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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Frühlingstage am Garigliano

lag. Aus einer unter mir liegenden Kirche drang frommer Gesang durch die
sonntägliche Stille zu mir herauf und mischte sich mit dem Schmettern der
Lerchen in der blauen Luft. Am anmutigsten war die grüne Mulde, die sich
nach dem Liristhal hinunterzog; aus diesem hoben sich wieder sanftgeschwuugne,
mit Kastellen gekrönte Hügel und jenseits derselben höhere Bergzüge. Dieser
Vordergrund erinnerte mich an den Blick vom Erzgebirge in das Teplitzer
Thal, nur waren hier die Höhen gewaltiger. Denn man sieht im Norden den
ganzen Fels von Sora und die Berge des Liristhals bis Valsorcmo, im Westen
San Giovanni, Vcroli und Alatri. Die Ferne verhüllt zunächst weißes Gewölk,
aber auf einmal wird es vom Winde zerrissen, und das entzückte Auge schweift
bis zu den Schneebergen der Abruzzen.

Von jenen eisigen Höhen fiel mein Blick wieder auf die unter mir liegende
Stadt. Aber sonderbar, ich sah nicht das heutige, sondern das alte Arpinum.
Man schrieb den Tag vor den Kalenden des April im Jahre 49 v. Chr. Auf
dem Markte standen die Bürger im Schmucke der weißen Toga; denn ihr
großer Mitbürger, der Konsular Cicero verlieh nicht in Rom, sondern in ihrer
Mitte seinem einzigen Sohne Marcus das männliche Ehrenkleid (WZ-a virilis).
Sie lauschten andächtig seinen Worten in ernster Zeit, um so andächtiger, da
er wenige Tage zuvor unten in Formici dem siegreichen Cäsar mannhaft erklärt
hatte, daß er an der Vernichtung der bürgerlichen Freiheit Roms und Italiens
nicht mitarbeiten werde. Ich mußte jenes Arpinum mit diesem vergleichen.
Ob sich wohl Cicero auch als Bürger des heutigen Arpino mit Stolz be¬
kannt hätte? Ob die Kraft und der Gemeinsinn des heutigen Geschlechts von
Arpinum ein solches Riesenwerk aufzuführen vermöchte wie die cyklopischen
Mauern?

Solche Fragen stiegen in nur auf, und mit ihnen verknüpften sich alle
die schlimmen Eindrücke, die ich während meiner Reise von den gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Zustünden Italiens empfangen hatte. Ich gedachte der
Tausende von Bettlern, Blinden und Krüppeln, die ich allerorten, zumal in
den großen Städten angetroffen hatte, ich sah das hungernde Volk von Neapel
vor mir und die drohend geballten Fäuste der Weiber, ich gedachte der Sonn¬
tagsarbeit in den Fabriken, der Zinsbauern des Fürsten Torlvnia, der fleißigen
Dienstboten in Hotels und Pensionen, die über den empfangner Lohn mit drei
Kreuzen quittirten, da sie nicht einmal den eignen Namen schreiben konnten,
ich erinnerte mich an manche Unterhaltung mit Landleuten, Gewerbtreibenden,
Geschäftsreisenden, Gelehrten -- sie alle stimmten darin überein, daß ihr ge¬
liebtes Italien zwar ein schönes und fruchtbares, aber zum Teil recht un¬
glückliches Land sei. Namentlich stand mir ein angesehener Bürger einer Klein¬
stadt vor der Seele, der in den Kämpfen um die Einheit Italiens ehrenvolle
Narben und zahlreiche Orden davongetragen hatte und mir doch mit allein
Feuer südlicher Leidenschaft und mit einer vor Erregung zitternden Stimme


Frühlingstage am Garigliano

lag. Aus einer unter mir liegenden Kirche drang frommer Gesang durch die
sonntägliche Stille zu mir herauf und mischte sich mit dem Schmettern der
Lerchen in der blauen Luft. Am anmutigsten war die grüne Mulde, die sich
nach dem Liristhal hinunterzog; aus diesem hoben sich wieder sanftgeschwuugne,
mit Kastellen gekrönte Hügel und jenseits derselben höhere Bergzüge. Dieser
Vordergrund erinnerte mich an den Blick vom Erzgebirge in das Teplitzer
Thal, nur waren hier die Höhen gewaltiger. Denn man sieht im Norden den
ganzen Fels von Sora und die Berge des Liristhals bis Valsorcmo, im Westen
San Giovanni, Vcroli und Alatri. Die Ferne verhüllt zunächst weißes Gewölk,
aber auf einmal wird es vom Winde zerrissen, und das entzückte Auge schweift
bis zu den Schneebergen der Abruzzen.

Von jenen eisigen Höhen fiel mein Blick wieder auf die unter mir liegende
Stadt. Aber sonderbar, ich sah nicht das heutige, sondern das alte Arpinum.
Man schrieb den Tag vor den Kalenden des April im Jahre 49 v. Chr. Auf
dem Markte standen die Bürger im Schmucke der weißen Toga; denn ihr
großer Mitbürger, der Konsular Cicero verlieh nicht in Rom, sondern in ihrer
Mitte seinem einzigen Sohne Marcus das männliche Ehrenkleid (WZ-a virilis).
Sie lauschten andächtig seinen Worten in ernster Zeit, um so andächtiger, da
er wenige Tage zuvor unten in Formici dem siegreichen Cäsar mannhaft erklärt
hatte, daß er an der Vernichtung der bürgerlichen Freiheit Roms und Italiens
nicht mitarbeiten werde. Ich mußte jenes Arpinum mit diesem vergleichen.
Ob sich wohl Cicero auch als Bürger des heutigen Arpino mit Stolz be¬
kannt hätte? Ob die Kraft und der Gemeinsinn des heutigen Geschlechts von
Arpinum ein solches Riesenwerk aufzuführen vermöchte wie die cyklopischen
Mauern?

