Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Volkskonzerte

gewöhnlich wird, aber nie leere Worte drechselt. Auch die so übel berufnen
Potpourris wollen wir unserm Volke gönnen. Es giebt freche darunter,
aber in der Mehrzahl haben sie den Vorzug, daß sie mit schönen Melodien
die Phantasie anregen und in ihrer Form kurzweilig und witzig sind. Es
wird gut sein, dem Volke diese Gartenkonzerte, die häufig zugleich als Tafel¬
musiken dienen, zu lassen und ihm Musik, wie es sie hier hört, öfters und unent¬
geltlich zu bieten. Die Militärbehörden sind da mit gutem Beispiel voran¬
gegangen und lassen die Negimentsmusiken, die schon von den Wachtparaden
und von den Märschen dnrch die Straßen her bei der Menge einen großen
Stein im Brett haben, jetzt auch hie und da zu bestimmten Stunden in der
Woche auf Plätzen und im Freien aufspielen. Früher hielten die Gemeinden
für diesen Zweck mit die "Stadtpfeifereien." In einzelnen sächsischen Städten
findet man noch heute Reste ihrer ehemaligen Thätigkeit erhalten: früh, mittags
und abends wird vom Kirchtum geblasen, an geeigneten Tagen auch vom Nat-
hausbalkvn der Menge mit Choral und Tanzstücken aufgewartet. Auch für die
Gesangmusik war in ähnlicher Weise gesorgt. Noch Anfang der sechziger Jahre
hielt der Dresdner Kreuzchvr mehrmals in der Woche "Kurrenden" dnrch die
Straßen der Residenz. In kleinern Städten des Erzgebirges und Thüringens
existiren die Kurrenden heute noch und pflegen auch den weltlichen Chorgesang.
Es würde keine zu großen Schwierigkeiten verursachen, aus diesen Spuren die
alten Wege wieder zu gewinnen. Die Summen, die aufzuwenden wären, sind
gering und stehen in gar keinem Verhältnis zu dem sittlichen und geistigen
Ertrag dieser Kulturausgaben. Weil das Mittelalter die Pflege der Kunst
als einen Teil der Seelsorge ansah, war es so färben- und tonfreudig. Heute
sind wir mit unsrer Bildnerei in die Museen gezogen, mit unsrer Musik in die
Säle; unsre Plätze und Straßen sind leer, kahl und tonarm geworden. Anders
in Italien und, was die Musik betrifft, auch in England, das wohl überhaupt
für die Tonkunst eines Tages wieder wichtig werden wird, so wie es das im
sechzehnten Jahrhundert gewesen ist, wo auch in unsern Kantoreien und Kur¬
renden englische Madrigale gesungen wurden. Es muß dem Volke wieder mehr
öffentliche Musik, mehr Musik im Freien geboten werden! Das veränderte
Verkehrsleben, der Lärm der Straßen erschwert die Durchführung dieser
Forderung in den Großstädten, aber er macht sie nicht unmöglich -- in den
kleinern ist dieses Hindernis nicht vorhanden. Die Musik muß ihm, soweit
angängig, wieder wie früher vor die Häuser, in seine Höfe gebracht werden.
Solche Volkskonzerte bereiten ihm heute nur die Leiermänner. Gartenkonzerte,
wie sie heute üblich sind, "Aufwartungen" -- um das alte Wort zu ge¬
brauchen --, musikalische Aufwartungen im Freien sind die natürlichsten
Formen für Volkskonzerte.

Unsre Volkskonzerte brauchen also keine Nachahmungen der sogenannten
Abonnementkonzerte und ihres Kultus anspruchsvoller und unverständlicher


