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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Frühlingstage am Garigliano

gesetzt, in Italien hat die zentralistische Bewegung gesiegt. Es wäre vielleicht
für Italien, das so große Unterschiede der Kultur zwischen Norden und Süden
zeigt, besser gewesen, wenn die Einzelregierungen unter der militärischen und
diplomatischen Leitung des Hauses Savoyen irgendwie erhalten wären, indessen
ist es ja fraglich, ob dies überhaupt möglich gewesen wäre; jedenfalls fehlen
aber jetzt in dem langgestreckten Lande die Zentren wirtschaftlicher Fürsorge,
die Deutschland in seinen Einzelregierungen hat.

Die darauf gerichteten Bestrebungen des Königshauses aber erlitten manche
Störung, einmal durch die parlamentarische Regierungsform, die jede durch¬
greifende Umgestaltung der den herrschenden Klassen günstigen Verhältnisse zu
hintertreiben wußte, zum andern durch die dem ganzen Volke anhaftende Eitel¬
keit, die von vornherein in der auswärtigen Politik des neuen Staates Früchte
pflücken wollte, ehe die natürliche Aussaat wirtschaftlicher Kraft gethan war.
Eine Überspannung der Leistungen für Heer und Flotte und infolgedessen ein
ungeheures Anwachsen der Staatsschuld war eine Folge davon.

Unter solchen Verhältnissen werden wir uns nicht wundern, daß von
einer staatlichen Fürsorge für den Arbeiter in Italien nicht die Rede ist. Es
giebt weder Altersrente noch Jnvalidenpcnsion noch staatliche Krankenkassen.
Auffallender ist es, daß auch keine Verpflichtung der Gemeinden besteht, für
ihre Armen in genügender Weise zu sorgen. Eine Uuterstützungswohnsitz-
berechtigung wird man in Italien vergebens suchen. Wer arm und krank und
elend wird, liegt auf der Straße, falls er nicht in irgend einer Wohlthätig¬
keitsanstalt ein Asyl findet. Wahrlich, für unsre Sozialdemokraten wüßte ich
keine bessere Kur, als wenn sie einmal einige Monate im Neapolitanischen
arbeiten müßten! Zu alledem kommt noch der niedrige Stand der Schulbil¬
dung. In ganz Italien giebt es 67 Prozent Analphabeten, im ehemaligen
Königreich Neapel steigt diese furchtbare Ziffer auf 79,5 Prozent.

Doch genug der trüben Bilder. Wer aber zeigt den Ausweg aus all
dieser Not? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein, zuerst die negative:
sicherlich nicht die Kirche. Denn es widerspricht dem Geiste des italienischen
Katholizismus, für Volksbildung zü sorgen und etwas ähnliches zu schaffen
wie das Werk der innern Mission im deutscheu Protestantismus; ein Teil des
Klerus, und zwar der obersten geistlichen Kreise, freut sich sogar über die Ver¬
legenheiten des Staats. Deshalb liegt die Möglichkeit der Rettung einzig und
allein in einem starken Königtum. Ein solches ist auch in dem jetzt parlamen¬
tarisch regierten Italien möglich ohne Veränderung des Wortlauts der Ver¬
fassung, wenn nur der König selbst von der Notwendigkeit einer durchgreifenden
wirtschaftlichen Reform überzeugt ist. Die modernen Brutus und Cassius, die
hochtönende Worte von Freiheit und Volkswohlfahrt im Munde führen und
dabei vor allem darauf bedacht sind, die eignen Taschen zu füllen, werden
natürlich ein großes Geschrei erheben, aber der gute Kern des Volkes wird


Frühlingstage am Garigliano

gesetzt, in Italien hat die zentralistische Bewegung gesiegt. Es wäre vielleicht
für Italien, das so große Unterschiede der Kultur zwischen Norden und Süden
zeigt, besser gewesen, wenn die Einzelregierungen unter der militärischen und
diplomatischen Leitung des Hauses Savoyen irgendwie erhalten wären, indessen
ist es ja fraglich, ob dies überhaupt möglich gewesen wäre; jedenfalls fehlen
aber jetzt in dem langgestreckten Lande die Zentren wirtschaftlicher Fürsorge,
die Deutschland in seinen Einzelregierungen hat.

Die darauf gerichteten Bestrebungen des Königshauses aber erlitten manche
Störung, einmal durch die parlamentarische Regierungsform, die jede durch¬
greifende Umgestaltung der den herrschenden Klassen günstigen Verhältnisse zu
hintertreiben wußte, zum andern durch die dem ganzen Volke anhaftende Eitel¬
keit, die von vornherein in der auswärtigen Politik des neuen Staates Früchte
pflücken wollte, ehe die natürliche Aussaat wirtschaftlicher Kraft gethan war.
Eine Überspannung der Leistungen für Heer und Flotte und infolgedessen ein
ungeheures Anwachsen der Staatsschuld war eine Folge davon.

