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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Theorie des Grafen Gobineau

aber endlich und begrenzt ist wie der ihrige." Dazu unterliege die Menschheit
dem Gesetz, daß sie jeden Vorteil mit einem entsprechenden Nachteil erkaufen
müsse, z. B. die höhern Grade geistiger und sittlicher Ausbildung mit leib¬
licher Verkümmerung. "Die menschliche Erkenntnis flackert beständig hin und
her, eilt von einem Punkte zum andern, hat keine Allgegenwart, übertreibt
den Wert dessen, was sie inne hat, vergißt, was sie fahren läßt; festgekettet
in dem Kreise, aus dem nie herauszukommen sie verurteilt ist, bringt sie es
nur dadurch zur Ertragsfähigkeit des einen Teils ihrer Gebiete, daß sie den
andern brach liegen läßt, und steht dadurch also immer zugleich hoher und
tiefer als ihre Vorfahren. Die Menschheit übertrifft sich also nie selbst; sie
ist also nicht ins unendliche vervollkommnungssähig" (S. 224).

Was dann die Rassenunterschiede anlangt, so ist die Überlegenheit der
höhern Rassen nach Gobineau nicht am "sittlichen und geistigen Wert der In¬
dividuen" zu messen. In Beziehung auf den sittlichen sei ja schon die Gleich¬
heit der Menschenrassen durch die Fähigkeit aller, das Christentum auszunehmen,
hinlänglich erwiesen. Was das geistige Gebiet betrifft, so werde er sich schon
aus dem Grunde hüten, jeden Neger für einen Dummkopf zu erklären, weil
er dann gezwungen werden könnte, zu bekennen, daß jeder Europäer gescheit sei.
Er leugne gar nicht, daß mancher Neger unserm durchschnittlichen Bauern, ja
selbst einem wohlunterrichteten Bürger von guter Begabung an Intelligenz
überlegen sei; nicht die Einzelnen dürfe man vergleichen, sondern die Leistungen
der ganzen Völker müsse man ins Auge fassen, da trete dann der Unterschied
deutlich hervor. Das ist wohl richtig, aber weit entfernt von einer genauen
Auskunft darüber, woran es denn nun liegt, daß die Rassen und Völker, trotz
großer Ähnlichkeit vieler ihrer Individuen, im ganzen so verschieden sind. Und
diese Auskunft erhalten wir auch nicht in dem Abschnitte, worin er die Be¬
griffe Zivilisation und Kultur erörtert. Er verwirft die Definitionen, die
Guizot und Wilhelm von Humboldt gegeben haben. Guizot lassen wir beiseite.
Humboldt erklärt die Zivilisation für die "Vermenschlichung der Völker in
ihren äußern Einrichtungen und Gebräuchen und in der darauf Bezug habenden
innern Gesinnung." Erhebe sich das zivilisirte Volk zu Kunst und Wissen¬
schaft, so habe es Kultur. Den höchsten Gipfel der Kultur erklimme der ge¬
bildete Mensch, d. h. der Mensch, der in seiner Natur "etwas zugleich Höheres
und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart besitzt, die sich aus der Erkenntnis
und dem Gefühle des geistigen und sittlichen Strebens harmonisch aus die Em¬
pfindung und den Charakter ergießt."'") Das ist ein wenig dunkel, aber was
Gobineau, der dagegen polemisirt, über die Sache sagt, ist auch nicht viel
klarer. Er legt bei der Darstellung der Rassenunterschiede das Hauptgewicht



*) Humboldts Werk über die Kawisprache, worin diese Stelle steht, ist uns nicht zu¬
gänglich, sonst würden wir nachsehen, ob sie der Übersetzer nachgeschlagen oder bloß aus dem
Französischen zurückübersetzt hat; die "Gefühle des geistigen und sittlichen Strebens" erscheinen
verdächtig.
Die Theorie des Grafen Gobineau

aber endlich und begrenzt ist wie der ihrige." Dazu unterliege die Menschheit
dem Gesetz, daß sie jeden Vorteil mit einem entsprechenden Nachteil erkaufen
müsse, z. B. die höhern Grade geistiger und sittlicher Ausbildung mit leib¬
licher Verkümmerung. „Die menschliche Erkenntnis flackert beständig hin und
her, eilt von einem Punkte zum andern, hat keine Allgegenwart, übertreibt
den Wert dessen, was sie inne hat, vergißt, was sie fahren läßt; festgekettet
in dem Kreise, aus dem nie herauszukommen sie verurteilt ist, bringt sie es
nur dadurch zur Ertragsfähigkeit des einen Teils ihrer Gebiete, daß sie den
andern brach liegen läßt, und steht dadurch also immer zugleich hoher und
tiefer als ihre Vorfahren. Die Menschheit übertrifft sich also nie selbst; sie
ist also nicht ins unendliche vervollkommnungssähig" (S. 224).

Was dann die Rassenunterschiede anlangt, so ist die Überlegenheit der
höhern Rassen nach Gobineau nicht am „sittlichen und geistigen Wert der In¬
dividuen" zu messen. In Beziehung auf den sittlichen sei ja schon die Gleich¬
heit der Menschenrassen durch die Fähigkeit aller, das Christentum auszunehmen,
hinlänglich erwiesen. Was das geistige Gebiet betrifft, so werde er sich schon
aus dem Grunde hüten, jeden Neger für einen Dummkopf zu erklären, weil
er dann gezwungen werden könnte, zu bekennen, daß jeder Europäer gescheit sei.
Er leugne gar nicht, daß mancher Neger unserm durchschnittlichen Bauern, ja
selbst einem wohlunterrichteten Bürger von guter Begabung an Intelligenz
überlegen sei; nicht die Einzelnen dürfe man vergleichen, sondern die Leistungen
der ganzen Völker müsse man ins Auge fassen, da trete dann der Unterschied
deutlich hervor. Das ist wohl richtig, aber weit entfernt von einer genauen
Auskunft darüber, woran es denn nun liegt, daß die Rassen und Völker, trotz
großer Ähnlichkeit vieler ihrer Individuen, im ganzen so verschieden sind. Und
diese Auskunft erhalten wir auch nicht in dem Abschnitte, worin er die Be¬
griffe Zivilisation und Kultur erörtert. Er verwirft die Definitionen, die
Guizot und Wilhelm von Humboldt gegeben haben. Guizot lassen wir beiseite.
Humboldt erklärt die Zivilisation für die „Vermenschlichung der Völker in
ihren äußern Einrichtungen und Gebräuchen und in der darauf Bezug habenden
innern Gesinnung." Erhebe sich das zivilisirte Volk zu Kunst und Wissen¬
schaft, so habe es Kultur. Den höchsten Gipfel der Kultur erklimme der ge¬
bildete Mensch, d. h. der Mensch, der in seiner Natur „etwas zugleich Höheres
und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart besitzt, die sich aus der Erkenntnis
und dem Gefühle des geistigen und sittlichen Strebens harmonisch aus die Em¬
pfindung und den Charakter ergießt."'") Das ist ein wenig dunkel, aber was
Gobineau, der dagegen polemisirt, über die Sache sagt, ist auch nicht viel
klarer. Er legt bei der Darstellung der Rassenunterschiede das Hauptgewicht



*) Humboldts Werk über die Kawisprache, worin diese Stelle steht, ist uns nicht zu¬
gänglich, sonst würden wir nachsehen, ob sie der Übersetzer nachgeschlagen oder bloß aus dem
Französischen zurückübersetzt hat; die „Gefühle des geistigen und sittlichen Strebens" erscheinen
verdächtig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/455>, abgerufen am 28.07.2024.