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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Mittelstandspolitik in Österreich

Handwerkern, namentlich den Schlossern, steht es keineswegs gut. Und in
allen Provinzen des schönen Landes dasselbe Elend! Am elendesten scheint
die Lage in den frommen Alpenprovinzen zu sein, abgesehen natürlich von dem
noch frommem Galizien. Im Klagenfnrter Bezirk wurden von 1062 inspi-
zirten Lehrlingsschlafstätten nur zwei in Ordnung befunden. Ein klassisches
Muster ehrbaren Handwerkerlebens fand man bei einem Tischler. Die Werk¬
statt war zugleich Küche, Wohn- und Schlafstube; darin standen neben einander
zwei Betten, in dem einen schliefen die beiden Lehrlinge, im andern der Meister
mit seiner Köchin. Wie für die Lehrlinge jeder Raum zum Schlafen, so ist
für sie anch jedes Instrument zum Prügeln gut genug; zahlreiche Gerichts¬
verhandlungen beweisen, daß außer dem Ochsenziemer und dem Knieriemen
auch Stiefelleisten, Besenstiele, Latten und Eisenstäbe verwandt werden. Die
Kost ist vielfach nicht einmal in Gastwirtschaften hinreichend. Die Arbeitszeit
ist ungemessen; die gebotne Sonntagsruhe und der Ersatzruhetag in der
Woche in solchen Werkstätten, denen Sonntagsarbeit gesetzlich erlaubt ist,
werden nicht bewilligt. Es kommt vor, daß ein Arzt den Lehrling wegen
einer Verletzung für arbeitsunfähig erklärt, der Meister aber ihn weiter
zu arbeiten zwingt und -- das Krankengeld in seine Tasche steckt. Und
worin besteht die Gegenleistung für diese Schinderei? In gar nichts.
Der Lehrling lernt nichts. Abgesehen davon, daß der Meister selbst häufig
nichts ordentliches kann oder nur in einer Spezialität Fertigkeit hat, wird der
Lehrling im ersten Teil seiner Lehrzeit nur mit häuslichen Verrichtungen und
mit dem Austragen der angefertigten Gegenstände, später zwar im Handwerk,
über nur ganz einseitig beschäftigt. Meister, die in ihrem Fach tüchtig sind,
Pflegen dem Lehrling die wichtigsten Kenntnisse und Fertigkeiten absichtlich vor¬
zuenthalten, damit er ihnen später nicht etwa Konkurrenz mache. Die ver-
nvmmueu Gesellen haben u. a. geäußert: Der Lehrling ist nur Arbeitstier;
sind die Kartoffeln gut geraten, so fragt sich der Meister auf dem Lande, ob
er einen Lehrling halten oder ein Schwein mästen soll. Und sogar vernommne
Meister haben offenherzig bekannt, darum, ob der Lehrling etwas lerne, küm¬
merten sich die wenigsten; der Meister verwende Gehilfen und Lehrlinge, damit
sie ihm so viel wie möglich Geld einbrächten; das sei der Zweck des Geschäfts
und werde es immer bleiben. Den Besuch der Fortbildungsschule hindern die
Meister nach Möglichkeit; es kommt vor, daß sie ihre Lehrlinge aufhetzen,
durch Ruhestörungen im Unterricht ihre Entlassung zu erzwingen. Natürlich
nützt der Unterricht nicht viel, da ihm die Lehrlinge im Zustande der Über¬
müdung beiwohnen. Wie denn überhaupt das Lernen erst in der Gesellenzeit
anfängt, so wird von den Strebsamern auch der Fortbildungö- und Fachunter¬
richt dann erst benutzt. An der Fachschule für Holzindustrie zu Vliland hat
man Hospitantenkurse eingerichtet. Darüber berichtet nun der Gewerbeinspektor.-
"Insbesondre lassen sich Gehilfen im Alter von zwanzig bis vierzig Jahren,