Unter solchen Verhältnissen werden wir uns nicht wundern, daß von
einer staatlichen Fürsorge für den Arbeiter in Italien nicht die Rede ist. Es
giebt weder Altersrente noch Jnvalidenpcnsion noch staatliche Krankenkassen.
Auffallender ist es, daß auch keine Verpflichtung der Gemeinden besteht, für
ihre Armen in genügender Weise zu sorgen. Eine Uuterstützungswohnsitz-
berechtigung wird man in Italien vergebens suchen. Wer arm und krank und
elend wird, liegt auf der Straße, falls er nicht in irgend einer Wohlthätig¬
keitsanstalt ein Asyl findet. Wahrlich, für unsre Sozialdemokraten wüßte ich
keine bessere Kur, als wenn sie einmal einige Monate im Neapolitanischen
arbeiten müßten! Zu alledem kommt noch der niedrige Stand der Schulbil¬
dung. In ganz Italien giebt es 67 Prozent Analphabeten, im ehemaligen
Königreich Neapel steigt diese furchtbare Ziffer auf 79,5 Prozent.

Doch genug der trüben Bilder. Wer aber zeigt den Ausweg aus all
dieser Not? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein, zuerst die negative:
sicherlich nicht die Kirche. Denn es widerspricht dem Geiste des italienischen
Katholizismus, für Volksbildung zü sorgen und etwas ähnliches zu schaffen
wie das Werk der innern Mission im deutscheu Protestantismus; ein Teil des
Klerus, und zwar der obersten geistlichen Kreise, freut sich sogar über die Ver¬
legenheiten des Staats. Deshalb liegt die Möglichkeit der Rettung einzig und
allein in einem starken Königtum. Ein solches ist auch in dem jetzt parlamen¬
tarisch regierten Italien möglich ohne Veränderung des Wortlauts der Ver¬
fassung, wenn nur der König selbst von der Notwendigkeit einer durchgreifenden
wirtschaftlichen Reform überzeugt ist. Die modernen Brutus und Cassius, die
hochtönende Worte von Freiheit und Volkswohlfahrt im Munde führen und
dabei vor allem darauf bedacht sind, die eignen Taschen zu füllen, werden
natürlich ein großes Geschrei erheben, aber der gute Kern des Volkes wird


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[0420] Frühlingstage am Garigliano gesetzt, in Italien hat die zentralistische Bewegung gesiegt. Es wäre vielleicht für Italien, das so große Unterschiede der Kultur zwischen Norden und Süden zeigt, besser gewesen, wenn die Einzelregierungen unter der militärischen und diplomatischen Leitung des Hauses Savoyen irgendwie erhalten wären, indessen ist es ja fraglich, ob dies überhaupt möglich gewesen wäre; jedenfalls fehlen aber jetzt in dem langgestreckten Lande die Zentren wirtschaftlicher Fürsorge, die Deutschland in seinen Einzelregierungen hat. Die darauf gerichteten Bestrebungen des Königshauses aber erlitten manche Störung, einmal durch die parlamentarische Regierungsform, die jede durch¬ greifende Umgestaltung der den herrschenden Klassen günstigen Verhältnisse zu hintertreiben wußte, zum andern durch die dem ganzen Volke anhaftende Eitel¬ keit, die von vornherein in der auswärtigen Politik des neuen Staates Früchte pflücken wollte, ehe die natürliche Aussaat wirtschaftlicher Kraft gethan war. Eine Überspannung der Leistungen für Heer und Flotte und infolgedessen ein ungeheures Anwachsen der Staatsschuld war eine Folge davon. Unter solchen Verhältnissen werden wir uns nicht wundern, daß von einer staatlichen Fürsorge für den Arbeiter in Italien nicht die Rede ist. Es giebt weder Altersrente noch Jnvalidenpcnsion noch staatliche Krankenkassen. Auffallender ist es, daß auch keine Verpflichtung der Gemeinden besteht, für ihre Armen in genügender Weise zu sorgen. Eine Uuterstützungswohnsitz- berechtigung wird man in Italien vergebens suchen. Wer arm und krank und elend wird, liegt auf der Straße, falls er nicht in irgend einer Wohlthätig¬ keitsanstalt ein Asyl findet. Wahrlich, für unsre Sozialdemokraten wüßte ich keine bessere Kur, als wenn sie einmal einige Monate im Neapolitanischen arbeiten müßten! Zu alledem kommt noch der niedrige Stand der Schulbil¬ dung. In ganz Italien giebt es 67 Prozent Analphabeten, im ehemaligen Königreich Neapel steigt diese furchtbare Ziffer auf 79,5 Prozent. Doch genug der trüben Bilder. Wer aber zeigt den Ausweg aus all dieser Not? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein, zuerst die negative: sicherlich nicht die Kirche. Denn es widerspricht dem Geiste des italienischen Katholizismus, für Volksbildung zü sorgen und etwas ähnliches zu schaffen wie das Werk der innern Mission im deutscheu Protestantismus; ein Teil des Klerus, und zwar der obersten geistlichen Kreise, freut sich sogar über die Ver¬ legenheiten des Staats. Deshalb liegt die Möglichkeit der Rettung einzig und allein in einem starken Königtum. Ein solches ist auch in dem jetzt parlamen¬ tarisch regierten Italien möglich ohne Veränderung des Wortlauts der Ver¬ fassung, wenn nur der König selbst von der Notwendigkeit einer durchgreifenden wirtschaftlichen Reform überzeugt ist. Die modernen Brutus und Cassius, die hochtönende Worte von Freiheit und Volkswohlfahrt im Munde führen und dabei vor allem darauf bedacht sind, die eignen Taschen zu füllen, werden natürlich ein großes Geschrei erheben, aber der gute Kern des Volkes wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/420>, abgerufen am 28.07.2024.