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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Volkskonzerte

in jeder Art von Musik unausbleiblich, er kann zum Fluch, er kann zum
Segen dienen, und es ist Sache der Berufnen, dafür zu sorgen, daß er als
ein nützlicher Sauerteig wirkt.

In der instrumentalen Musik hat es eine lange Zeit gegeben, wo Volks¬
musik und Kunstmusik friedlich zusammen gingen. Das war die Zeit, in der
die Suite herrschte, also das ganze siebzehnte Jahrhundert hindurch. Sie hat
sich bekanntlich noch viel länger behauptet. Die Orchestersuiteu Sebastian
Bachs, die Mendelssohn für unsre Zeit wieder entdeckt und dem Konzertsaal
dauernd gewonnen hat, wurden nachweislich noch in den achtziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts auf der Eutritzscher Kirmes gespielt. Aber damals war
die suite längst in die zweite Stelle zurückgetreten, den Vorderplatz hatte das
Konzert. Wenn sich in dieser neuen Form Solvspiel und Orchesterchor ab¬
lösten, die Gedanken vom Munde nahmen, sich im Variiren und Verzieren, in
der Mannigfaltigkeit des Ausdrucks überboten, wenn sie sich widersprachen,
ganze kleine Dramen aufführten, da schien das achte Weltwunder gekommen zu
sein, da wuchsen der Phantasie der damaligen Zuhörer Flügel, da entdeckten
sie neue Zellen in ihren Seelen. Niemals ist die Liebe zur Musik so mächtig
gewachsen wie in der Blütezeit des Konzerts, niemals mit größerer Fruchtbar¬
keit komponirt worden. Das Konzert war aristokratisch und volkstümlich zu¬
gleich. Aristokratisch, für Kenner und Feinschmecker berechnet in der Partie
des Solisten, in den Partien, die dessen Virtuosität zur Geltung brachten,
volkstümlich in der Thematik, in den Grundgedanken, die zwischen jenem und
dem Jnstrumentenchor wechselten. Wie sehr aber im achtzehnten Jahrhundert
der Volksgeist der Suite noch nachwirkte, zeigte sich darin, daß die Partei, die
im Konzert das virtuose Element zu Gunsten des volkstümlichen einzuschränken
suchte, fast die Oberhand gewann. Corelli und seine sogenannten Licmosrti
Al'vssi siegten über das Solistenkonzert der Torelli und Vivaldi. Die heutigen
Musikfreunde können diesen Gegensatz beqnem an den Konzerten Handels und
Bachs verfolgen. Händel steht ans der Seite Corellis.

Auch die Sinfonie Haydns, die gegen das Ende des achtzehnten Jahr¬
hunderts das Konzert aus seiner führenden Stellung verdrängte, ist teilweise
volkstümlich gehalten. Aber dieser Anteil der Volksmusik an der Haydnschen
Sinfonie ist bei weitem geringer, als gewöhnlich angenommen wird. Aus¬
nahmslos und rein finden wir ihn nur in den Menuetten vor, häufig in den
Adagios und langsamen Sätzen, wenn sie Variationenform haben. In dem
ersten und vierten Satz der Haydnschen Sinfonie aber, den längsten und ent¬
scheidenden in diesen Kompositionen, gehören nur die Themen -- und auch bei
dieser Einschränkung handelt es sich nur um die Londoner, also die letzten
Sinfonien des Meisters -- zur einfachen, gemeinverständlichen Musik. Sie
sind sröhliche, behagliche Allerweltsgedanken, die aus Liedern und Tänzen
stammen könnten; ja einige sind wirklich der kroatischen Volksmusik entnommen.


Grenzboten III 1898 5
Volkskonzerte

in jeder Art von Musik unausbleiblich, er kann zum Fluch, er kann zum
Segen dienen, und es ist Sache der Berufnen, dafür zu sorgen, daß er als
ein nützlicher Sauerteig wirkt.

In der instrumentalen Musik hat es eine lange Zeit gegeben, wo Volks¬
musik und Kunstmusik friedlich zusammen gingen. Das war die Zeit, in der
die Suite herrschte, also das ganze siebzehnte Jahrhundert hindurch. Sie hat
sich bekanntlich noch viel länger behauptet. Die Orchestersuiteu Sebastian
Bachs, die Mendelssohn für unsre Zeit wieder entdeckt und dem Konzertsaal
dauernd gewonnen hat, wurden nachweislich noch in den achtziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts auf der Eutritzscher Kirmes gespielt. Aber damals war
die suite längst in die zweite Stelle zurückgetreten, den Vorderplatz hatte das
Konzert. Wenn sich in dieser neuen Form Solvspiel und Orchesterchor ab¬
lösten, die Gedanken vom Munde nahmen, sich im Variiren und Verzieren, in
der Mannigfaltigkeit des Ausdrucks überboten, wenn sie sich widersprachen,
ganze kleine Dramen aufführten, da schien das achte Weltwunder gekommen zu
sein, da wuchsen der Phantasie der damaligen Zuhörer Flügel, da entdeckten
sie neue Zellen in ihren Seelen. Niemals ist die Liebe zur Musik so mächtig
gewachsen wie in der Blütezeit des Konzerts, niemals mit größerer Fruchtbar¬
keit komponirt worden. Das Konzert war aristokratisch und volkstümlich zu¬
gleich. Aristokratisch, für Kenner und Feinschmecker berechnet in der Partie
des Solisten, in den Partien, die dessen Virtuosität zur Geltung brachten,
volkstümlich in der Thematik, in den Grundgedanken, die zwischen jenem und
dem Jnstrumentenchor wechselten. Wie sehr aber im achtzehnten Jahrhundert
der Volksgeist der Suite noch nachwirkte, zeigte sich darin, daß die Partei, die
im Konzert das virtuose Element zu Gunsten des volkstümlichen einzuschränken
suchte, fast die Oberhand gewann. Corelli und seine sogenannten Licmosrti
Al'vssi siegten über das Solistenkonzert der Torelli und Vivaldi. Die heutigen
Musikfreunde können diesen Gegensatz beqnem an den Konzerten Handels und
Bachs verfolgen. Händel steht ans der Seite Corellis.

