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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Volkskonzerte

verwickelte Bildungen. So tritt neben die volkstümliche eine höhere Kunst,
neben die Gegenwart stellt sich die Zukunft. In einer gesunden Kultur gleicht
sich dieser Gegensatz immer wieder aus, in der Regel in der Weise, daß die
Kunst des Volkes sich der wesentlichen Neuerungen der Fachleute bemächtigt,
ohne die Einfachheit ihrer Formen auszugeben; sie nimmt ihre gewohnte Arbeit
an einem höhern Punkte auf.

Die Kirche ist von jeher entschieden für den volkstümlichen Charakter der
Musik eingetreten und hat grundsätzlich jederzeit die Tonkünstler zur Ordnung
gerufen, wenn sie die Einfachheit und Gemeinverständlichkeit außer acht ließen.
Ein sehr bekanntes Beispiel für die von ihr ausgeübte wohlthätige Musikpolizei
sind die Beschlüsse des Tridentiner Konzils, die im sechzehnten Jahrhundert
die Herrschaft des Palestrinastils begründen halfen. Daß aber auch die größte
Wachsamkeit die Rückfälle in die Erbsünde nicht verhindern kann, beweisen
Werke wie Beethovens Nissg, solsirmis.

Viel wichtiger ist der Gegensatz zwischen volkstümlicher und höherer Kunst
in der weltlichen Musik gewesen. Er hat hier fast unausgesetzt die Entwicklung
bestimmt, und soweit wir eine Geschichte an Dokumenten verfolgen können,
führen sie uns immer wieder vor den Prozeß eines durchgeführten oder ver¬
suchten Ausgleichs zwischen den beiden Prinzipien. Der Minnesang war höhere
Kunst, der Meistergesang ist zu ihm die -- verunglückte -- Reaktion. Aus¬
nahmsweise gehen zuweilen die neuen Formen auch vom Volke aus. So
war es bei der Entstehung des weltlichen Chorlieds, das mit den Frottolen
und Villcmellen, d. i. mit veredelten Schnaderhttpfeln unten im Neapolita¬
nischen einsetzte. Die höhere Tonkunst antwortete darauf mit den Madrigalen.
Als aber diese Madrigale in den Händen der italienischen Tonsetzer allmählich
end- und maßlos und vor lauter innern Feinheiten unverständlich wurden, da
kam es zu einer der merkwürdigsten Revolutionen, die sich ereignet haben.
Das Merkwürdige lag darin, daß die Kreise, für die diese Kunst bestimmt war,
sie im Interesse der untern Klassen verwarfen. Es waren die Hellenisten von
Florenz, die am Ende des sechzehnten Jahrhunderts die vermeintliche Wurzel
aller musikalischen Übel, den Kontrapunkt, auszurotten suchten und den
volkstümlichen Anforderungen an die Tonkunst zu ihrem Recht verhalfen.
Ihnen verdanken wir den begleiteten Sologesang, in dem Geist, den er ur¬
sprünglich hatte, ein echtes und prächtiges Kind der Renaissance, eine ebenso
volle als klare Kunst, um die sich in den nächsten Generationen alle Stände
friedlich einen konnten. Als aber dieser neue Sologesang an große Aufgaben
Herautrat, als durch ihn Oper und Oratorium ins Leben gerufen waren, da
war der alte Gegensatz zwischen volkstümlicher und eigenmächtiger, souveräner
Musik wieder da und hat sich hier in wechselnden Formen, offen oder versteckt
bis auf den heutigen Tag behauptet. Wie er auch das deutsche Lied von
Stufe zu Stufe begleitet hat, das ist erst jüngst hier berührt worden. Er ist


Volkskonzerte

verwickelte Bildungen. So tritt neben die volkstümliche eine höhere Kunst,
neben die Gegenwart stellt sich die Zukunft. In einer gesunden Kultur gleicht
sich dieser Gegensatz immer wieder aus, in der Regel in der Weise, daß die
Kunst des Volkes sich der wesentlichen Neuerungen der Fachleute bemächtigt,
ohne die Einfachheit ihrer Formen auszugeben; sie nimmt ihre gewohnte Arbeit
an einem höhern Punkte auf.

Die Kirche ist von jeher entschieden für den volkstümlichen Charakter der
Musik eingetreten und hat grundsätzlich jederzeit die Tonkünstler zur Ordnung
gerufen, wenn sie die Einfachheit und Gemeinverständlichkeit außer acht ließen.
Ein sehr bekanntes Beispiel für die von ihr ausgeübte wohlthätige Musikpolizei
sind die Beschlüsse des Tridentiner Konzils, die im sechzehnten Jahrhundert
die Herrschaft des Palestrinastils begründen halfen. Daß aber auch die größte
Wachsamkeit die Rückfälle in die Erbsünde nicht verhindern kann, beweisen
Werke wie Beethovens Nissg, solsirmis.

