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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der technische Chiliasmus in der neuern Dichtung

Leid und Übel der Erde vor der bloßen Ausrufung und Aufrichtung der Re¬
publik entfliehen werde, so ist der Jünger des technischen unendlichen Fort¬
schritts davon durchdrungen, daß alles weitere Mühen um sittliche, um in¬
tellektuelle, um persönliche wie um nationale, um litterarische wie um künst¬
lerische Kultur fernerhin überflüssig erscheine, da dies alles in der reißenden
und blendenden Fortentwicklung der Technik mit inbegriffen sei. Der technische
Chiliasmus hat mit dem religiösen Chiliasmus die Neigung und die Fähigkeit
gemeinsam, ins Gewaltige zu malen und sich bei der Beschreibung künftiger
Herrlichkeiten nicht genug zu thun. Die Schilderungen, die Vellamys be¬
kanntes Buch "Im Jahre 2000" vou Boston am Beginn des einundzwanzigsten
Jahrhunderts entwirft, können mit den Perlcnthoren und den goldnen Gassen
des neuen Jerusalems in der Offenbarung Johannis beinahe wetteifern. Es
ist offenbar eine innere Verwandtschaft zwischen der schwelgerischen Phantasie
der ältesten und der neusten Schwärmer vorhanden, obschon, neben andern
tiefreichenden Unterschieden, die Verkünder des alten tausendjährigen Reichs
wirklich ergriffen, an ihre schwärmerische Erwartung ganz hingegeben erscheinen,
während die Propheten der technischen Weltbeglückung mitten im Rausch plötz¬
lich eine gekünstelte, kalte, berechnete Weise an den Tag legen.

Der Helltraum von der alleinseligmachenden Kraft und Macht des tech¬
nischen Fortschritts erfährt in der Wirklichkeit zuweilen eine empfindliche, ja
erschütternde Störung. Der schauerliche Untergang der "Bourgogne" hat vor
wenige" Wochen auch den Aposteln dieses Fortschritts vor Augen gerückt, daß
die Welt noch manches andre bedarf. Der stolze Dampfer soll nicht mit allen
technischen Vollkommenheiten ausgerüstet gewesen sein, doch wenn er es auch
gewesen wäre, so hätte keine technische Ausrüstung der brutalen Mannschaft
verwehren können, rettungsuchende Frauen und Kinder zu Boden zu treten
und ins Meer zu stürzen, um des eignen Lebens sicher zu sein, sondern sie
hätten eben eines Halts bedurft, der völlig unabhängig von der technischen
Vortrefflichkeit ist. Und die mit untergehenden katholischen Priester, die bis
zuletzt den Unglücklichen Trost spendeten, hatten die Fähigkeit dazu an anderm
Quell geschöpft, als an dem der technischen Perfektibilität. Kein vernünftiger
Mensch zweifelt ja an den Segnungen des technischen Fortschritts, aber jeder
vernünftige Mensch sühlt auch, daß mit ihm allein nichts gewonnen wird, ja
daß seine ausschließliche und unbegrenzte Herrschaft den Segen in Fluch
wandeln kann. Die Verödung, die ein Leben bedrohen würde, das nur noch
auf den technischen Fortschritt gestellt wäre, bedroht auch die poetische Litte¬
ratur, mit dem Einbruch des technischen Chiliasmus. Noch handelt sichs
überall nnr um Anfänge, und falsche Vornehmheit kann sich für den Augen¬
blick mit der Wahrheit trösten, daß die vorhandnen Romane und Phantasie¬
stücke, in denen die Weltzukunft und das Welkheit auf technische Erfindungen
gestellt erscheinen, im großen Zusammenhang der Litteratur geringfügige Be-


Der technische Chiliasmus in der neuern Dichtung

Leid und Übel der Erde vor der bloßen Ausrufung und Aufrichtung der Re¬
publik entfliehen werde, so ist der Jünger des technischen unendlichen Fort¬
schritts davon durchdrungen, daß alles weitere Mühen um sittliche, um in¬
tellektuelle, um persönliche wie um nationale, um litterarische wie um künst¬
lerische Kultur fernerhin überflüssig erscheine, da dies alles in der reißenden
und blendenden Fortentwicklung der Technik mit inbegriffen sei. Der technische
Chiliasmus hat mit dem religiösen Chiliasmus die Neigung und die Fähigkeit
gemeinsam, ins Gewaltige zu malen und sich bei der Beschreibung künftiger
Herrlichkeiten nicht genug zu thun. Die Schilderungen, die Vellamys be¬
kanntes Buch „Im Jahre 2000" vou Boston am Beginn des einundzwanzigsten
Jahrhunderts entwirft, können mit den Perlcnthoren und den goldnen Gassen
des neuen Jerusalems in der Offenbarung Johannis beinahe wetteifern. Es
ist offenbar eine innere Verwandtschaft zwischen der schwelgerischen Phantasie
der ältesten und der neusten Schwärmer vorhanden, obschon, neben andern
tiefreichenden Unterschieden, die Verkünder des alten tausendjährigen Reichs
wirklich ergriffen, an ihre schwärmerische Erwartung ganz hingegeben erscheinen,
während die Propheten der technischen Weltbeglückung mitten im Rausch plötz¬
lich eine gekünstelte, kalte, berechnete Weise an den Tag legen.