Auch die Sinfonie Haydns, die gegen das Ende des achtzehnten Jahr¬
hunderts das Konzert aus seiner führenden Stellung verdrängte, ist teilweise
volkstümlich gehalten. Aber dieser Anteil der Volksmusik an der Haydnschen
Sinfonie ist bei weitem geringer, als gewöhnlich angenommen wird. Aus¬
nahmslos und rein finden wir ihn nur in den Menuetten vor, häufig in den
Adagios und langsamen Sätzen, wenn sie Variationenform haben. In dem
ersten und vierten Satz der Haydnschen Sinfonie aber, den längsten und ent¬
scheidenden in diesen Kompositionen, gehören nur die Themen — und auch bei
dieser Einschränkung handelt es sich nur um die Londoner, also die letzten
Sinfonien des Meisters — zur einfachen, gemeinverständlichen Musik. Sie
sind sröhliche, behagliche Allerweltsgedanken, die aus Liedern und Tänzen
stammen könnten; ja einige sind wirklich der kroatischen Volksmusik entnommen.


Grenzboten III 1898 5
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[0041] Volkskonzerte in jeder Art von Musik unausbleiblich, er kann zum Fluch, er kann zum Segen dienen, und es ist Sache der Berufnen, dafür zu sorgen, daß er als ein nützlicher Sauerteig wirkt. In der instrumentalen Musik hat es eine lange Zeit gegeben, wo Volks¬ musik und Kunstmusik friedlich zusammen gingen. Das war die Zeit, in der die Suite herrschte, also das ganze siebzehnte Jahrhundert hindurch. Sie hat sich bekanntlich noch viel länger behauptet. Die Orchestersuiteu Sebastian Bachs, die Mendelssohn für unsre Zeit wieder entdeckt und dem Konzertsaal dauernd gewonnen hat, wurden nachweislich noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf der Eutritzscher Kirmes gespielt. Aber damals war die suite längst in die zweite Stelle zurückgetreten, den Vorderplatz hatte das Konzert. Wenn sich in dieser neuen Form Solvspiel und Orchesterchor ab¬ lösten, die Gedanken vom Munde nahmen, sich im Variiren und Verzieren, in der Mannigfaltigkeit des Ausdrucks überboten, wenn sie sich widersprachen, ganze kleine Dramen aufführten, da schien das achte Weltwunder gekommen zu sein, da wuchsen der Phantasie der damaligen Zuhörer Flügel, da entdeckten sie neue Zellen in ihren Seelen. Niemals ist die Liebe zur Musik so mächtig gewachsen wie in der Blütezeit des Konzerts, niemals mit größerer Fruchtbar¬ keit komponirt worden. Das Konzert war aristokratisch und volkstümlich zu¬ gleich. Aristokratisch, für Kenner und Feinschmecker berechnet in der Partie des Solisten, in den Partien, die dessen Virtuosität zur Geltung brachten, volkstümlich in der Thematik, in den Grundgedanken, die zwischen jenem und dem Jnstrumentenchor wechselten. Wie sehr aber im achtzehnten Jahrhundert der Volksgeist der Suite noch nachwirkte, zeigte sich darin, daß die Partei, die im Konzert das virtuose Element zu Gunsten des volkstümlichen einzuschränken suchte, fast die Oberhand gewann. Corelli und seine sogenannten Licmosrti Al'vssi siegten über das Solistenkonzert der Torelli und Vivaldi. Die heutigen Musikfreunde können diesen Gegensatz beqnem an den Konzerten Handels und Bachs verfolgen. Händel steht ans der Seite Corellis. Auch die Sinfonie Haydns, die gegen das Ende des achtzehnten Jahr¬ hunderts das Konzert aus seiner führenden Stellung verdrängte, ist teilweise volkstümlich gehalten. Aber dieser Anteil der Volksmusik an der Haydnschen Sinfonie ist bei weitem geringer, als gewöhnlich angenommen wird. Aus¬ nahmslos und rein finden wir ihn nur in den Menuetten vor, häufig in den Adagios und langsamen Sätzen, wenn sie Variationenform haben. In dem ersten und vierten Satz der Haydnschen Sinfonie aber, den längsten und ent¬ scheidenden in diesen Kompositionen, gehören nur die Themen — und auch bei dieser Einschränkung handelt es sich nur um die Londoner, also die letzten Sinfonien des Meisters — zur einfachen, gemeinverständlichen Musik. Sie sind sröhliche, behagliche Allerweltsgedanken, die aus Liedern und Tänzen stammen könnten; ja einige sind wirklich der kroatischen Volksmusik entnommen. Grenzboten III 1898 5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/41>, abgerufen am 01.09.2024.