Mittelstandspolitik in Österreich

Handwerkern, namentlich den Schlossern, steht es keineswegs gut. Und in
allen Provinzen des schönen Landes dasselbe Elend! Am elendesten scheint
die Lage in den frommen Alpenprovinzen zu sein, abgesehen natürlich von dem
noch frommem Galizien. Im Klagenfnrter Bezirk wurden von 1062 inspi-
zirten Lehrlingsschlafstätten nur zwei in Ordnung befunden. Ein klassisches
Muster ehrbaren Handwerkerlebens fand man bei einem Tischler. Die Werk¬
statt war zugleich Küche, Wohn- und Schlafstube; darin standen neben einander
zwei Betten, in dem einen schliefen die beiden Lehrlinge, im andern der Meister
mit seiner Köchin. Wie für die Lehrlinge jeder Raum zum Schlafen, so ist
für sie anch jedes Instrument zum Prügeln gut genug; zahlreiche Gerichts¬
verhandlungen beweisen, daß außer dem Ochsenziemer und dem Knieriemen
auch Stiefelleisten, Besenstiele, Latten und Eisenstäbe verwandt werden. Die
Kost ist vielfach nicht einmal in Gastwirtschaften hinreichend. Die Arbeitszeit
ist ungemessen; die gebotne Sonntagsruhe und der Ersatzruhetag in der
Woche in solchen Werkstätten, denen Sonntagsarbeit gesetzlich erlaubt ist,
werden nicht bewilligt. Es kommt vor, daß ein Arzt den Lehrling wegen
einer Verletzung für arbeitsunfähig erklärt, der Meister aber ihn weiter
zu arbeiten zwingt und — das Krankengeld in seine Tasche steckt. Und
worin besteht die Gegenleistung für diese Schinderei? In gar nichts.
Der Lehrling lernt nichts. Abgesehen davon, daß der Meister selbst häufig
nichts ordentliches kann oder nur in einer Spezialität Fertigkeit hat, wird der
Lehrling im ersten Teil seiner Lehrzeit nur mit häuslichen Verrichtungen und
mit dem Austragen der angefertigten Gegenstände, später zwar im Handwerk,
über nur ganz einseitig beschäftigt. Meister, die in ihrem Fach tüchtig sind,
Pflegen dem Lehrling die wichtigsten Kenntnisse und Fertigkeiten absichtlich vor¬
zuenthalten, damit er ihnen später nicht etwa Konkurrenz mache. Die ver-
nvmmueu Gesellen haben u. a. geäußert: Der Lehrling ist nur Arbeitstier;
sind die Kartoffeln gut geraten, so fragt sich der Meister auf dem Lande, ob
er einen Lehrling halten oder ein Schwein mästen soll. Und sogar vernommne
Meister haben offenherzig bekannt, darum, ob der Lehrling etwas lerne, küm¬
merten sich die wenigsten; der Meister verwende Gehilfen und Lehrlinge, damit
sie ihm so viel wie möglich Geld einbrächten; das sei der Zweck des Geschäfts
und werde es immer bleiben. Den Besuch der Fortbildungsschule hindern die
Meister nach Möglichkeit; es kommt vor, daß sie ihre Lehrlinge aufhetzen,
durch Ruhestörungen im Unterricht ihre Entlassung zu erzwingen. Natürlich
nützt der Unterricht nicht viel, da ihm die Lehrlinge im Zustande der Über¬
müdung beiwohnen. Wie denn überhaupt das Lernen erst in der Gesellenzeit
anfängt, so wird von den Strebsamern auch der Fortbildungö- und Fachunter¬
richt dann erst benutzt. An der Fachschule für Holzindustrie zu Vliland hat
man Hospitantenkurse eingerichtet. Darüber berichtet nun der Gewerbeinspektor.-
»Insbesondre lassen sich Gehilfen im Alter von zwanzig bis vierzig Jahren,


