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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

folgt. Doch ist bemerkenswert, daß sich schon in jenen ersten überschwenglichen
Briefen an Cavalieri der Satz findet: "Ihr wäret mir keineswegs eine neue
Bekanntschaft; vielmehr seid Ihr schon tausendmal in der Welt gewesen," womit
der Dichter doch wohl sagen will, daß er in dem Freunde, so leidenschaftlich er
ihn liebt, doch nichts andres liebt als die ewige Schönheit, das Ideal, das sich
immer neu in tausend Gestalten verkörpert. Wenn im Phädros die Wirkung
der Liebe so beschrieben wird: "Die, die wahrer Liebe fähig sind, geraten in
gewaltige Aufregung, sobald sie ein Abbild der jenseitigen Schönheit erblicken,
sie siud ihrer selbst nicht mächtig, und vom Anblick getroffen, verehren sie
dieses Abbild gleich einem Gott," so ist dies genau der Zustand, den der
Dichter empfindet. Er ist ergriffen von dem Eindruck der Persönlichkeit, aber
die Ursache ist die in der Persönlichkeit erscheinende Idee des Schönen- In
dem schönen Einzelwesen sieht er die Urgestalt des Schönen, und die Schwingen
dieser Liebe tragen ihn aufwärts zu seligen Geistern. Diese Gedanken hat der
Dichter immer wieder in neuen Wendungen wiederholt. Er schwelgt in dem
Enthusiasmus dieses Schönhcitsknltns. Er wünscht, sein ganzer Leib möchte
ein Auge werden, damit kein Teil an ihm sei, der vom Genuß ausgeschlossen ist.
Wenn er sich jeder edeln Persönlichkeit verehrungsvoll zuwendet (OXI^I), so ist
es wegen der göttlichen Gedanken, die sich darin offenbaren: er liebt den
Schöpfer in seinen Werken. Gott, heißt es ein andresmal MX, 105), ver¬
körpert sich nicht schöner als in einer schönen sterblichen Hülle; doch nicht diese
liebe ich, sondern die unsterbliche Gestalt, die in dir, einem Engel gleich, vom
Himmel in dieses irdische Gefängnis kam, denn nicht an Sterbliches hängt sich
die wahre Liebe. Nichts Sterbliches haben meine Augen gesehen (I,XXIX), als
ich feigen Frieden in den deinen fand. Wäre die Seele nicht gottühnlich ge¬
schaffen, so würde sie nur das körperlich Schöne, das den Augen gefällt, er¬
streben; aber weil das so trügerisch ist, erhebt sie sich zur Urform (tormii
uuivsrsglö).

Übersetzt von W, Robert-tornow

Leidenschaftliche Glut für hohe Schönheit MXXXI) kann nicht immer
tödliche Sünde sein; denn durch die Liebe erweicht, öffnet sich die Seele leichter
dem göttlichen Strahle. Amor weckt die Seele und giebt ihr Flügel, damit
sie nicht in niedrigem Begehren hängen bleibt, das nur die erste Stufe ist,
von der uicht befriedigt die Seele zu ihrem Schöpfer aufsteigt. In einer Reihe
von Sonetten wird die sinnlich-niedre und die unsinnliche, nach oben ziehende


Die Gedichte Michelangelos

folgt. Doch ist bemerkenswert, daß sich schon in jenen ersten überschwenglichen
Briefen an Cavalieri der Satz findet: „Ihr wäret mir keineswegs eine neue
Bekanntschaft; vielmehr seid Ihr schon tausendmal in der Welt gewesen," womit
der Dichter doch wohl sagen will, daß er in dem Freunde, so leidenschaftlich er
ihn liebt, doch nichts andres liebt als die ewige Schönheit, das Ideal, das sich
immer neu in tausend Gestalten verkörpert. Wenn im Phädros die Wirkung
der Liebe so beschrieben wird: „Die, die wahrer Liebe fähig sind, geraten in
gewaltige Aufregung, sobald sie ein Abbild der jenseitigen Schönheit erblicken,
sie siud ihrer selbst nicht mächtig, und vom Anblick getroffen, verehren sie
dieses Abbild gleich einem Gott," so ist dies genau der Zustand, den der
Dichter empfindet. Er ist ergriffen von dem Eindruck der Persönlichkeit, aber
die Ursache ist die in der Persönlichkeit erscheinende Idee des Schönen- In
dem schönen Einzelwesen sieht er die Urgestalt des Schönen, und die Schwingen
dieser Liebe tragen ihn aufwärts zu seligen Geistern. Diese Gedanken hat der
Dichter immer wieder in neuen Wendungen wiederholt. Er schwelgt in dem
Enthusiasmus dieses Schönhcitsknltns. Er wünscht, sein ganzer Leib möchte
ein Auge werden, damit kein Teil an ihm sei, der vom Genuß ausgeschlossen ist.
Wenn er sich jeder edeln Persönlichkeit verehrungsvoll zuwendet (OXI^I), so ist
es wegen der göttlichen Gedanken, die sich darin offenbaren: er liebt den
Schöpfer in seinen Werken. Gott, heißt es ein andresmal MX, 105), ver¬
körpert sich nicht schöner als in einer schönen sterblichen Hülle; doch nicht diese
liebe ich, sondern die unsterbliche Gestalt, die in dir, einem Engel gleich, vom
Himmel in dieses irdische Gefängnis kam, denn nicht an Sterbliches hängt sich
die wahre Liebe. Nichts Sterbliches haben meine Augen gesehen (I,XXIX), als
ich feigen Frieden in den deinen fand. Wäre die Seele nicht gottühnlich ge¬
schaffen, so würde sie nur das körperlich Schöne, das den Augen gefällt, er¬
streben; aber weil das so trügerisch ist, erhebt sie sich zur Urform (tormii
uuivsrsglö).

