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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der technische Lhiliasmus in der neuern Dichtung

Röhrenleitungen und die Speiseballen, mit denen der wohlredende Dr, Leere
seinen Gast aus dem neunzehnten Jahrhundert vertraut macht. Wir fürchten,
daß die meisten sie besser im Gedächtnis behalten haben, als die ethischen und
nationalökonomischen Auseinandersetzungen über den Unterschied des neun¬
zehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Auf alle Fülle wird, da sich nach
Dr. Leetes Versicherung die menschliche Natur nicht geändert hat, sondern nur
die Bedingungen des menschlichen Lebens, auch in Bellamys Zukunftsbild eine
ungeheure Wirkung des technischen Fortschritts auf Thun und Lassen der
Menschen vorausgesetzt.

Doch was will die technische Entwicklung in Bellamys sozialem Traum
gegenüber den Voraussetzungen bedeuten, die Kurt Laßwitz der Erfindung
seines Romans "Auf zwei Planeten" zu Grunde legt? Der Roman hebt
gleich damit an, daß kühne Luftschiffer, die den Nordpol der Erde erreichen
und erblicken, sich zu ihrer tiefsten Bestürzung überzeugen müssen, daß andre
vor ihnen den Pol nicht nur erreicht, sondern eine feste, seltsame Station auf
ihm begründet haben. Es weist sich aus, daß die europäischen Polsorscher
den unbekannten Apparaten einer künstlichen Insel gegenüber in der Lage
eines Eskimos vor der Dynamomaschine eines Elektrizitätswerkes sind, sie sind
vollends verloren, als ihr Ballon unentrinnbar einem abarischcn Felde, einem
Gebiet ohne Schwere, zugetrieben wird, das die Marsbewohner sich am Nord-
Pol besorgt haben. Denn die Ruine, die Bewohner des Mars, sind ver¬
teufelt viel bessere Techniker, als die Sterblichen der Erde, und -- weil sie
bessere Techniker sind -- in dem gleichen Maße auch edlere und höherstehende
Geschöpfe. Sie haben es fertig gebracht, den Weltraum zwischen dem Pla¬
neten Mars (Nu) und der Erde in wunderbar konstruirten Fahrzeugen zu
durchschiffen, sie haben die beiden Pole der Erde erreicht und Stationen dort
angelegt, doch ist es ihnen bisher nicht gelungen, von den Eskimos zu den
Kulturländern der Erde vorzudringen. Die vernnglückenden Polforscher Saltner
und Grunthe. die von den Bewohnern der märkischen Station gerettet werden,
sind die ersten zivilisirten Menschen, die den Herren und Damen vom Mars
vorkommen. Man betrachtet sich, wie billig, mit gegenseitigem Erstaunen, und
zwischen dem braven süddeutschen Saltner und der schönen La vom Planeten
Nu macht sich alsbald die geheime Anziehungskraft geltend, die in der Menschen
Geschlechte den Mann zum Weibe zieht. Der dritte der Polforscher, Toren,
ist seinen Gefährten beim Herabsturz des Luftballons abhanden gekommen, und
diese machen sich in der guten Pflege der Martier mit Recht schwere Sorgen
um ihn. Beinahe noch rätselhafter als sein Verschwinden erscheint den Deutschen
die Thatsache, daß der Hauptausrüster ihrer Expedition, Friedrich Ell, ihnen
ein kleines handschriftliches Buch, einen deutsch-märkischen Sprachführer mit¬
gegeben hat! Während sie dem Geheimnis nachsinnen, wie ein irdischer Mensch
die Sprache der Ruine verstehen könne, machen sie beide, Grunthe wie Saltner,


Der technische Lhiliasmus in der neuern Dichtung

Röhrenleitungen und die Speiseballen, mit denen der wohlredende Dr, Leere
seinen Gast aus dem neunzehnten Jahrhundert vertraut macht. Wir fürchten,
daß die meisten sie besser im Gedächtnis behalten haben, als die ethischen und
nationalökonomischen Auseinandersetzungen über den Unterschied des neun¬
zehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Auf alle Fülle wird, da sich nach
Dr. Leetes Versicherung die menschliche Natur nicht geändert hat, sondern nur
die Bedingungen des menschlichen Lebens, auch in Bellamys Zukunftsbild eine
ungeheure Wirkung des technischen Fortschritts auf Thun und Lassen der
Menschen vorausgesetzt.

