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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Was ist uns Anatolien?

und weil er weiß, daß er für billiges Geld jederzeit zurückkommen kaun.
Wollte man tausend deutsche Tagelöhner oder Häusler dieser Art nach Ana¬
tolien bringen, so würde man sie, wie ich glaube, in kürzester Zeit zurück¬
kommen sehen. Sie würden sagen: Wir sehen nicht ein, warum wir uns in
diesem dürftigen Lande unter vielen Mühen und Entbehrungen ein Einkommen
erst schaffen sollen, während wir es zu Hause viel bequemer haben können.
Wollte man aber auch nur den leisesten Zwang anwenden, um die Leute in
den Einöden Anatoliens oder Jnnerafrikas oder sonstwo an der Scholle zu
halten, etwa indem man eine Art Nentenverschuldung einführte, so würde man
eine neue Art von Hörigkeit, von Sklaverei schaffen und würde keinen Dank
ernten, sondern den Fluch der Gefesselten. Die Hin- und Rückwanderung muß
absolut frei sein; darüber ist mau sich ja einig. Will man die Auswandrer
in ein bestimmtes Land lenken, so mache man es so schön, fruchtbar und
wohnlich, daß der Strom von selbst dahin geht, wie in ein bequemes Bett,
wenn man das vermag. Will man zureden, so muß man den Auswandrern
versprechen können, daß sie es dort besser haben werden, als zu Hause oder
in Nordamerika und Kapland. Wer will eine für dieses Land so schwere
Verantwortung übernehmen? Man redet bei uns viel von Übervölkerung und
Menschenüberfluß. Deutschland mag in den gelehrten Kreisen übervölkert sein,
in den handarbeitenden aber nicht. So lange wir wachsende Hilfstruppen im
Süden aus Italien und im Norden aus Rußland nötig haben, um alle Arbeit
zu bewältigen, so lange die Bewegung zunimmt, die im Herzen von Nord¬
deutschland auf dem Lande Inseln fremder Sprache und fremden Volkstums
immer zahlreicher entstehen läßt, die in Österreich schon Städte und Länder,
die einst deutsch waren, für immer verschlungen hat, so lange sehe ich nur
Menschenmangel. Die Arbeitsgelegenheit hat in den letzten Jahrzehnten und
nochmals in den letzten Jahren bei uns so bedeutend zugenommen, daß wir
Mangel an Arbeitskräften haben. Die rapid wachsenden Städte und die
großen Jnduftrieherde haben einen Menschenbedarf, den das Land nicht ohne
eigne Verluste decken kann.

Man wird an die periodische und chronische Arbeitslosigkeit erinnern.
Aber auch die beweist keine Übervölkerung. Jeder Arbeitgeber wird sich schon
gewundert haben über den "Leichtsinn," mit dem unsre Dienstboten und Tage¬
löhner, auch verheiratete, oft ohne allen Grund ihre Stellung aufgeben. "Ich
will mich verändern," sagen sie und thun ganz recht daran. Sie wissen: wer
sucht, findet immer Arbeit. Wenn nun in einem Arbeiterheere von einer Million
jeder jährlich einmal seinen Platz wechselt, und wenn er nur acht Tage braucht,
um einen neuen zu finden, so wird man jederzeit zwanzigtausend Arbeitslose
zählen und nach acht Tagen wiederum zählen können; denn so viele sind
immer unterwegs. Nur darf man nicht übersehen, daß es immer wieder andre
sind. Man hat sich schon in mancher Stadt unnötigerweise gewundert, daß


Was ist uns Anatolien?

und weil er weiß, daß er für billiges Geld jederzeit zurückkommen kaun.
Wollte man tausend deutsche Tagelöhner oder Häusler dieser Art nach Ana¬
tolien bringen, so würde man sie, wie ich glaube, in kürzester Zeit zurück¬
kommen sehen. Sie würden sagen: Wir sehen nicht ein, warum wir uns in
diesem dürftigen Lande unter vielen Mühen und Entbehrungen ein Einkommen
erst schaffen sollen, während wir es zu Hause viel bequemer haben können.
Wollte man aber auch nur den leisesten Zwang anwenden, um die Leute in
den Einöden Anatoliens oder Jnnerafrikas oder sonstwo an der Scholle zu
halten, etwa indem man eine Art Nentenverschuldung einführte, so würde man
eine neue Art von Hörigkeit, von Sklaverei schaffen und würde keinen Dank
ernten, sondern den Fluch der Gefesselten. Die Hin- und Rückwanderung muß
absolut frei sein; darüber ist mau sich ja einig. Will man die Auswandrer
in ein bestimmtes Land lenken, so mache man es so schön, fruchtbar und
wohnlich, daß der Strom von selbst dahin geht, wie in ein bequemes Bett,
wenn man das vermag. Will man zureden, so muß man den Auswandrern
versprechen können, daß sie es dort besser haben werden, als zu Hause oder
in Nordamerika und Kapland. Wer will eine für dieses Land so schwere
Verantwortung übernehmen? Man redet bei uns viel von Übervölkerung und
Menschenüberfluß. Deutschland mag in den gelehrten Kreisen übervölkert sein,
in den handarbeitenden aber nicht. So lange wir wachsende Hilfstruppen im
Süden aus Italien und im Norden aus Rußland nötig haben, um alle Arbeit
zu bewältigen, so lange die Bewegung zunimmt, die im Herzen von Nord¬
deutschland auf dem Lande Inseln fremder Sprache und fremden Volkstums
immer zahlreicher entstehen läßt, die in Österreich schon Städte und Länder,
die einst deutsch waren, für immer verschlungen hat, so lange sehe ich nur
Menschenmangel. Die Arbeitsgelegenheit hat in den letzten Jahrzehnten und
nochmals in den letzten Jahren bei uns so bedeutend zugenommen, daß wir
Mangel an Arbeitskräften haben. Die rapid wachsenden Städte und die
großen Jnduftrieherde haben einen Menschenbedarf, den das Land nicht ohne
eigne Verluste decken kann.

