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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Weltfriede

Vatikan," der seine Zustimmung zu dem Abrüstungsvorschlage schon aus¬
gesprochen hat, etwa bitten, seine Kardinäle und Legaten auszusenden, um
Kasernen und Zeughäuser und Kriegshafen daraufhin zu inspiziren? Unklar¬
heiten und Unmöglichkeiten, wohin man sieht!

Nicht weniger wunderbar ist die Behauptung, daß der gegenwärtige Zeit-
Punkt für eine allgemeine "Abrüstung" besonders günstig sei. Bisher war
man der Meinung, daß gerade jetzt ungeheure Gegensätze der Lösung harrten.
Noch ist die Zukunft der Türkei unentschieden, da ist im äußersten Osten die
Frage nach der Zukunft Chinas aufgeworfen worden, und der junge unhöfliche
Riese Nordamerika braucht seine Ellenbogen, um sich freie Bahn zu machen
in den verfaulten Kreolenstaaten. Wird irgend welche "Abrüstung" diese
Gegensätze aus der Welt schaffen? Werden sich, dem Spruche eines Universal-
schiedsgerichts gehorsam, der Moskowiter und John Bull in Ostasien die
Hände schütteln, statt sie an den Schwertgriff zu legen? Oder wird Arete
Sam sein Sternenbanner auf Kuba und Puertorico wieder einziehen? Oder
wird auch nur der "Moskal" auf den tausendjährigen Traum verzichten, das
griechische Doppelkreuz auf der Kuppel der Aja Sophia aufzupflanzen? Daran
glaubt Graf Murawjew doch wohl nicht.

Aber vielleicht glaubt er an etwas ganz andres, und damit wären wir
bei der zweiten Möglichkeit. Es ist möglich, daß für Nußland selbst der
gegenwärtige Zeitpunkt den Vorschlag der "Abrüstung" empfiehlt, um die
gewaltsame Lösung großer Gegensätze vorläufig noch hinauszuschieben. Noch
bedarf es einiger Jahre, um die sibirische Bahn zu vollenden und sich damit
die Möglichkeit zu sichern, eine beliebig große Armee in Ostasien zu ver¬
sammeln und dort entscheidend durchzugreifen. Höchst wahrscheinlich auch, daß
es fürs erste in Europa, die Türkei mit eingeschlossen, keine Besitzveränderung,
überhaupt keine kriegerische Entscheidung wünscht, weil es ans die Dauer that¬
sächlich über seine Kräfte geht, die Anhäufung so großer Truppenmassen in
seinen Westprovinzen zu ertragen und gleichzeitig in Asien und für seine Kriegs¬
flotte so gewaltigen Aufwand zu machen. Von diesem russischen Gesichtspunkt
aus erscheint der Abrüstungsvorschlag, also aus dem Phantastischen in die
Wirklichkeit übersetzt, der Vorschlag, die Austragung der großen Fragen bis
auf weiteres zu vertagen, keineswegs utopisch, sondern sehr praktisch, sehr
verständlich.

Doch fragen wir vor allem: was hat Deutschland davon zu erwarten?
Denn für uns ist das doch die Hauptsache. Es ist klar, daß wir kein Inter¬
esse haben, irgend welche kriegerische Entscheidung in Europa zu wünschen,
denn hier sind wir "gesättigt," wir wollen hier in absehbarer Zeit gar keine
Veränderung unsers Besitzstandes, wir wollen nur das Unsre festhalten. Die
Aussicht, daß wir das ohne Kampf können, verstärkt sich offenbar, wenn
Frankreich seine Hoffnung auf den Beistand Rußlands für seine "Revanche"


Weltfriede

Vatikan," der seine Zustimmung zu dem Abrüstungsvorschlage schon aus¬
gesprochen hat, etwa bitten, seine Kardinäle und Legaten auszusenden, um
Kasernen und Zeughäuser und Kriegshafen daraufhin zu inspiziren? Unklar¬
heiten und Unmöglichkeiten, wohin man sieht!

Nicht weniger wunderbar ist die Behauptung, daß der gegenwärtige Zeit-
Punkt für eine allgemeine „Abrüstung" besonders günstig sei. Bisher war
man der Meinung, daß gerade jetzt ungeheure Gegensätze der Lösung harrten.
Noch ist die Zukunft der Türkei unentschieden, da ist im äußersten Osten die
Frage nach der Zukunft Chinas aufgeworfen worden, und der junge unhöfliche
Riese Nordamerika braucht seine Ellenbogen, um sich freie Bahn zu machen
in den verfaulten Kreolenstaaten. Wird irgend welche „Abrüstung" diese
Gegensätze aus der Welt schaffen? Werden sich, dem Spruche eines Universal-
schiedsgerichts gehorsam, der Moskowiter und John Bull in Ostasien die
Hände schütteln, statt sie an den Schwertgriff zu legen? Oder wird Arete
Sam sein Sternenbanner auf Kuba und Puertorico wieder einziehen? Oder
wird auch nur der „Moskal" auf den tausendjährigen Traum verzichten, das
griechische Doppelkreuz auf der Kuppel der Aja Sophia aufzupflanzen? Daran
glaubt Graf Murawjew doch wohl nicht.