Der Helltraum von der alleinseligmachenden Kraft und Macht des tech¬
nischen Fortschritts erfährt in der Wirklichkeit zuweilen eine empfindliche, ja
erschütternde Störung. Der schauerliche Untergang der „Bourgogne" hat vor
wenige» Wochen auch den Aposteln dieses Fortschritts vor Augen gerückt, daß
die Welt noch manches andre bedarf. Der stolze Dampfer soll nicht mit allen
technischen Vollkommenheiten ausgerüstet gewesen sein, doch wenn er es auch
gewesen wäre, so hätte keine technische Ausrüstung der brutalen Mannschaft
verwehren können, rettungsuchende Frauen und Kinder zu Boden zu treten
und ins Meer zu stürzen, um des eignen Lebens sicher zu sein, sondern sie
hätten eben eines Halts bedurft, der völlig unabhängig von der technischen
Vortrefflichkeit ist. Und die mit untergehenden katholischen Priester, die bis
zuletzt den Unglücklichen Trost spendeten, hatten die Fähigkeit dazu an anderm
Quell geschöpft, als an dem der technischen Perfektibilität. Kein vernünftiger
Mensch zweifelt ja an den Segnungen des technischen Fortschritts, aber jeder
vernünftige Mensch sühlt auch, daß mit ihm allein nichts gewonnen wird, ja
daß seine ausschließliche und unbegrenzte Herrschaft den Segen in Fluch
wandeln kann. Die Verödung, die ein Leben bedrohen würde, das nur noch
auf den technischen Fortschritt gestellt wäre, bedroht auch die poetische Litte¬
ratur, mit dem Einbruch des technischen Chiliasmus. Noch handelt sichs
überall nnr um Anfänge, und falsche Vornehmheit kann sich für den Augen¬
blick mit der Wahrheit trösten, daß die vorhandnen Romane und Phantasie¬
stücke, in denen die Weltzukunft und das Welkheit auf technische Erfindungen
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[0509] Der technische Chiliasmus in der neuern Dichtung Leid und Übel der Erde vor der bloßen Ausrufung und Aufrichtung der Re¬ publik entfliehen werde, so ist der Jünger des technischen unendlichen Fort¬ schritts davon durchdrungen, daß alles weitere Mühen um sittliche, um in¬ tellektuelle, um persönliche wie um nationale, um litterarische wie um künst¬ lerische Kultur fernerhin überflüssig erscheine, da dies alles in der reißenden und blendenden Fortentwicklung der Technik mit inbegriffen sei. Der technische Chiliasmus hat mit dem religiösen Chiliasmus die Neigung und die Fähigkeit gemeinsam, ins Gewaltige zu malen und sich bei der Beschreibung künftiger Herrlichkeiten nicht genug zu thun. Die Schilderungen, die Vellamys be¬ kanntes Buch „Im Jahre 2000" vou Boston am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts entwirft, können mit den Perlcnthoren und den goldnen Gassen des neuen Jerusalems in der Offenbarung Johannis beinahe wetteifern. Es ist offenbar eine innere Verwandtschaft zwischen der schwelgerischen Phantasie der ältesten und der neusten Schwärmer vorhanden, obschon, neben andern tiefreichenden Unterschieden, die Verkünder des alten tausendjährigen Reichs wirklich ergriffen, an ihre schwärmerische Erwartung ganz hingegeben erscheinen, während die Propheten der technischen Weltbeglückung mitten im Rausch plötz¬ lich eine gekünstelte, kalte, berechnete Weise an den Tag legen. Der Helltraum von der alleinseligmachenden Kraft und Macht des tech¬ nischen Fortschritts erfährt in der Wirklichkeit zuweilen eine empfindliche, ja erschütternde Störung. Der schauerliche Untergang der „Bourgogne" hat vor wenige» Wochen auch den Aposteln dieses Fortschritts vor Augen gerückt, daß die Welt noch manches andre bedarf. Der stolze Dampfer soll nicht mit allen technischen Vollkommenheiten ausgerüstet gewesen sein, doch wenn er es auch gewesen wäre, so hätte keine technische Ausrüstung der brutalen Mannschaft verwehren können, rettungsuchende Frauen und Kinder zu Boden zu treten und ins Meer zu stürzen, um des eignen Lebens sicher zu sein, sondern sie hätten eben eines Halts bedurft, der völlig unabhängig von der technischen Vortrefflichkeit ist. Und die mit untergehenden katholischen Priester, die bis zuletzt den Unglücklichen Trost spendeten, hatten die Fähigkeit dazu an anderm Quell geschöpft, als an dem der technischen Perfektibilität. Kein vernünftiger Mensch zweifelt ja an den Segnungen des technischen Fortschritts, aber jeder vernünftige Mensch sühlt auch, daß mit ihm allein nichts gewonnen wird, ja daß seine ausschließliche und unbegrenzte Herrschaft den Segen in Fluch wandeln kann. Die Verödung, die ein Leben bedrohen würde, das nur noch auf den technischen Fortschritt gestellt wäre, bedroht auch die poetische Litte¬ ratur, mit dem Einbruch des technischen Chiliasmus. Noch handelt sichs überall nnr um Anfänge, und falsche Vornehmheit kann sich für den Augen¬ blick mit der Wahrheit trösten, daß die vorhandnen Romane und Phantasie¬ stücke, in denen die Weltzukunft und das Welkheit auf technische Erfindungen gestellt erscheinen, im großen Zusammenhang der Litteratur geringfügige Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/509>, abgerufen am 28.07.2024.