Übersetzt von W, Robert-tornow

Leidenschaftliche Glut für hohe Schönheit MXXXI) kann nicht immer
tödliche Sünde sein; denn durch die Liebe erweicht, öffnet sich die Seele leichter
dem göttlichen Strahle. Amor weckt die Seele und giebt ihr Flügel, damit
sie nicht in niedrigem Begehren hängen bleibt, das nur die erste Stufe ist,
von der uicht befriedigt die Seele zu ihrem Schöpfer aufsteigt. In einer Reihe
von Sonetten wird die sinnlich-niedre und die unsinnliche, nach oben ziehende


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[0518] Die Gedichte Michelangelos folgt. Doch ist bemerkenswert, daß sich schon in jenen ersten überschwenglichen Briefen an Cavalieri der Satz findet: „Ihr wäret mir keineswegs eine neue Bekanntschaft; vielmehr seid Ihr schon tausendmal in der Welt gewesen," womit der Dichter doch wohl sagen will, daß er in dem Freunde, so leidenschaftlich er ihn liebt, doch nichts andres liebt als die ewige Schönheit, das Ideal, das sich immer neu in tausend Gestalten verkörpert. Wenn im Phädros die Wirkung der Liebe so beschrieben wird: „Die, die wahrer Liebe fähig sind, geraten in gewaltige Aufregung, sobald sie ein Abbild der jenseitigen Schönheit erblicken, sie siud ihrer selbst nicht mächtig, und vom Anblick getroffen, verehren sie dieses Abbild gleich einem Gott," so ist dies genau der Zustand, den der Dichter empfindet. Er ist ergriffen von dem Eindruck der Persönlichkeit, aber die Ursache ist die in der Persönlichkeit erscheinende Idee des Schönen- In dem schönen Einzelwesen sieht er die Urgestalt des Schönen, und die Schwingen dieser Liebe tragen ihn aufwärts zu seligen Geistern. Diese Gedanken hat der Dichter immer wieder in neuen Wendungen wiederholt. Er schwelgt in dem Enthusiasmus dieses Schönhcitsknltns. Er wünscht, sein ganzer Leib möchte ein Auge werden, damit kein Teil an ihm sei, der vom Genuß ausgeschlossen ist. Wenn er sich jeder edeln Persönlichkeit verehrungsvoll zuwendet (OXI^I), so ist es wegen der göttlichen Gedanken, die sich darin offenbaren: er liebt den Schöpfer in seinen Werken. Gott, heißt es ein andresmal MX, 105), ver¬ körpert sich nicht schöner als in einer schönen sterblichen Hülle; doch nicht diese liebe ich, sondern die unsterbliche Gestalt, die in dir, einem Engel gleich, vom Himmel in dieses irdische Gefängnis kam, denn nicht an Sterbliches hängt sich die wahre Liebe. Nichts Sterbliches haben meine Augen gesehen (I,XXIX), als ich feigen Frieden in den deinen fand. Wäre die Seele nicht gottühnlich ge¬ schaffen, so würde sie nur das körperlich Schöne, das den Augen gefällt, er¬ streben; aber weil das so trügerisch ist, erhebt sie sich zur Urform (tormii uuivsrsglö). Übersetzt von W, Robert-tornow Leidenschaftliche Glut für hohe Schönheit MXXXI) kann nicht immer tödliche Sünde sein; denn durch die Liebe erweicht, öffnet sich die Seele leichter dem göttlichen Strahle. Amor weckt die Seele und giebt ihr Flügel, damit sie nicht in niedrigem Begehren hängen bleibt, das nur die erste Stufe ist, von der uicht befriedigt die Seele zu ihrem Schöpfer aufsteigt. In einer Reihe von Sonetten wird die sinnlich-niedre und die unsinnliche, nach oben ziehende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/518>, abgerufen am 01.09.2024.