Viel wichtiger ist der Gegensatz zwischen volkstümlicher und höherer Kunst
in der weltlichen Musik gewesen. Er hat hier fast unausgesetzt die Entwicklung
bestimmt, und soweit wir eine Geschichte an Dokumenten verfolgen können,
führen sie uns immer wieder vor den Prozeß eines durchgeführten oder ver¬
suchten Ausgleichs zwischen den beiden Prinzipien. Der Minnesang war höhere
Kunst, der Meistergesang ist zu ihm die — verunglückte — Reaktion. Aus¬
nahmsweise gehen zuweilen die neuen Formen auch vom Volke aus. So
war es bei der Entstehung des weltlichen Chorlieds, das mit den Frottolen
und Villcmellen, d. i. mit veredelten Schnaderhttpfeln unten im Neapolita¬
nischen einsetzte. Die höhere Tonkunst antwortete darauf mit den Madrigalen.
Als aber diese Madrigale in den Händen der italienischen Tonsetzer allmählich
end- und maßlos und vor lauter innern Feinheiten unverständlich wurden, da
kam es zu einer der merkwürdigsten Revolutionen, die sich ereignet haben.
Das Merkwürdige lag darin, daß die Kreise, für die diese Kunst bestimmt war,
sie im Interesse der untern Klassen verwarfen. Es waren die Hellenisten von
Florenz, die am Ende des sechzehnten Jahrhunderts die vermeintliche Wurzel
aller musikalischen Übel, den Kontrapunkt, auszurotten suchten und den
volkstümlichen Anforderungen an die Tonkunst zu ihrem Recht verhalfen.
Ihnen verdanken wir den begleiteten Sologesang, in dem Geist, den er ur¬
sprünglich hatte, ein echtes und prächtiges Kind der Renaissance, eine ebenso
volle als klare Kunst, um die sich in den nächsten Generationen alle Stände
friedlich einen konnten. Als aber dieser neue Sologesang an große Aufgaben
Herautrat, als durch ihn Oper und Oratorium ins Leben gerufen waren, da
war der alte Gegensatz zwischen volkstümlicher und eigenmächtiger, souveräner
Musik wieder da und hat sich hier in wechselnden Formen, offen oder versteckt
bis auf den heutigen Tag behauptet. Wie er auch das deutsche Lied von
Stufe zu Stufe begleitet hat, das ist erst jüngst hier berührt worden. Er ist


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[0040] Volkskonzerte verwickelte Bildungen. So tritt neben die volkstümliche eine höhere Kunst, neben die Gegenwart stellt sich die Zukunft. In einer gesunden Kultur gleicht sich dieser Gegensatz immer wieder aus, in der Regel in der Weise, daß die Kunst des Volkes sich der wesentlichen Neuerungen der Fachleute bemächtigt, ohne die Einfachheit ihrer Formen auszugeben; sie nimmt ihre gewohnte Arbeit an einem höhern Punkte auf. Die Kirche ist von jeher entschieden für den volkstümlichen Charakter der Musik eingetreten und hat grundsätzlich jederzeit die Tonkünstler zur Ordnung gerufen, wenn sie die Einfachheit und Gemeinverständlichkeit außer acht ließen. Ein sehr bekanntes Beispiel für die von ihr ausgeübte wohlthätige Musikpolizei sind die Beschlüsse des Tridentiner Konzils, die im sechzehnten Jahrhundert die Herrschaft des Palestrinastils begründen halfen. Daß aber auch die größte Wachsamkeit die Rückfälle in die Erbsünde nicht verhindern kann, beweisen Werke wie Beethovens Nissg, solsirmis. Viel wichtiger ist der Gegensatz zwischen volkstümlicher und höherer Kunst in der weltlichen Musik gewesen. Er hat hier fast unausgesetzt die Entwicklung bestimmt, und soweit wir eine Geschichte an Dokumenten verfolgen können, führen sie uns immer wieder vor den Prozeß eines durchgeführten oder ver¬ suchten Ausgleichs zwischen den beiden Prinzipien. Der Minnesang war höhere Kunst, der Meistergesang ist zu ihm die — verunglückte — Reaktion. Aus¬ nahmsweise gehen zuweilen die neuen Formen auch vom Volke aus. So war es bei der Entstehung des weltlichen Chorlieds, das mit den Frottolen und Villcmellen, d. i. mit veredelten Schnaderhttpfeln unten im Neapolita¬ nischen einsetzte. Die höhere Tonkunst antwortete darauf mit den Madrigalen. Als aber diese Madrigale in den Händen der italienischen Tonsetzer allmählich end- und maßlos und vor lauter innern Feinheiten unverständlich wurden, da kam es zu einer der merkwürdigsten Revolutionen, die sich ereignet haben. Das Merkwürdige lag darin, daß die Kreise, für die diese Kunst bestimmt war, sie im Interesse der untern Klassen verwarfen. Es waren die Hellenisten von Florenz, die am Ende des sechzehnten Jahrhunderts die vermeintliche Wurzel aller musikalischen Übel, den Kontrapunkt, auszurotten suchten und den volkstümlichen Anforderungen an die Tonkunst zu ihrem Recht verhalfen. Ihnen verdanken wir den begleiteten Sologesang, in dem Geist, den er ur¬ sprünglich hatte, ein echtes und prächtiges Kind der Renaissance, eine ebenso volle als klare Kunst, um die sich in den nächsten Generationen alle Stände friedlich einen konnten. Als aber dieser neue Sologesang an große Aufgaben Herautrat, als durch ihn Oper und Oratorium ins Leben gerufen waren, da war der alte Gegensatz zwischen volkstümlicher und eigenmächtiger, souveräner Musik wieder da und hat sich hier in wechselnden Formen, offen oder versteckt bis auf den heutigen Tag behauptet. Wie er auch das deutsche Lied von Stufe zu Stufe begleitet hat, das ist erst jüngst hier berührt worden. Er ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/40>, abgerufen am 01.09.2024.