Aber vielleicht glaubt er an etwas ganz andres, und damit wären wir
bei der zweiten Möglichkeit. Es ist möglich, daß für Nußland selbst der
gegenwärtige Zeitpunkt den Vorschlag der „Abrüstung" empfiehlt, um die
gewaltsame Lösung großer Gegensätze vorläufig noch hinauszuschieben. Noch
bedarf es einiger Jahre, um die sibirische Bahn zu vollenden und sich damit
die Möglichkeit zu sichern, eine beliebig große Armee in Ostasien zu ver¬
sammeln und dort entscheidend durchzugreifen. Höchst wahrscheinlich auch, daß
es fürs erste in Europa, die Türkei mit eingeschlossen, keine Besitzveränderung,
überhaupt keine kriegerische Entscheidung wünscht, weil es ans die Dauer that¬
sächlich über seine Kräfte geht, die Anhäufung so großer Truppenmassen in
seinen Westprovinzen zu ertragen und gleichzeitig in Asien und für seine Kriegs¬
flotte so gewaltigen Aufwand zu machen. Von diesem russischen Gesichtspunkt
aus erscheint der Abrüstungsvorschlag, also aus dem Phantastischen in die
Wirklichkeit übersetzt, der Vorschlag, die Austragung der großen Fragen bis
auf weiteres zu vertagen, keineswegs utopisch, sondern sehr praktisch, sehr
verständlich.

Doch fragen wir vor allem: was hat Deutschland davon zu erwarten?
Denn für uns ist das doch die Hauptsache. Es ist klar, daß wir kein Inter¬
esse haben, irgend welche kriegerische Entscheidung in Europa zu wünschen,
denn hier sind wir „gesättigt," wir wollen hier in absehbarer Zeit gar keine
Veränderung unsers Besitzstandes, wir wollen nur das Unsre festhalten. Die
Aussicht, daß wir das ohne Kampf können, verstärkt sich offenbar, wenn
Frankreich seine Hoffnung auf den Beistand Rußlands für seine „Revanche"


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[0491] Weltfriede Vatikan," der seine Zustimmung zu dem Abrüstungsvorschlage schon aus¬ gesprochen hat, etwa bitten, seine Kardinäle und Legaten auszusenden, um Kasernen und Zeughäuser und Kriegshafen daraufhin zu inspiziren? Unklar¬ heiten und Unmöglichkeiten, wohin man sieht! Nicht weniger wunderbar ist die Behauptung, daß der gegenwärtige Zeit- Punkt für eine allgemeine „Abrüstung" besonders günstig sei. Bisher war man der Meinung, daß gerade jetzt ungeheure Gegensätze der Lösung harrten. Noch ist die Zukunft der Türkei unentschieden, da ist im äußersten Osten die Frage nach der Zukunft Chinas aufgeworfen worden, und der junge unhöfliche Riese Nordamerika braucht seine Ellenbogen, um sich freie Bahn zu machen in den verfaulten Kreolenstaaten. Wird irgend welche „Abrüstung" diese Gegensätze aus der Welt schaffen? Werden sich, dem Spruche eines Universal- schiedsgerichts gehorsam, der Moskowiter und John Bull in Ostasien die Hände schütteln, statt sie an den Schwertgriff zu legen? Oder wird Arete Sam sein Sternenbanner auf Kuba und Puertorico wieder einziehen? Oder wird auch nur der „Moskal" auf den tausendjährigen Traum verzichten, das griechische Doppelkreuz auf der Kuppel der Aja Sophia aufzupflanzen? Daran glaubt Graf Murawjew doch wohl nicht. Aber vielleicht glaubt er an etwas ganz andres, und damit wären wir bei der zweiten Möglichkeit. Es ist möglich, daß für Nußland selbst der gegenwärtige Zeitpunkt den Vorschlag der „Abrüstung" empfiehlt, um die gewaltsame Lösung großer Gegensätze vorläufig noch hinauszuschieben. Noch bedarf es einiger Jahre, um die sibirische Bahn zu vollenden und sich damit die Möglichkeit zu sichern, eine beliebig große Armee in Ostasien zu ver¬ sammeln und dort entscheidend durchzugreifen. Höchst wahrscheinlich auch, daß es fürs erste in Europa, die Türkei mit eingeschlossen, keine Besitzveränderung, überhaupt keine kriegerische Entscheidung wünscht, weil es ans die Dauer that¬ sächlich über seine Kräfte geht, die Anhäufung so großer Truppenmassen in seinen Westprovinzen zu ertragen und gleichzeitig in Asien und für seine Kriegs¬ flotte so gewaltigen Aufwand zu machen. Von diesem russischen Gesichtspunkt aus erscheint der Abrüstungsvorschlag, also aus dem Phantastischen in die Wirklichkeit übersetzt, der Vorschlag, die Austragung der großen Fragen bis auf weiteres zu vertagen, keineswegs utopisch, sondern sehr praktisch, sehr verständlich. Doch fragen wir vor allem: was hat Deutschland davon zu erwarten? Denn für uns ist das doch die Hauptsache. Es ist klar, daß wir kein Inter¬ esse haben, irgend welche kriegerische Entscheidung in Europa zu wünschen, denn hier sind wir „gesättigt," wir wollen hier in absehbarer Zeit gar keine Veränderung unsers Besitzstandes, wir wollen nur das Unsre festhalten. Die Aussicht, daß wir das ohne Kampf können, verstärkt sich offenbar, wenn Frankreich seine Hoffnung auf den Beistand Rußlands für seine „Revanche"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/491>, abgerufen am 01.09.2024.