Doch was will die technische Entwicklung in Bellamys sozialem Traum
gegenüber den Voraussetzungen bedeuten, die Kurt Laßwitz der Erfindung
seines Romans „Auf zwei Planeten" zu Grunde legt? Der Roman hebt
gleich damit an, daß kühne Luftschiffer, die den Nordpol der Erde erreichen
und erblicken, sich zu ihrer tiefsten Bestürzung überzeugen müssen, daß andre
vor ihnen den Pol nicht nur erreicht, sondern eine feste, seltsame Station auf
ihm begründet haben. Es weist sich aus, daß die europäischen Polsorscher
den unbekannten Apparaten einer künstlichen Insel gegenüber in der Lage
eines Eskimos vor der Dynamomaschine eines Elektrizitätswerkes sind, sie sind
vollends verloren, als ihr Ballon unentrinnbar einem abarischcn Felde, einem
Gebiet ohne Schwere, zugetrieben wird, das die Marsbewohner sich am Nord-
Pol besorgt haben. Denn die Ruine, die Bewohner des Mars, sind ver¬
teufelt viel bessere Techniker, als die Sterblichen der Erde, und — weil sie
bessere Techniker sind — in dem gleichen Maße auch edlere und höherstehende
Geschöpfe. Sie haben es fertig gebracht, den Weltraum zwischen dem Pla¬
neten Mars (Nu) und der Erde in wunderbar konstruirten Fahrzeugen zu
durchschiffen, sie haben die beiden Pole der Erde erreicht und Stationen dort
angelegt, doch ist es ihnen bisher nicht gelungen, von den Eskimos zu den
Kulturländern der Erde vorzudringen. Die vernnglückenden Polforscher Saltner
und Grunthe. die von den Bewohnern der märkischen Station gerettet werden,
sind die ersten zivilisirten Menschen, die den Herren und Damen vom Mars
vorkommen. Man betrachtet sich, wie billig, mit gegenseitigem Erstaunen, und
zwischen dem braven süddeutschen Saltner und der schönen La vom Planeten
Nu macht sich alsbald die geheime Anziehungskraft geltend, die in der Menschen
Geschlechte den Mann zum Weibe zieht. Der dritte der Polforscher, Toren,
ist seinen Gefährten beim Herabsturz des Luftballons abhanden gekommen, und
diese machen sich in der guten Pflege der Martier mit Recht schwere Sorgen
um ihn. Beinahe noch rätselhafter als sein Verschwinden erscheint den Deutschen
die Thatsache, daß der Hauptausrüster ihrer Expedition, Friedrich Ell, ihnen
ein kleines handschriftliches Buch, einen deutsch-märkischen Sprachführer mit¬
gegeben hat! Während sie dem Geheimnis nachsinnen, wie ein irdischer Mensch
die Sprache der Ruine verstehen könne, machen sie beide, Grunthe wie Saltner,


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[0511] Der technische Lhiliasmus in der neuern Dichtung Röhrenleitungen und die Speiseballen, mit denen der wohlredende Dr, Leere seinen Gast aus dem neunzehnten Jahrhundert vertraut macht. Wir fürchten, daß die meisten sie besser im Gedächtnis behalten haben, als die ethischen und nationalökonomischen Auseinandersetzungen über den Unterschied des neun¬ zehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Auf alle Fülle wird, da sich nach Dr. Leetes Versicherung die menschliche Natur nicht geändert hat, sondern nur die Bedingungen des menschlichen Lebens, auch in Bellamys Zukunftsbild eine ungeheure Wirkung des technischen Fortschritts auf Thun und Lassen der Menschen vorausgesetzt. Doch was will die technische Entwicklung in Bellamys sozialem Traum gegenüber den Voraussetzungen bedeuten, die Kurt Laßwitz der Erfindung seines Romans „Auf zwei Planeten" zu Grunde legt? Der Roman hebt gleich damit an, daß kühne Luftschiffer, die den Nordpol der Erde erreichen und erblicken, sich zu ihrer tiefsten Bestürzung überzeugen müssen, daß andre vor ihnen den Pol nicht nur erreicht, sondern eine feste, seltsame Station auf ihm begründet haben. Es weist sich aus, daß die europäischen Polsorscher den unbekannten Apparaten einer künstlichen Insel gegenüber in der Lage eines Eskimos vor der Dynamomaschine eines Elektrizitätswerkes sind, sie sind vollends verloren, als ihr Ballon unentrinnbar einem abarischcn Felde, einem Gebiet ohne Schwere, zugetrieben wird, das die Marsbewohner sich am Nord- Pol besorgt haben. Denn die Ruine, die Bewohner des Mars, sind ver¬ teufelt viel bessere Techniker, als die Sterblichen der Erde, und — weil sie bessere Techniker sind — in dem gleichen Maße auch edlere und höherstehende Geschöpfe. Sie haben es fertig gebracht, den Weltraum zwischen dem Pla¬ neten Mars (Nu) und der Erde in wunderbar konstruirten Fahrzeugen zu durchschiffen, sie haben die beiden Pole der Erde erreicht und Stationen dort angelegt, doch ist es ihnen bisher nicht gelungen, von den Eskimos zu den Kulturländern der Erde vorzudringen. Die vernnglückenden Polforscher Saltner und Grunthe. die von den Bewohnern der märkischen Station gerettet werden, sind die ersten zivilisirten Menschen, die den Herren und Damen vom Mars vorkommen. Man betrachtet sich, wie billig, mit gegenseitigem Erstaunen, und zwischen dem braven süddeutschen Saltner und der schönen La vom Planeten Nu macht sich alsbald die geheime Anziehungskraft geltend, die in der Menschen Geschlechte den Mann zum Weibe zieht. Der dritte der Polforscher, Toren, ist seinen Gefährten beim Herabsturz des Luftballons abhanden gekommen, und diese machen sich in der guten Pflege der Martier mit Recht schwere Sorgen um ihn. Beinahe noch rätselhafter als sein Verschwinden erscheint den Deutschen die Thatsache, daß der Hauptausrüster ihrer Expedition, Friedrich Ell, ihnen ein kleines handschriftliches Buch, einen deutsch-märkischen Sprachführer mit¬ gegeben hat! Während sie dem Geheimnis nachsinnen, wie ein irdischer Mensch die Sprache der Ruine verstehen könne, machen sie beide, Grunthe wie Saltner,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/511>, abgerufen am 28.07.2024.