Volkskonzerte

gewöhnlich wird, aber nie leere Worte drechselt. Auch die so übel berufnen
Potpourris wollen wir unserm Volke gönnen. Es giebt freche darunter,
aber in der Mehrzahl haben sie den Vorzug, daß sie mit schönen Melodien
die Phantasie anregen und in ihrer Form kurzweilig und witzig sind. Es
wird gut sein, dem Volke diese Gartenkonzerte, die häufig zugleich als Tafel¬
musiken dienen, zu lassen und ihm Musik, wie es sie hier hört, öfters und unent¬
geltlich zu bieten. Die Militärbehörden sind da mit gutem Beispiel voran¬
gegangen und lassen die Negimentsmusiken, die schon von den Wachtparaden
und von den Märschen dnrch die Straßen her bei der Menge einen großen
Stein im Brett haben, jetzt auch hie und da zu bestimmten Stunden in der
Woche auf Plätzen und im Freien aufspielen. Früher hielten die Gemeinden
für diesen Zweck mit die „Stadtpfeifereien." In einzelnen sächsischen Städten
findet man noch heute Reste ihrer ehemaligen Thätigkeit erhalten: früh, mittags
und abends wird vom Kirchtum geblasen, an geeigneten Tagen auch vom Nat-
hausbalkvn der Menge mit Choral und Tanzstücken aufgewartet. Auch für die
Gesangmusik war in ähnlicher Weise gesorgt. Noch Anfang der sechziger Jahre
hielt der Dresdner Kreuzchvr mehrmals in der Woche „Kurrenden" dnrch die
Straßen der Residenz. In kleinern Städten des Erzgebirges und Thüringens
existiren die Kurrenden heute noch und pflegen auch den weltlichen Chorgesang.
Es würde keine zu großen Schwierigkeiten verursachen, aus diesen Spuren die
alten Wege wieder zu gewinnen. Die Summen, die aufzuwenden wären, sind
gering und stehen in gar keinem Verhältnis zu dem sittlichen und geistigen
Ertrag dieser Kulturausgaben. Weil das Mittelalter die Pflege der Kunst
als einen Teil der Seelsorge ansah, war es so färben- und tonfreudig. Heute
sind wir mit unsrer Bildnerei in die Museen gezogen, mit unsrer Musik in die
Säle; unsre Plätze und Straßen sind leer, kahl und tonarm geworden. Anders
in Italien und, was die Musik betrifft, auch in England, das wohl überhaupt
für die Tonkunst eines Tages wieder wichtig werden wird, so wie es das im
sechzehnten Jahrhundert gewesen ist, wo auch in unsern Kantoreien und Kur¬
renden englische Madrigale gesungen wurden. Es muß dem Volke wieder mehr
öffentliche Musik, mehr Musik im Freien geboten werden! Das veränderte
Verkehrsleben, der Lärm der Straßen erschwert die Durchführung dieser
Forderung in den Großstädten, aber er macht sie nicht unmöglich — in den
kleinern ist dieses Hindernis nicht vorhanden. Die Musik muß ihm, soweit
angängig, wieder wie früher vor die Häuser, in seine Höfe gebracht werden.
Solche Volkskonzerte bereiten ihm heute nur die Leiermänner. Gartenkonzerte,
wie sie heute üblich sind, „Aufwartungen" — um das alte Wort zu ge¬
brauchen —, musikalische Aufwartungen im Freien sind die natürlichsten
Formen für Volkskonzerte.

Unsre Volkskonzerte brauchen also keine Nachahmungen der sogenannten
Abonnementkonzerte und ihres Kultus anspruchsvoller und unverständlicher


