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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Nie Theorie des Grafen Gobineau

Was der Gesundheit der Seele schadet, ist ihm an allem übrigen in keiner
Weise gelegen. Es läßt die Chinesen mit ihren Gewändern, die Eskimos mit
ihren Pelzen, jene Reis, diese Walsischspcck essen, ganz wie es sie gefunden
hat, und legt keinerlei Wert darauf, daß sie eine andre Lebensweise annehmen.
Wenn der Zustand dieser Völker eine dem eignen Wesen entsprechende Ver¬
besserung verträgt, so wird das Christentum gewiß darauf aus sein, sie herbei¬
zuführen; aber es wird die Gewohnheiten, die es zuerst angetroffen hat, nicht
ganz und gar ändern und nicht den Übergang von einer Zivilisation zur
andern erzwingen, denn.es hat deren keine angenommen; es bedient sich ihrer
aller und steht über allen." Nie habe er "die ganz moderne Lehre begriffen,
die darauf hinausläuft, das Gesetz Christi derart mit den Interessen dieser
Welt zusammen zu werfen, daß man eine angebliche Ordnung der Dinge, ge¬
nannt christliche Zivilisation, daraus hervorgehen läßt." Dagegen gebe es
unzweifelhaft heidnische Zivilisationen, denn bei den alten Ägyptern, den Indern
und den meisten übrigen Heidcnvölkern fielen eben Religion und Zivilisation
in eins zusammen.

Für die Behauptung, daß die Zivilisation nur quantitativ fortschreite,
bringt Gobineau ungefähr dieselben Beweisstücke bei, auf die auch wir uns oft
berufen haben. Er erinnert u. a. an Athen, von dem wir wohl schon all¬
zuoft gesprochen haben, und an Ciceros Briefe. In der That, mau denke sich,
daß durch reinen Zufall eine aus 877 Stücken bestehende, von keinem Freunde
und Verehrer gesichtete und zurecht gemachte Korrespondenz irgend eines be¬
deutenden Mannes unsrer Zeit auf die Nachwelt komme, es wird sich doch
fragen, ob sie so vollkommen wie diese dem höchsten Begriff der Kultur ent¬
sprechen würde: so wenig Klatsch, Skandal und leeres Gerede, so viel wert¬
volle Gedanken, so viel Sorge um das Gemeinwohl, so viel Zeugnisse eines
auf Erkenntnis der höchsten Dinge und auf Herzensbildung gerichteten Strebens,
soviel Beziehungen edelster Freundschaft zu wackern Männern, solche Zartheit
der Empfindung und Feinheit des Tales, die sich in der Behandlung von
Freundschafts- und Familienverhältnissen verrät, die der Erziehung des Sohnes
und des Neffen zugewandte liebreiche Fürsorge, der untröstliche Schmerz über
den Tod einer innig geliebten Tochter und der von wahrer Seelengröße
zeugende Trostbrief des Freundes (Servius Sulpicius), das schöne Verhältnis
zur Dienerschaft und die anhaltende Fürsorge sür erkrankte Diener, dazu die
Mäßigung und Höflichkeit in der Erörterung zum Teil peinlicher Angelegen¬
heiten mit politischen und persönlichen Gegnern, der geistreiche Scherz und die
Anmut, die die Lektüre angenehm machen, und -- der korrekte Bau jedes ein¬
zelnen Satzes -- eine solche Vereinigung von Vollkommenheiten wird ein
Manu unsrer Zeit nicht leicht zustande bringen, auch wenn er mit Rücksicht
darauf schreibt, daß seine Briefe einmal werden gedruckt werden. Gewiß,
Ciceros Charakter zeigt Schattenseiten -- Mommsen hat sie übertreibend hervor¬
gehoben --, aber es handelt sich hier nicht um den Charakter, sondern um


Nie Theorie des Grafen Gobineau

Was der Gesundheit der Seele schadet, ist ihm an allem übrigen in keiner
Weise gelegen. Es läßt die Chinesen mit ihren Gewändern, die Eskimos mit
ihren Pelzen, jene Reis, diese Walsischspcck essen, ganz wie es sie gefunden
hat, und legt keinerlei Wert darauf, daß sie eine andre Lebensweise annehmen.
Wenn der Zustand dieser Völker eine dem eignen Wesen entsprechende Ver¬
besserung verträgt, so wird das Christentum gewiß darauf aus sein, sie herbei¬
zuführen; aber es wird die Gewohnheiten, die es zuerst angetroffen hat, nicht
ganz und gar ändern und nicht den Übergang von einer Zivilisation zur
andern erzwingen, denn.es hat deren keine angenommen; es bedient sich ihrer
aller und steht über allen." Nie habe er „die ganz moderne Lehre begriffen,
die darauf hinausläuft, das Gesetz Christi derart mit den Interessen dieser
Welt zusammen zu werfen, daß man eine angebliche Ordnung der Dinge, ge¬
nannt christliche Zivilisation, daraus hervorgehen läßt." Dagegen gebe es
unzweifelhaft heidnische Zivilisationen, denn bei den alten Ägyptern, den Indern
und den meisten übrigen Heidcnvölkern fielen eben Religion und Zivilisation
in eins zusammen.

