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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Theorie des Grafen Gobineau

die Zivilisation, und diese nimmt keineswegs in demselben Maße ab und zu
wie die Güte des Charakters.

In Beziehung auf die höchsten Fragen der Menschheit, die metaphysischen,
hat es auch nach Gobineau die heutige Menschheit noch keinen Schritt weiter
gebracht als die ältesten Weisen. Und in Beziehung auf den technischen Fort¬
schritt weist er auf die Thatsache hin, daß er vielfach nur eine mechanische
Fortbewegung in dem Geleise ist, das ein bahnbrechender Geist eingeschlagen
hat. Alle Errungenschaften der modernen Technik sind vortreffliche Werkzeuge,
aber ihr Nutzen hängt ganz und gar von der Beschaffenheit derer ab, die sie
gebrauchen; das gelte ganz besonders vom Buch- und Zeitungsdruck, der weit
weniger zur Förderung höherer Kultur als zur Förderung von Interessen
benützt werde; die Presse leiste vor allem "Tagesdienst." Auch in der Politik
sei von Fortschritt nichts zu bemerken. Alle heutigen Verfassungen seien schon
einmal oder schon öfter dagewesen. Sie seien allesamt nur Variationen und
Kombinationen zweier Urtypen. Der eine werde durch das (im dreizehnten
Jahrhundert zerstörte) Reich der Wolgabulgaren dargestellt, wo die Regierung
jeden Hunger ließ, der Geist verriet, der andre finde sich in dem nubischen
Staate Fasogl, wo, wenn man mit dem König nicht mehr zufrieden ist, seine
vornehmsten Unterthanen kommen und ihm sagen: Du gefällst den Männern,
den Weibern, den Kindern, den Ochsen und den Eseln nicht mehr, mache, daß
du fortkommst aus dieser Welt.

Wie die Leser wissen, glauben wir nicht an ein objektives Ziel der Ent¬
wicklung der Menschheit, sondern nur an subjektive Ziele, d. h. die Verände¬
rungen der menschlichen Gesellschaft und die Kulturfortschritte haben nicht den
Zweck, einen Zustand herbeizuführen, der das an sich Wertvolle wäre, sondern
sie sind nur die Mittel, den Menschen jeder Zeit zur Erreichung ihrer Lebens¬
zwecke: zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit und zur Begründung ihres Glücks
zu verhelfen. In wie weit diese Einzelzwecke erreicht werden, läßt sich nicht
erforschen, da kein Forscher in alle Einzelseelen eindringen kann, und das wäre
notwendig, wenn man eine Glücksbilanz ziehen wollte, wie sie die Pessimisten
zu ziehen sich herausnehmen. Oberflächlich betrachtet, sieht allerdings auch
nach Gobineau das Menschenleben trostlos aus. "Armselige Menschheit, ruft er
S. 218, sie hat es nie dahin gebracht, ein Mittel ausfindig zu machen, alle Welt
zu kleiden und alle Welt vor Durst und Hunger zu schützen. Gewiß weiß der ge¬
ringste der Wilden mehr als die Tiere; aber die Tiere kennen das, was ihnen nütz¬
lich ist, und wir kennen es nicht. Sie bleiben dabei, und wir können es nicht fest¬
halten, wenn wir es ja einmal entdeckt haben. Sie sind in normalen Zeiten stets
durch ihre Instinkte dessen gewiß, daß sie das notwendige finden. Wir dagegen
sehen zahlreiche Horden, die seit Anbeginn der Jahrhunderte aus einem un¬
sichern und leidenden Zustande nicht herauszukommen vermocht haben. Inso¬
weit nur das irdische Wohlbefinden in Frage kommt, haben wir vor den Tieren
nichts voraus, nichts, als einen Horizont, der eine weitere Überschau gewährt,


Die Theorie des Grafen Gobineau

die Zivilisation, und diese nimmt keineswegs in demselben Maße ab und zu
wie die Güte des Charakters.

In Beziehung auf die höchsten Fragen der Menschheit, die metaphysischen,
hat es auch nach Gobineau die heutige Menschheit noch keinen Schritt weiter
gebracht als die ältesten Weisen. Und in Beziehung auf den technischen Fort¬
schritt weist er auf die Thatsache hin, daß er vielfach nur eine mechanische
Fortbewegung in dem Geleise ist, das ein bahnbrechender Geist eingeschlagen
hat. Alle Errungenschaften der modernen Technik sind vortreffliche Werkzeuge,
aber ihr Nutzen hängt ganz und gar von der Beschaffenheit derer ab, die sie
gebrauchen; das gelte ganz besonders vom Buch- und Zeitungsdruck, der weit
weniger zur Förderung höherer Kultur als zur Förderung von Interessen
benützt werde; die Presse leiste vor allem „Tagesdienst." Auch in der Politik
sei von Fortschritt nichts zu bemerken. Alle heutigen Verfassungen seien schon
einmal oder schon öfter dagewesen. Sie seien allesamt nur Variationen und
Kombinationen zweier Urtypen. Der eine werde durch das (im dreizehnten
Jahrhundert zerstörte) Reich der Wolgabulgaren dargestellt, wo die Regierung
jeden Hunger ließ, der Geist verriet, der andre finde sich in dem nubischen
Staate Fasogl, wo, wenn man mit dem König nicht mehr zufrieden ist, seine
vornehmsten Unterthanen kommen und ihm sagen: Du gefällst den Männern,
den Weibern, den Kindern, den Ochsen und den Eseln nicht mehr, mache, daß
du fortkommst aus dieser Welt.