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0044" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228346"/>
          <fw type="header" place="top"> Volkskonzerte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_109" prev="#ID_108"> gewöhnlich wird, aber nie leere Worte drechselt. Auch die so übel berufnen<lb/>
Potpourris wollen wir unserm Volke gönnen. Es giebt freche darunter,<lb/>
aber in der Mehrzahl haben sie den Vorzug, daß sie mit schönen Melodien<lb/>
die Phantasie anregen und in ihrer Form kurzweilig und witzig sind. Es<lb/>
wird gut sein, dem Volke diese Gartenkonzerte, die häufig zugleich als Tafel¬<lb/>
musiken dienen, zu lassen und ihm Musik, wie es sie hier hört, öfters und unent¬<lb/>
geltlich zu bieten. Die Militärbehörden sind da mit gutem Beispiel voran¬<lb/>
gegangen und lassen die Negimentsmusiken, die schon von den Wachtparaden<lb/>
und von den Märschen dnrch die Straßen her bei der Menge einen großen<lb/>
Stein im Brett haben, jetzt auch hie und da zu bestimmten Stunden in der<lb/>
Woche auf Plätzen und im Freien aufspielen. Früher hielten die Gemeinden<lb/>
für diesen Zweck mit die &#x201E;Stadtpfeifereien." In einzelnen sächsischen Städten<lb/>
findet man noch heute Reste ihrer ehemaligen Thätigkeit erhalten: früh, mittags<lb/>
und abends wird vom Kirchtum geblasen, an geeigneten Tagen auch vom Nat-<lb/>
hausbalkvn der Menge mit Choral und Tanzstücken aufgewartet. Auch für die<lb/>
Gesangmusik war in ähnlicher Weise gesorgt. Noch Anfang der sechziger Jahre<lb/>
hielt der Dresdner Kreuzchvr mehrmals in der Woche &#x201E;Kurrenden" dnrch die<lb/>
Straßen der Residenz. In kleinern Städten des Erzgebirges und Thüringens<lb/>
existiren die Kurrenden heute noch und pflegen auch den weltlichen Chorgesang.<lb/>
Es würde keine zu großen Schwierigkeiten verursachen, aus diesen Spuren die<lb/>
alten Wege wieder zu gewinnen. Die Summen, die aufzuwenden wären, sind<lb/>
gering und stehen in gar keinem Verhältnis zu dem sittlichen und geistigen<lb/>
Ertrag dieser Kulturausgaben. Weil das Mittelalter die Pflege der Kunst<lb/>
als einen Teil der Seelsorge ansah, war es so färben- und tonfreudig. Heute<lb/>
sind wir mit unsrer Bildnerei in die Museen gezogen, mit unsrer Musik in die<lb/>
Säle; unsre Plätze und Straßen sind leer, kahl und tonarm geworden. Anders<lb/>
in Italien und, was die Musik betrifft, auch in England, das wohl überhaupt<lb/>
für die Tonkunst eines Tages wieder wichtig werden wird, so wie es das im<lb/>
sechzehnten Jahrhundert gewesen ist, wo auch in unsern Kantoreien und Kur¬<lb/>
renden englische Madrigale gesungen wurden. Es muß dem Volke wieder mehr<lb/>
öffentliche Musik, mehr Musik im Freien geboten werden! Das veränderte<lb/>
Verkehrsleben, der Lärm der Straßen erschwert die Durchführung dieser<lb/>
Forderung in den Großstädten, aber er macht sie nicht unmöglich &#x2014; in den<lb/>
kleinern ist dieses Hindernis nicht vorhanden. Die Musik muß ihm, soweit<lb/>
angängig, wieder wie früher vor die Häuser, in seine Höfe gebracht werden.<lb/>
Solche Volkskonzerte bereiten ihm heute nur die Leiermänner. Gartenkonzerte,<lb/>
wie sie heute üblich sind, &#x201E;Aufwartungen" &#x2014; um das alte Wort zu ge¬<lb/>
brauchen &#x2014;, musikalische Aufwartungen im Freien sind die natürlichsten<lb/>
Formen für Volkskonzerte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_110" next="#ID_111"> Unsre Volkskonzerte brauchen also keine Nachahmungen der sogenannten<lb/>
Abonnementkonzerte und ihres Kultus anspruchsvoller und unverständlicher</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0044] Volkskonzerte gewöhnlich wird, aber nie leere Worte drechselt. Auch die so übel berufnen Potpourris wollen wir unserm Volke gönnen. Es giebt freche darunter, aber in der Mehrzahl haben sie den Vorzug, daß sie mit schönen Melodien die Phantasie anregen und in ihrer Form kurzweilig und witzig sind. Es wird gut sein, dem Volke diese Gartenkonzerte, die häufig zugleich als Tafel¬ musiken dienen, zu lassen und ihm Musik, wie es sie hier hört, öfters und unent¬ geltlich zu bieten. Die Militärbehörden sind da mit gutem Beispiel voran¬ gegangen und lassen die Negimentsmusiken, die schon von den Wachtparaden und von den Märschen dnrch die Straßen her bei der Menge einen großen Stein im Brett haben, jetzt auch hie und da zu bestimmten Stunden in der Woche auf Plätzen und im Freien aufspielen. Früher hielten die Gemeinden für diesen Zweck mit die „Stadtpfeifereien." In einzelnen sächsischen Städten findet man noch heute Reste ihrer ehemaligen Thätigkeit erhalten: früh, mittags und abends wird vom Kirchtum geblasen, an geeigneten Tagen auch vom Nat- hausbalkvn der Menge mit Choral und Tanzstücken aufgewartet. Auch für die Gesangmusik war in ähnlicher Weise gesorgt. Noch Anfang der sechziger Jahre hielt der Dresdner Kreuzchvr mehrmals in der Woche „Kurrenden" dnrch die Straßen der Residenz. In kleinern Städten des Erzgebirges und Thüringens existiren die Kurrenden heute noch und pflegen auch den weltlichen Chorgesang. Es würde keine zu großen Schwierigkeiten verursachen, aus diesen Spuren die alten Wege wieder zu gewinnen. Die Summen, die aufzuwenden wären, sind gering und stehen in gar keinem Verhältnis zu dem sittlichen und geistigen Ertrag dieser Kulturausgaben. Weil das Mittelalter die Pflege der Kunst als einen Teil der Seelsorge ansah, war es so färben- und tonfreudig. Heute sind wir mit unsrer Bildnerei in die Museen gezogen, mit unsrer Musik in die Säle; unsre Plätze und Straßen sind leer, kahl und tonarm geworden. Anders in Italien und, was die Musik betrifft, auch in England, das wohl überhaupt für die Tonkunst eines Tages wieder wichtig werden wird, so wie es das im sechzehnten Jahrhundert gewesen ist, wo auch in unsern Kantoreien und Kur¬ renden englische Madrigale gesungen wurden. Es muß dem Volke wieder mehr öffentliche Musik, mehr Musik im Freien geboten werden! Das veränderte Verkehrsleben, der Lärm der Straßen erschwert die Durchführung dieser Forderung in den Großstädten, aber er macht sie nicht unmöglich — in den kleinern ist dieses Hindernis nicht vorhanden. Die Musik muß ihm, soweit angängig, wieder wie früher vor die Häuser, in seine Höfe gebracht werden. Solche Volkskonzerte bereiten ihm heute nur die Leiermänner. Gartenkonzerte, wie sie heute üblich sind, „Aufwartungen" — um das alte Wort zu ge¬ brauchen —, musikalische Aufwartungen im Freien sind die natürlichsten Formen für Volkskonzerte. Unsre Volkskonzerte brauchen also keine Nachahmungen der sogenannten Abonnementkonzerte und ihres Kultus anspruchsvoller und unverständlicher

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/44
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/44>, abgerufen am 01.09.2024.