Für die Behauptung, daß die Zivilisation nur quantitativ fortschreite,
bringt Gobineau ungefähr dieselben Beweisstücke bei, auf die auch wir uns oft
berufen haben. Er erinnert u. a. an Athen, von dem wir wohl schon all¬
zuoft gesprochen haben, und an Ciceros Briefe. In der That, mau denke sich,
daß durch reinen Zufall eine aus 877 Stücken bestehende, von keinem Freunde
und Verehrer gesichtete und zurecht gemachte Korrespondenz irgend eines be¬
deutenden Mannes unsrer Zeit auf die Nachwelt komme, es wird sich doch
fragen, ob sie so vollkommen wie diese dem höchsten Begriff der Kultur ent¬
sprechen würde: so wenig Klatsch, Skandal und leeres Gerede, so viel wert¬
volle Gedanken, so viel Sorge um das Gemeinwohl, so viel Zeugnisse eines
auf Erkenntnis der höchsten Dinge und auf Herzensbildung gerichteten Strebens,
soviel Beziehungen edelster Freundschaft zu wackern Männern, solche Zartheit
der Empfindung und Feinheit des Tales, die sich in der Behandlung von
Freundschafts- und Familienverhältnissen verrät, die der Erziehung des Sohnes
und des Neffen zugewandte liebreiche Fürsorge, der untröstliche Schmerz über
den Tod einer innig geliebten Tochter und der von wahrer Seelengröße
zeugende Trostbrief des Freundes (Servius Sulpicius), das schöne Verhältnis
zur Dienerschaft und die anhaltende Fürsorge sür erkrankte Diener, dazu die
Mäßigung und Höflichkeit in der Erörterung zum Teil peinlicher Angelegen¬
heiten mit politischen und persönlichen Gegnern, der geistreiche Scherz und die
Anmut, die die Lektüre angenehm machen, und — der korrekte Bau jedes ein¬
zelnen Satzes — eine solche Vereinigung von Vollkommenheiten wird ein
Manu unsrer Zeit nicht leicht zustande bringen, auch wenn er mit Rücksicht
darauf schreibt, daß seine Briefe einmal werden gedruckt werden. Gewiß,
Ciceros Charakter zeigt Schattenseiten — Mommsen hat sie übertreibend hervor¬
gehoben —, aber es handelt sich hier nicht um den Charakter, sondern um


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[0453] Nie Theorie des Grafen Gobineau Was der Gesundheit der Seele schadet, ist ihm an allem übrigen in keiner Weise gelegen. Es läßt die Chinesen mit ihren Gewändern, die Eskimos mit ihren Pelzen, jene Reis, diese Walsischspcck essen, ganz wie es sie gefunden hat, und legt keinerlei Wert darauf, daß sie eine andre Lebensweise annehmen. Wenn der Zustand dieser Völker eine dem eignen Wesen entsprechende Ver¬ besserung verträgt, so wird das Christentum gewiß darauf aus sein, sie herbei¬ zuführen; aber es wird die Gewohnheiten, die es zuerst angetroffen hat, nicht ganz und gar ändern und nicht den Übergang von einer Zivilisation zur andern erzwingen, denn.es hat deren keine angenommen; es bedient sich ihrer aller und steht über allen." Nie habe er „die ganz moderne Lehre begriffen, die darauf hinausläuft, das Gesetz Christi derart mit den Interessen dieser Welt zusammen zu werfen, daß man eine angebliche Ordnung der Dinge, ge¬ nannt christliche Zivilisation, daraus hervorgehen läßt." Dagegen gebe es unzweifelhaft heidnische Zivilisationen, denn bei den alten Ägyptern, den Indern und den meisten übrigen Heidcnvölkern fielen eben Religion und Zivilisation in eins zusammen. Für die Behauptung, daß die Zivilisation nur quantitativ fortschreite, bringt Gobineau ungefähr dieselben Beweisstücke bei, auf die auch wir uns oft berufen haben. Er erinnert u. a. an Athen, von dem wir wohl schon all¬ zuoft gesprochen haben, und an Ciceros Briefe. In der That, mau denke sich, daß durch reinen Zufall eine aus 877 Stücken bestehende, von keinem Freunde und Verehrer gesichtete und zurecht gemachte Korrespondenz irgend eines be¬ deutenden Mannes unsrer Zeit auf die Nachwelt komme, es wird sich doch fragen, ob sie so vollkommen wie diese dem höchsten Begriff der Kultur ent¬ sprechen würde: so wenig Klatsch, Skandal und leeres Gerede, so viel wert¬ volle Gedanken, so viel Sorge um das Gemeinwohl, so viel Zeugnisse eines auf Erkenntnis der höchsten Dinge und auf Herzensbildung gerichteten Strebens, soviel Beziehungen edelster Freundschaft zu wackern Männern, solche Zartheit der Empfindung und Feinheit des Tales, die sich in der Behandlung von Freundschafts- und Familienverhältnissen verrät, die der Erziehung des Sohnes und des Neffen zugewandte liebreiche Fürsorge, der untröstliche Schmerz über den Tod einer innig geliebten Tochter und der von wahrer Seelengröße zeugende Trostbrief des Freundes (Servius Sulpicius), das schöne Verhältnis zur Dienerschaft und die anhaltende Fürsorge sür erkrankte Diener, dazu die Mäßigung und Höflichkeit in der Erörterung zum Teil peinlicher Angelegen¬ heiten mit politischen und persönlichen Gegnern, der geistreiche Scherz und die Anmut, die die Lektüre angenehm machen, und — der korrekte Bau jedes ein¬ zelnen Satzes — eine solche Vereinigung von Vollkommenheiten wird ein Manu unsrer Zeit nicht leicht zustande bringen, auch wenn er mit Rücksicht darauf schreibt, daß seine Briefe einmal werden gedruckt werden. Gewiß, Ciceros Charakter zeigt Schattenseiten — Mommsen hat sie übertreibend hervor¬ gehoben —, aber es handelt sich hier nicht um den Charakter, sondern um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/453>, abgerufen am 28.07.2024.