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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Was ist uns Anatolien?

nämlich die Elsässer von 1870. Diese nehmen ab; sie werden dezimirt durch
die Malaria und den Alkohol, der in diesem Lande gefährlicher ist als in
Europa!

Wie dem aber auch sein mag, so sind doch deutsche Bauernkolonien in
Anatolien noch unmöglich aus zwei schwerwiegenden Gründen. Der eine liegt
in den politischen Verhältnissen des Landes. Die Handelsflagge kann wohl der
Kriegsflagge vorausgehen, wie Bismarck verlangt hat. Handelskolonien ver¬
stehen es, sich ungewohnten und unvollkommnen Rechtsverhältnissen zu fügen.
Aber Bauernkolonisten wollen ihr einheimisches Recht mitbringen, oder zum
mindesten europäisches Recht vorfinden. Jeder Bauernkolonisation muß die
Fahne vorausgehen, ganz so wie die russische Fahne den Ansiedlern in Zentral-
asien vorangeht und russische Obrigkeit und russisches Recht dahin mitbringt,
wo sie aufgepflanzt wird. So lange es türkische Obrigkeit und türkische Recht¬
sprechung in Anatolien giebt, kann man an deutsche Bauernkolonien nicht
denken. In hundert kleinen Schwierigkeiten und Nörgeleien würden sie bald
elend erstickt werden. Sie wären eine Beute jedes bakschischhuugrigen Beamten.
Sie würden eine sehr hohe und unbequeme Grundsteuer, den Zehnten und die
Beschränkungen in dem freien Gebrauch des Eigentums hier wiederfinden, die
man bei uns vor einigen Menschenaltern mit vielen Mühen und Opfern ab¬
geschafft hat, und seit deren Abschaffung erst die Blüte unsrer Bauerwirt-
schastcn beginnt.

Sie sind aber noch aus einem andern Grunde unmöglich. Es würde,
wie ich glaube, zur Zeit an dem nötigsten, an den Kolonisten fehlen. Wir haben
jetzt in unsrer Auswanderung eine Zeit der Ebbe. Die ist sür kolonisatorische
Versuche schlecht gewählt. Seit dem Jahre 1894 ist die Zahl der Auswandrer
auf eine lange nicht dagewesene Tiefe gefallen, und sie sinkt noch weiter. Ver¬
mutlich wird sie bald das Minimum erreicht haben, worunter sie überhaupt
nicht sinken kann. Weil Millionen von Deutschen in allen Teilen der Erde
wohnen und von da aus durch verwandtschaftliche und freundschaftliche Be¬
ziehungen eine immerwährende Anziehungskraft auf die Leute in der Heimat
ausüben, so werden wir immer eine recht zerstreute Auswanderung behalten,
die äußerst schwierig zu beeinflussen und abzulenken ist. Religionskriege, un¬
gerechte Fürsten, Mißernten und Revolutionen, also die Not, das waren von
jeher die besten Mittel zur Kolonisation. Unsre Leute aber treibt weniger die
Not aus dem Lande, als vielmehr der Wunsch, auch drüben einmal ihr Glück zu
versuchen. Man muß es nur aus dem Munde der Leute selbst gehört haben,
wie schnell sie bereit sind, über das Weltmeer zu setzen. Da schreibt irgend
ein Freund oder Verwandter von drüben: Du hast tausend Mark geerbt.
Komm herüber, ich weiß ein gutes Geschüft, "eine schöne Nahrungsstelle" für
dich, wo du viel Geld verdienen kannst. Der Mann geht -- nicht weil er
hier kein Brot verdienen könnte, sondern weil er dort mehr zu gewinnen hofft,


Was ist uns Anatolien?

nämlich die Elsässer von 1870. Diese nehmen ab; sie werden dezimirt durch
die Malaria und den Alkohol, der in diesem Lande gefährlicher ist als in
Europa!

Wie dem aber auch sein mag, so sind doch deutsche Bauernkolonien in
Anatolien noch unmöglich aus zwei schwerwiegenden Gründen. Der eine liegt
in den politischen Verhältnissen des Landes. Die Handelsflagge kann wohl der
Kriegsflagge vorausgehen, wie Bismarck verlangt hat. Handelskolonien ver¬
stehen es, sich ungewohnten und unvollkommnen Rechtsverhältnissen zu fügen.
Aber Bauernkolonisten wollen ihr einheimisches Recht mitbringen, oder zum
mindesten europäisches Recht vorfinden. Jeder Bauernkolonisation muß die
Fahne vorausgehen, ganz so wie die russische Fahne den Ansiedlern in Zentral-
asien vorangeht und russische Obrigkeit und russisches Recht dahin mitbringt,
wo sie aufgepflanzt wird. So lange es türkische Obrigkeit und türkische Recht¬
sprechung in Anatolien giebt, kann man an deutsche Bauernkolonien nicht
denken. In hundert kleinen Schwierigkeiten und Nörgeleien würden sie bald
elend erstickt werden. Sie wären eine Beute jedes bakschischhuugrigen Beamten.
Sie würden eine sehr hohe und unbequeme Grundsteuer, den Zehnten und die
Beschränkungen in dem freien Gebrauch des Eigentums hier wiederfinden, die
man bei uns vor einigen Menschenaltern mit vielen Mühen und Opfern ab¬
geschafft hat, und seit deren Abschaffung erst die Blüte unsrer Bauerwirt-
schastcn beginnt.

Sie sind aber noch aus einem andern Grunde unmöglich. Es würde,
wie ich glaube, zur Zeit an dem nötigsten, an den Kolonisten fehlen. Wir haben
jetzt in unsrer Auswanderung eine Zeit der Ebbe. Die ist sür kolonisatorische
Versuche schlecht gewählt. Seit dem Jahre 1894 ist die Zahl der Auswandrer
auf eine lange nicht dagewesene Tiefe gefallen, und sie sinkt noch weiter. Ver¬
mutlich wird sie bald das Minimum erreicht haben, worunter sie überhaupt
nicht sinken kann. Weil Millionen von Deutschen in allen Teilen der Erde
wohnen und von da aus durch verwandtschaftliche und freundschaftliche Be¬
ziehungen eine immerwährende Anziehungskraft auf die Leute in der Heimat
ausüben, so werden wir immer eine recht zerstreute Auswanderung behalten,
die äußerst schwierig zu beeinflussen und abzulenken ist. Religionskriege, un¬
gerechte Fürsten, Mißernten und Revolutionen, also die Not, das waren von
jeher die besten Mittel zur Kolonisation. Unsre Leute aber treibt weniger die
Not aus dem Lande, als vielmehr der Wunsch, auch drüben einmal ihr Glück zu
versuchen. Man muß es nur aus dem Munde der Leute selbst gehört haben,
wie schnell sie bereit sind, über das Weltmeer zu setzen. Da schreibt irgend
ein Freund oder Verwandter von drüben: Du hast tausend Mark geerbt.
Komm herüber, ich weiß ein gutes Geschüft, „eine schöne Nahrungsstelle" für
dich, wo du viel Geld verdienen kannst. Der Mann geht — nicht weil er
hier kein Brot verdienen könnte, sondern weil er dort mehr zu gewinnen hofft,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/541>, abgerufen am 28.07.2024.