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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die hebräische Renaissance in England

geistige Nahrung war. Als rein litterarisches Denkmal betrachtet bietet die
englische Übersetzung der Heiligen Schrift das edelste Muster der englischen
Sprache. Es konnte nicht ausbleiben, daß ihr täglicher Gebrauch bei den so
begierig aufgesuchten öffentlichen und häuslichen Erbauungen auf Litteratur
und Umgangssprache die erstaunlichste Wirkung ausübte.

Weit wichtiger und tiefgreifender war indessen der Einfluß, den das eifrige
Lesen der Bibel auf den Volkscharakter hatte. Die Erklärung für diese Wir¬
kung ist noch in andern, ernstern Ursachen zu suchen, als im Reiz der Neuheit
und der litterarischen Form. Heinrich VIII. und ebenso Königin Elisabeth
betrachteten die Auseinandersetzung mit dem Papst und der römischen Kirche
vornehmlich als eine politische Angelegenheit. Demgemäß sollte über das, was
in kirchlichen Fragen als wahr und richtig anzusehen sei, nicht das religiös
gestimmte Gewissen, sondern die Staatsraison und das Interesse des öffent¬
lichen Friedens entscheiden. Die Staatsregierung allein war, dieser Auffassung
zufolge, berechtigt, dem Volke das Maß seiner protestantischen Freiheit zuzu¬
messen. Dem König sollte vorbehalten bleiben, das Verhältnis der Bürger
zu Gott zu regeln. Gegen dieses Ansinnen und die darin sich aussprechende
Auffassung des religiösen Lebens empörten sich die Gewissen, die vom Geiste
Calvins berührt waren. Den Jüngern des Genfer Reformators galt es als
die ernsteste aller Lebensaufgaben, nach den dunkeln Geheimnissen der sittlichen
Weltordnung und der göttlichen Weltregierung, demgemäß nach dem genauen
Inhalt der ewig giltigen Gebote Gottes zu forschen. Mit tief erregtem Gemüt
wollten sie sich Klarheit verschaffen über die Frage: was ist Sünde? was Ge¬
rechtigkeit? wie und worin offenbart sich der ewige Wille Gottes am Herzen
des Menschen? Gerade über diese Fragen nun hatte zu einem gewissermaßen
als Paradigma auserwühlten Volke Gott sich selber geäußert in den Heiligen
Schriften, insbesondre in denen des alten Bundes. Durch die erleuchtende
und spornende Kraft, die den Worten der alttestamentlichen Helden und
Propheten entströmte, befestigte sich beim Leser der Bibel der Glaube, daß sich
in diesen Worten, in den darin ausgesprochnen Grundsätzen und Geboten die
Idee der Gerechtigkeit in ihrer lautersten Reinheit offenbare.

Solange dieser Einfluß der althebräischen Schriften zusammenwirkte mit
Antrieben edler Art, die aus dem Leben der damaligen Gegenwart stammten,
schuf er in dem bibelfesten englischen Calvinisten einen Charaktertypus, der
auch dem Andersgläubigen hohe Achtung abnötigte. Der so ganz der Läute¬
rung und Sammlung des sittlichen Willens hingegebne, aber auch der feinern
Weltbildung sich nicht verschließende Puritaner der ersten Generation machte
recht eigentlich das Wort des Dichters zur Wahrheit: Bereit sein ist alles.
Dieser strengen, aber noch nicht übermäßig einseitig gewordnen Richtung des
Protestantismus galt als erste und oberste Pflicht die Selbstbeherrschung, eine
Disziplinirung der sittlichen Kräfte, die die Bereitschaft verbürgte, jeden Augen-


Die hebräische Renaissance in England

geistige Nahrung war. Als rein litterarisches Denkmal betrachtet bietet die
englische Übersetzung der Heiligen Schrift das edelste Muster der englischen
Sprache. Es konnte nicht ausbleiben, daß ihr täglicher Gebrauch bei den so
begierig aufgesuchten öffentlichen und häuslichen Erbauungen auf Litteratur
und Umgangssprache die erstaunlichste Wirkung ausübte.

Weit wichtiger und tiefgreifender war indessen der Einfluß, den das eifrige
Lesen der Bibel auf den Volkscharakter hatte. Die Erklärung für diese Wir¬
kung ist noch in andern, ernstern Ursachen zu suchen, als im Reiz der Neuheit
und der litterarischen Form. Heinrich VIII. und ebenso Königin Elisabeth
betrachteten die Auseinandersetzung mit dem Papst und der römischen Kirche
vornehmlich als eine politische Angelegenheit. Demgemäß sollte über das, was
in kirchlichen Fragen als wahr und richtig anzusehen sei, nicht das religiös
gestimmte Gewissen, sondern die Staatsraison und das Interesse des öffent¬
lichen Friedens entscheiden. Die Staatsregierung allein war, dieser Auffassung
zufolge, berechtigt, dem Volke das Maß seiner protestantischen Freiheit zuzu¬
messen. Dem König sollte vorbehalten bleiben, das Verhältnis der Bürger
zu Gott zu regeln. Gegen dieses Ansinnen und die darin sich aussprechende
Auffassung des religiösen Lebens empörten sich die Gewissen, die vom Geiste
Calvins berührt waren. Den Jüngern des Genfer Reformators galt es als
die ernsteste aller Lebensaufgaben, nach den dunkeln Geheimnissen der sittlichen
Weltordnung und der göttlichen Weltregierung, demgemäß nach dem genauen
Inhalt der ewig giltigen Gebote Gottes zu forschen. Mit tief erregtem Gemüt
wollten sie sich Klarheit verschaffen über die Frage: was ist Sünde? was Ge¬
rechtigkeit? wie und worin offenbart sich der ewige Wille Gottes am Herzen
des Menschen? Gerade über diese Fragen nun hatte zu einem gewissermaßen
als Paradigma auserwühlten Volke Gott sich selber geäußert in den Heiligen
Schriften, insbesondre in denen des alten Bundes. Durch die erleuchtende
und spornende Kraft, die den Worten der alttestamentlichen Helden und
Propheten entströmte, befestigte sich beim Leser der Bibel der Glaube, daß sich
in diesen Worten, in den darin ausgesprochnen Grundsätzen und Geboten die
Idee der Gerechtigkeit in ihrer lautersten Reinheit offenbare.