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[0503] Mittelstandspolitik in Österreich Handwerkern, namentlich den Schlossern, steht es keineswegs gut. Und in allen Provinzen des schönen Landes dasselbe Elend! Am elendesten scheint die Lage in den frommen Alpenprovinzen zu sein, abgesehen natürlich von dem noch frommem Galizien. Im Klagenfnrter Bezirk wurden von 1062 inspi- zirten Lehrlingsschlafstätten nur zwei in Ordnung befunden. Ein klassisches Muster ehrbaren Handwerkerlebens fand man bei einem Tischler. Die Werk¬ statt war zugleich Küche, Wohn- und Schlafstube; darin standen neben einander zwei Betten, in dem einen schliefen die beiden Lehrlinge, im andern der Meister mit seiner Köchin. Wie für die Lehrlinge jeder Raum zum Schlafen, so ist für sie anch jedes Instrument zum Prügeln gut genug; zahlreiche Gerichts¬ verhandlungen beweisen, daß außer dem Ochsenziemer und dem Knieriemen auch Stiefelleisten, Besenstiele, Latten und Eisenstäbe verwandt werden. Die Kost ist vielfach nicht einmal in Gastwirtschaften hinreichend. Die Arbeitszeit ist ungemessen; die gebotne Sonntagsruhe und der Ersatzruhetag in der Woche in solchen Werkstätten, denen Sonntagsarbeit gesetzlich erlaubt ist, werden nicht bewilligt. Es kommt vor, daß ein Arzt den Lehrling wegen einer Verletzung für arbeitsunfähig erklärt, der Meister aber ihn weiter zu arbeiten zwingt und — das Krankengeld in seine Tasche steckt. Und worin besteht die Gegenleistung für diese Schinderei? In gar nichts. Der Lehrling lernt nichts. Abgesehen davon, daß der Meister selbst häufig nichts ordentliches kann oder nur in einer Spezialität Fertigkeit hat, wird der Lehrling im ersten Teil seiner Lehrzeit nur mit häuslichen Verrichtungen und mit dem Austragen der angefertigten Gegenstände, später zwar im Handwerk, über nur ganz einseitig beschäftigt. Meister, die in ihrem Fach tüchtig sind, Pflegen dem Lehrling die wichtigsten Kenntnisse und Fertigkeiten absichtlich vor¬ zuenthalten, damit er ihnen später nicht etwa Konkurrenz mache. Die ver- nvmmueu Gesellen haben u. a. geäußert: Der Lehrling ist nur Arbeitstier; sind die Kartoffeln gut geraten, so fragt sich der Meister auf dem Lande, ob er einen Lehrling halten oder ein Schwein mästen soll. Und sogar vernommne Meister haben offenherzig bekannt, darum, ob der Lehrling etwas lerne, küm¬ merten sich die wenigsten; der Meister verwende Gehilfen und Lehrlinge, damit sie ihm so viel wie möglich Geld einbrächten; das sei der Zweck des Geschäfts und werde es immer bleiben. Den Besuch der Fortbildungsschule hindern die Meister nach Möglichkeit; es kommt vor, daß sie ihre Lehrlinge aufhetzen, durch Ruhestörungen im Unterricht ihre Entlassung zu erzwingen. Natürlich nützt der Unterricht nicht viel, da ihm die Lehrlinge im Zustande der Über¬ müdung beiwohnen. Wie denn überhaupt das Lernen erst in der Gesellenzeit anfängt, so wird von den Strebsamern auch der Fortbildungö- und Fachunter¬ richt dann erst benutzt. An der Fachschule für Holzindustrie zu Vliland hat man Hospitantenkurse eingerichtet. Darüber berichtet nun der Gewerbeinspektor.- »Insbesondre lassen sich Gehilfen im Alter von zwanzig bis vierzig Jahren,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/503>, abgerufen am 28.07.2024.