Man wird an die periodische und chronische Arbeitslosigkeit erinnern.
Aber auch die beweist keine Übervölkerung. Jeder Arbeitgeber wird sich schon
gewundert haben über den „Leichtsinn," mit dem unsre Dienstboten und Tage¬
löhner, auch verheiratete, oft ohne allen Grund ihre Stellung aufgeben. „Ich
will mich verändern," sagen sie und thun ganz recht daran. Sie wissen: wer
sucht, findet immer Arbeit. Wenn nun in einem Arbeiterheere von einer Million
jeder jährlich einmal seinen Platz wechselt, und wenn er nur acht Tage braucht,
um einen neuen zu finden, so wird man jederzeit zwanzigtausend Arbeitslose
zählen und nach acht Tagen wiederum zählen können; denn so viele sind
immer unterwegs. Nur darf man nicht übersehen, daß es immer wieder andre
sind. Man hat sich schon in mancher Stadt unnötigerweise gewundert, daß


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[0542] Was ist uns Anatolien? und weil er weiß, daß er für billiges Geld jederzeit zurückkommen kaun. Wollte man tausend deutsche Tagelöhner oder Häusler dieser Art nach Ana¬ tolien bringen, so würde man sie, wie ich glaube, in kürzester Zeit zurück¬ kommen sehen. Sie würden sagen: Wir sehen nicht ein, warum wir uns in diesem dürftigen Lande unter vielen Mühen und Entbehrungen ein Einkommen erst schaffen sollen, während wir es zu Hause viel bequemer haben können. Wollte man aber auch nur den leisesten Zwang anwenden, um die Leute in den Einöden Anatoliens oder Jnnerafrikas oder sonstwo an der Scholle zu halten, etwa indem man eine Art Nentenverschuldung einführte, so würde man eine neue Art von Hörigkeit, von Sklaverei schaffen und würde keinen Dank ernten, sondern den Fluch der Gefesselten. Die Hin- und Rückwanderung muß absolut frei sein; darüber ist mau sich ja einig. Will man die Auswandrer in ein bestimmtes Land lenken, so mache man es so schön, fruchtbar und wohnlich, daß der Strom von selbst dahin geht, wie in ein bequemes Bett, wenn man das vermag. Will man zureden, so muß man den Auswandrern versprechen können, daß sie es dort besser haben werden, als zu Hause oder in Nordamerika und Kapland. Wer will eine für dieses Land so schwere Verantwortung übernehmen? Man redet bei uns viel von Übervölkerung und Menschenüberfluß. Deutschland mag in den gelehrten Kreisen übervölkert sein, in den handarbeitenden aber nicht. So lange wir wachsende Hilfstruppen im Süden aus Italien und im Norden aus Rußland nötig haben, um alle Arbeit zu bewältigen, so lange die Bewegung zunimmt, die im Herzen von Nord¬ deutschland auf dem Lande Inseln fremder Sprache und fremden Volkstums immer zahlreicher entstehen läßt, die in Österreich schon Städte und Länder, die einst deutsch waren, für immer verschlungen hat, so lange sehe ich nur Menschenmangel. Die Arbeitsgelegenheit hat in den letzten Jahrzehnten und nochmals in den letzten Jahren bei uns so bedeutend zugenommen, daß wir Mangel an Arbeitskräften haben. Die rapid wachsenden Städte und die großen Jnduftrieherde haben einen Menschenbedarf, den das Land nicht ohne eigne Verluste decken kann. Man wird an die periodische und chronische Arbeitslosigkeit erinnern. Aber auch die beweist keine Übervölkerung. Jeder Arbeitgeber wird sich schon gewundert haben über den „Leichtsinn," mit dem unsre Dienstboten und Tage¬ löhner, auch verheiratete, oft ohne allen Grund ihre Stellung aufgeben. „Ich will mich verändern," sagen sie und thun ganz recht daran. Sie wissen: wer sucht, findet immer Arbeit. Wenn nun in einem Arbeiterheere von einer Million jeder jährlich einmal seinen Platz wechselt, und wenn er nur acht Tage braucht, um einen neuen zu finden, so wird man jederzeit zwanzigtausend Arbeitslose zählen und nach acht Tagen wiederum zählen können; denn so viele sind immer unterwegs. Nur darf man nicht übersehen, daß es immer wieder andre sind. Man hat sich schon in mancher Stadt unnötigerweise gewundert, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/542>, abgerufen am 28.07.2024.