Solche Fragen stiegen in nur auf, und mit ihnen verknüpften sich alle
die schlimmen Eindrücke, die ich während meiner Reise von den gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Zustünden Italiens empfangen hatte. Ich gedachte der
Tausende von Bettlern, Blinden und Krüppeln, die ich allerorten, zumal in
den großen Städten angetroffen hatte, ich sah das hungernde Volk von Neapel
vor mir und die drohend geballten Fäuste der Weiber, ich gedachte der Sonn¬
tagsarbeit in den Fabriken, der Zinsbauern des Fürsten Torlvnia, der fleißigen
Dienstboten in Hotels und Pensionen, die über den empfangner Lohn mit drei
Kreuzen quittirten, da sie nicht einmal den eignen Namen schreiben konnten,
ich erinnerte mich an manche Unterhaltung mit Landleuten, Gewerbtreibenden,
Geschäftsreisenden, Gelehrten — sie alle stimmten darin überein, daß ihr ge¬
liebtes Italien zwar ein schönes und fruchtbares, aber zum Teil recht un¬
glückliches Land sei. Namentlich stand mir ein angesehener Bürger einer Klein¬
stadt vor der Seele, der in den Kämpfen um die Einheit Italiens ehrenvolle
Narben und zahlreiche Orden davongetragen hatte und mir doch mit allein
Feuer südlicher Leidenschaft und mit einer vor Erregung zitternden Stimme


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[0418] Frühlingstage am Garigliano lag. Aus einer unter mir liegenden Kirche drang frommer Gesang durch die sonntägliche Stille zu mir herauf und mischte sich mit dem Schmettern der Lerchen in der blauen Luft. Am anmutigsten war die grüne Mulde, die sich nach dem Liristhal hinunterzog; aus diesem hoben sich wieder sanftgeschwuugne, mit Kastellen gekrönte Hügel und jenseits derselben höhere Bergzüge. Dieser Vordergrund erinnerte mich an den Blick vom Erzgebirge in das Teplitzer Thal, nur waren hier die Höhen gewaltiger. Denn man sieht im Norden den ganzen Fels von Sora und die Berge des Liristhals bis Valsorcmo, im Westen San Giovanni, Vcroli und Alatri. Die Ferne verhüllt zunächst weißes Gewölk, aber auf einmal wird es vom Winde zerrissen, und das entzückte Auge schweift bis zu den Schneebergen der Abruzzen. Von jenen eisigen Höhen fiel mein Blick wieder auf die unter mir liegende Stadt. Aber sonderbar, ich sah nicht das heutige, sondern das alte Arpinum. Man schrieb den Tag vor den Kalenden des April im Jahre 49 v. Chr. Auf dem Markte standen die Bürger im Schmucke der weißen Toga; denn ihr großer Mitbürger, der Konsular Cicero verlieh nicht in Rom, sondern in ihrer Mitte seinem einzigen Sohne Marcus das männliche Ehrenkleid (WZ-a virilis). Sie lauschten andächtig seinen Worten in ernster Zeit, um so andächtiger, da er wenige Tage zuvor unten in Formici dem siegreichen Cäsar mannhaft erklärt hatte, daß er an der Vernichtung der bürgerlichen Freiheit Roms und Italiens nicht mitarbeiten werde. Ich mußte jenes Arpinum mit diesem vergleichen. Ob sich wohl Cicero auch als Bürger des heutigen Arpino mit Stolz be¬ kannt hätte? Ob die Kraft und der Gemeinsinn des heutigen Geschlechts von Arpinum ein solches Riesenwerk aufzuführen vermöchte wie die cyklopischen Mauern? Solche Fragen stiegen in nur auf, und mit ihnen verknüpften sich alle die schlimmen Eindrücke, die ich während meiner Reise von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustünden Italiens empfangen hatte. Ich gedachte der Tausende von Bettlern, Blinden und Krüppeln, die ich allerorten, zumal in den großen Städten angetroffen hatte, ich sah das hungernde Volk von Neapel vor mir und die drohend geballten Fäuste der Weiber, ich gedachte der Sonn¬ tagsarbeit in den Fabriken, der Zinsbauern des Fürsten Torlvnia, der fleißigen Dienstboten in Hotels und Pensionen, die über den empfangner Lohn mit drei Kreuzen quittirten, da sie nicht einmal den eignen Namen schreiben konnten, ich erinnerte mich an manche Unterhaltung mit Landleuten, Gewerbtreibenden, Geschäftsreisenden, Gelehrten — sie alle stimmten darin überein, daß ihr ge¬ liebtes Italien zwar ein schönes und fruchtbares, aber zum Teil recht un¬ glückliches Land sei. Namentlich stand mir ein angesehener Bürger einer Klein¬ stadt vor der Seele, der in den Kämpfen um die Einheit Italiens ehrenvolle Narben und zahlreiche Orden davongetragen hatte und mir doch mit allein Feuer südlicher Leidenschaft und mit einer vor Erregung zitternden Stimme

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/418>, abgerufen am 28.07.2024.