinnereien Englands zum Stillstand brachte.
Wenn die Exportindustrie keine Bestellungen mehr bekommt, so müssen ihre
Arbeiter hungern, und wenn das Brot noch so billig ist, genau so wie die
Kinder des Schusters, wenn der Vater keine Aufträge mehr hat. In solchen
Zeiten wäre es von ungeheuerm Wert, wenn ein Kolonialland offen stünde,
wo sich der kleine Mann anbauen könnte, sozusagen das Gerüst einer Ackerbau¬
kolonie, ein leeres Bienenhaus, mit Stöcken und Waben ausgerüstet, um gleich
ein ganzes Volk aufzunehmen, der Stab eines Regiments, dessen Offiziere das
Land schon kennen, dessen Rekruten man nur einzustellen braucht, damit der
Organismus fertig werde. Wir müssen also kolonisiren, um vorzuarbeiten.
Aber diese Kolonisation muß einen der Gegenwart angemessenen Charakter
haben. Wer ist bei uns auswandrungslustig? Das ist erstens das Kapital,
dem es immer schwerer wird, die wachsenden Überschüsse des Jahres (ich glaube
fünfhundert Millionen Mark durchschnittlich) im Inlande anzulegen. Es geht
in fremde Länder und fällt mit Vorliebe den exotischen Staatsanleihen in die
Arme. Nach einigen großen Verlusten geht es jetzt lieber an produktive Unter¬
nehmungen, die es in eigner Regie behält. Es glaubt vielleicht, damit seinen
Anlagepapieren größern Sicherheitswert zu geben, was aber nur dann unbe¬
dingt richtig ist, wenn die politische Macht des Heimatlandes willig und kräftig
genug ist, diesen Betrieb zu schützen.

Zweitens sind bei uns auswandrungslustig die freien Arbeiter, die es
auch lieben, sich die "vogelfreien" zu nennen. Diese Leute sind weit davon
entfernt, nur eine verlassene Scholle zu suchen, wo sie dem Hungertod ent¬
gehen können, und wo sie sich zeitlebens quälen wollen, damit ihre Kinder es
einst besser haben; sondern sie suchen auf der ganzen Erde den besten Arbeits¬
markt: Nordamerika oder Australien oder Kapland. Sie gehen gern dem
Kapital nach, wo es sich an große Unternehmungen begiebt. Beides bedeutet
Verlust für uns, wenn das Kapital auswandert, und wenn der Arbeiter aus¬
wandert; es sei denn, sie gingen hinaus, um mit der Heimat weiterzuarbeiten-
Dann bedeutet es Gewinn für die Zukunft. Das ist aber etwas andres als
Banernlolonisatiou. Es ist die moderne Kolonisationsart, womit das englische
Weltreich bestündig seine Grenzen erweitert.

Es ist Sache des Kapitals, voranzugehen, fremde Länder zu eröffnen, in
ihnen Fuß zu fassen, aus ihnen wirtschaftliche Bundesgenossen zu machen, die
uns die Produkte unsrer Arbeit abnehmen, und die vielleicht einstmals auch
den Überschuß unsrer Arbeitskräfte aufnehmen und sich zu unsern Tochter¬
staaten ausbauen. Nur wenn die großen Kapitalmüchte unsers Landes ans
Werk gehen, wie bisher, oder noch ein wenig planvoller als bisher, werden
wir Erfolge in der Kolonialpolitik haben. Sonst werden wir sie nicht haben,
trotz aller Vereinsmeierei des leicht begeisterten Mittelstandes.


Mas ist uns Anatolien?

schon einmal grausame Wirklichkeit gewesen in der Zeit, wo der amerikanische
Bürgerkrieg die Baumwollenspinnereien Englands zum Stillstand brachte.
Wenn die Exportindustrie keine Bestellungen mehr bekommt, so müssen ihre
Arbeiter hungern, und wenn das Brot noch so billig ist, genau so wie die
Kinder des Schusters, wenn der Vater keine Aufträge mehr hat. In solchen
Zeiten wäre es von ungeheuerm Wert, wenn ein Kolonialland offen stünde,
wo sich der kleine Mann anbauen könnte, sozusagen das Gerüst einer Ackerbau¬
kolonie, ein leeres Bienenhaus, mit Stöcken und Waben ausgerüstet, um gleich
ein ganzes Volk aufzunehmen, der Stab eines Regiments, dessen Offiziere das
Land schon kennen, dessen Rekruten man nur einzustellen braucht, damit der
Organismus fertig werde. Wir müssen also kolonisiren, um vorzuarbeiten.
Aber diese Kolonisation muß einen der Gegenwart angemessenen Charakter
haben. Wer ist bei uns auswandrungslustig? Das ist erstens das Kapital,
dem es immer schwerer wird, die wachsenden Überschüsse des Jahres (ich glaube
fünfhundert Millionen Mark durchschnittlich) im Inlande anzulegen. Es geht
in fremde Länder und fällt mit Vorliebe den exotischen Staatsanleihen in die
Arme. Nach einigen großen Verlusten geht es jetzt lieber an produktive Unter¬
nehmungen, die es in eigner Regie behält. Es glaubt vielleicht, damit seinen
Anlagepapieren größern Sicherheitswert zu geben, was aber nur dann unbe¬
dingt richtig ist, wenn die politische Macht des Heimatlandes willig und kräftig
genug ist, diesen Betrieb zu schützen.

Zweitens sind bei uns auswandrungslustig die freien Arbeiter, die es
auch lieben, sich die „vogelfreien" zu nennen. Diese Leute sind weit davon
entfernt, nur eine verlassene Scholle zu suchen, wo sie dem Hungertod ent¬
gehen können, und wo sie sich zeitlebens quälen wollen, damit ihre Kinder es
einst besser haben; sondern sie suchen auf der ganzen Erde den besten Arbeits¬
markt: Nordamerika oder Australien oder Kapland. Sie gehen gern dem
Kapital nach, wo es sich an große Unternehmungen begiebt. Beides bedeutet
Verlust für uns, wenn das Kapital auswandert, und wenn der Arbeiter aus¬
wandert; es sei denn, sie gingen hinaus, um mit der Heimat weiterzuarbeiten-
Dann bedeutet es Gewinn für die Zukunft. Das ist aber etwas andres als
Banernlolonisatiou. Es ist die moderne Kolonisationsart, womit das englische
Weltreich bestündig seine Grenzen erweitert.

Es ist Sache des Kapitals, voranzugehen, fremde Länder zu eröffnen, in
ihnen Fuß zu fassen, aus ihnen wirtschaftliche Bundesgenossen zu machen, die
uns die Produkte unsrer Arbeit abnehmen, und die vielleicht einstmals auch
den Überschuß unsrer Arbeitskräfte aufnehmen und sich zu unsern Tochter¬
staaten ausbauen. Nur wenn die großen Kapitalmüchte unsers Landes ans
Werk gehen, wie bisher, oder noch ein wenig planvoller als bisher, werden
wir Erfolge in der Kolonialpolitik haben. Sonst werden wir sie nicht haben,
trotz aller Vereinsmeierei des leicht begeisterten Mittelstandes.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/544>, abgerufen am 28.07.2024.