Solange dieser Einfluß der althebräischen Schriften zusammenwirkte mit
Antrieben edler Art, die aus dem Leben der damaligen Gegenwart stammten,
schuf er in dem bibelfesten englischen Calvinisten einen Charaktertypus, der
auch dem Andersgläubigen hohe Achtung abnötigte. Der so ganz der Läute¬
rung und Sammlung des sittlichen Willens hingegebne, aber auch der feinern
Weltbildung sich nicht verschließende Puritaner der ersten Generation machte
recht eigentlich das Wort des Dichters zur Wahrheit: Bereit sein ist alles.
Dieser strengen, aber noch nicht übermäßig einseitig gewordnen Richtung des
Protestantismus galt als erste und oberste Pflicht die Selbstbeherrschung, eine
Disziplinirung der sittlichen Kräfte, die die Bereitschaft verbürgte, jeden Augen-


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[0495] Die hebräische Renaissance in England geistige Nahrung war. Als rein litterarisches Denkmal betrachtet bietet die englische Übersetzung der Heiligen Schrift das edelste Muster der englischen Sprache. Es konnte nicht ausbleiben, daß ihr täglicher Gebrauch bei den so begierig aufgesuchten öffentlichen und häuslichen Erbauungen auf Litteratur und Umgangssprache die erstaunlichste Wirkung ausübte. Weit wichtiger und tiefgreifender war indessen der Einfluß, den das eifrige Lesen der Bibel auf den Volkscharakter hatte. Die Erklärung für diese Wir¬ kung ist noch in andern, ernstern Ursachen zu suchen, als im Reiz der Neuheit und der litterarischen Form. Heinrich VIII. und ebenso Königin Elisabeth betrachteten die Auseinandersetzung mit dem Papst und der römischen Kirche vornehmlich als eine politische Angelegenheit. Demgemäß sollte über das, was in kirchlichen Fragen als wahr und richtig anzusehen sei, nicht das religiös gestimmte Gewissen, sondern die Staatsraison und das Interesse des öffent¬ lichen Friedens entscheiden. Die Staatsregierung allein war, dieser Auffassung zufolge, berechtigt, dem Volke das Maß seiner protestantischen Freiheit zuzu¬ messen. Dem König sollte vorbehalten bleiben, das Verhältnis der Bürger zu Gott zu regeln. Gegen dieses Ansinnen und die darin sich aussprechende Auffassung des religiösen Lebens empörten sich die Gewissen, die vom Geiste Calvins berührt waren. Den Jüngern des Genfer Reformators galt es als die ernsteste aller Lebensaufgaben, nach den dunkeln Geheimnissen der sittlichen Weltordnung und der göttlichen Weltregierung, demgemäß nach dem genauen Inhalt der ewig giltigen Gebote Gottes zu forschen. Mit tief erregtem Gemüt wollten sie sich Klarheit verschaffen über die Frage: was ist Sünde? was Ge¬ rechtigkeit? wie und worin offenbart sich der ewige Wille Gottes am Herzen des Menschen? Gerade über diese Fragen nun hatte zu einem gewissermaßen als Paradigma auserwühlten Volke Gott sich selber geäußert in den Heiligen Schriften, insbesondre in denen des alten Bundes. Durch die erleuchtende und spornende Kraft, die den Worten der alttestamentlichen Helden und Propheten entströmte, befestigte sich beim Leser der Bibel der Glaube, daß sich in diesen Worten, in den darin ausgesprochnen Grundsätzen und Geboten die Idee der Gerechtigkeit in ihrer lautersten Reinheit offenbare. Solange dieser Einfluß der althebräischen Schriften zusammenwirkte mit Antrieben edler Art, die aus dem Leben der damaligen Gegenwart stammten, schuf er in dem bibelfesten englischen Calvinisten einen Charaktertypus, der auch dem Andersgläubigen hohe Achtung abnötigte. Der so ganz der Läute¬ rung und Sammlung des sittlichen Willens hingegebne, aber auch der feinern Weltbildung sich nicht verschließende Puritaner der ersten Generation machte recht eigentlich das Wort des Dichters zur Wahrheit: Bereit sein ist alles. Dieser strengen, aber noch nicht übermäßig einseitig gewordnen Richtung des Protestantismus galt als erste und oberste Pflicht die Selbstbeherrschung, eine Disziplinirung der sittlichen Kräfte, die die Bereitschaft verbürgte, jeden Augen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/495>, abgerufen am 28.07.2024.