Wie die Leser wissen, glauben wir nicht an ein objektives Ziel der Ent¬
wicklung der Menschheit, sondern nur an subjektive Ziele, d. h. die Verände¬
rungen der menschlichen Gesellschaft und die Kulturfortschritte haben nicht den
Zweck, einen Zustand herbeizuführen, der das an sich Wertvolle wäre, sondern
sie sind nur die Mittel, den Menschen jeder Zeit zur Erreichung ihrer Lebens¬
zwecke: zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit und zur Begründung ihres Glücks
zu verhelfen. In wie weit diese Einzelzwecke erreicht werden, läßt sich nicht
erforschen, da kein Forscher in alle Einzelseelen eindringen kann, und das wäre
notwendig, wenn man eine Glücksbilanz ziehen wollte, wie sie die Pessimisten
zu ziehen sich herausnehmen. Oberflächlich betrachtet, sieht allerdings auch
nach Gobineau das Menschenleben trostlos aus. „Armselige Menschheit, ruft er
S. 218, sie hat es nie dahin gebracht, ein Mittel ausfindig zu machen, alle Welt
zu kleiden und alle Welt vor Durst und Hunger zu schützen. Gewiß weiß der ge¬
ringste der Wilden mehr als die Tiere; aber die Tiere kennen das, was ihnen nütz¬
lich ist, und wir kennen es nicht. Sie bleiben dabei, und wir können es nicht fest¬
halten, wenn wir es ja einmal entdeckt haben. Sie sind in normalen Zeiten stets
durch ihre Instinkte dessen gewiß, daß sie das notwendige finden. Wir dagegen
sehen zahlreiche Horden, die seit Anbeginn der Jahrhunderte aus einem un¬
sichern und leidenden Zustande nicht herauszukommen vermocht haben. Inso¬
weit nur das irdische Wohlbefinden in Frage kommt, haben wir vor den Tieren
nichts voraus, nichts, als einen Horizont, der eine weitere Überschau gewährt,


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[0454] Die Theorie des Grafen Gobineau die Zivilisation, und diese nimmt keineswegs in demselben Maße ab und zu wie die Güte des Charakters. In Beziehung auf die höchsten Fragen der Menschheit, die metaphysischen, hat es auch nach Gobineau die heutige Menschheit noch keinen Schritt weiter gebracht als die ältesten Weisen. Und in Beziehung auf den technischen Fort¬ schritt weist er auf die Thatsache hin, daß er vielfach nur eine mechanische Fortbewegung in dem Geleise ist, das ein bahnbrechender Geist eingeschlagen hat. Alle Errungenschaften der modernen Technik sind vortreffliche Werkzeuge, aber ihr Nutzen hängt ganz und gar von der Beschaffenheit derer ab, die sie gebrauchen; das gelte ganz besonders vom Buch- und Zeitungsdruck, der weit weniger zur Förderung höherer Kultur als zur Förderung von Interessen benützt werde; die Presse leiste vor allem „Tagesdienst." Auch in der Politik sei von Fortschritt nichts zu bemerken. Alle heutigen Verfassungen seien schon einmal oder schon öfter dagewesen. Sie seien allesamt nur Variationen und Kombinationen zweier Urtypen. Der eine werde durch das (im dreizehnten Jahrhundert zerstörte) Reich der Wolgabulgaren dargestellt, wo die Regierung jeden Hunger ließ, der Geist verriet, der andre finde sich in dem nubischen Staate Fasogl, wo, wenn man mit dem König nicht mehr zufrieden ist, seine vornehmsten Unterthanen kommen und ihm sagen: Du gefällst den Männern, den Weibern, den Kindern, den Ochsen und den Eseln nicht mehr, mache, daß du fortkommst aus dieser Welt. Wie die Leser wissen, glauben wir nicht an ein objektives Ziel der Ent¬ wicklung der Menschheit, sondern nur an subjektive Ziele, d. h. die Verände¬ rungen der menschlichen Gesellschaft und die Kulturfortschritte haben nicht den Zweck, einen Zustand herbeizuführen, der das an sich Wertvolle wäre, sondern sie sind nur die Mittel, den Menschen jeder Zeit zur Erreichung ihrer Lebens¬ zwecke: zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit und zur Begründung ihres Glücks zu verhelfen. In wie weit diese Einzelzwecke erreicht werden, läßt sich nicht erforschen, da kein Forscher in alle Einzelseelen eindringen kann, und das wäre notwendig, wenn man eine Glücksbilanz ziehen wollte, wie sie die Pessimisten zu ziehen sich herausnehmen. Oberflächlich betrachtet, sieht allerdings auch nach Gobineau das Menschenleben trostlos aus. „Armselige Menschheit, ruft er S. 218, sie hat es nie dahin gebracht, ein Mittel ausfindig zu machen, alle Welt zu kleiden und alle Welt vor Durst und Hunger zu schützen. Gewiß weiß der ge¬ ringste der Wilden mehr als die Tiere; aber die Tiere kennen das, was ihnen nütz¬ lich ist, und wir kennen es nicht. Sie bleiben dabei, und wir können es nicht fest¬ halten, wenn wir es ja einmal entdeckt haben. Sie sind in normalen Zeiten stets durch ihre Instinkte dessen gewiß, daß sie das notwendige finden. Wir dagegen sehen zahlreiche Horden, die seit Anbeginn der Jahrhunderte aus einem un¬ sichern und leidenden Zustande nicht herauszukommen vermocht haben. Inso¬ weit nur das irdische Wohlbefinden in Frage kommt, haben wir vor den Tieren nichts voraus, nichts, als einen Horizont, der eine weitere Überschau gewährt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/454>, abgerufen am 28.07.2024.