Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Wagners Musik anpassen, ohne sie jedoch in irgend einen Zusammenhang mit den vorhergehenden Aber Wagner ist nicht nur Musiker, er ist auch Dichter, oder vielmehr er ist Aber, sagt man, Wagners Werke kann man nicht beurteilen, ohne sie auf der Als ich ankam, war der mächtige Saal schon gefüllt; da sah man die Blüte Man konnte aus dem Textbuch erfahren, daß der Sänger einen mächtigen Nach diesem ziemlich lang ausgedehnten Monolog lassen sich plötzlich im Or¬ Wagners Musik anpassen, ohne sie jedoch in irgend einen Zusammenhang mit den vorhergehenden Aber Wagner ist nicht nur Musiker, er ist auch Dichter, oder vielmehr er ist Aber, sagt man, Wagners Werke kann man nicht beurteilen, ohne sie auf der Als ich ankam, war der mächtige Saal schon gefüllt; da sah man die Blüte Man konnte aus dem Textbuch erfahren, daß der Sänger einen mächtigen Nach diesem ziemlich lang ausgedehnten Monolog lassen sich plötzlich im Or¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0376" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228678"/> <fw type="header" place="top"> Wagners Musik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1312" prev="#ID_1311"> anpassen, ohne sie jedoch in irgend einen Zusammenhang mit den vorhergehenden<lb/> zu bringen, ohne ihnen überhaupt Rhythmus und Versmaß zu geben. Ein solches<lb/> dichterisches Werk ohne die Musik würde genau das sein, was eine musikalische<lb/> Partitur Wagners ist, die von ihrem Text losgetrennt ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1313"> Aber Wagner ist nicht nur Musiker, er ist auch Dichter, oder vielmehr er ist<lb/> leider beides zugleich: um ihn zu beurteilen, muß man also auch seinen Text<lb/> kennen, diesen Text, dem die Musik dienen soll. Das poetische Hauptwerk<lb/> Wagners ist der Nibelungenring. Dieses Werk hat heutzutage eine solche Be¬<lb/> deutung erlangt, es hat einen solchen Einfluß auf alles gewonnen, was sich gegen¬<lb/> wartig als Kunst ausgiebt, daß jeder von uns eine Vorstellung davon haben muß.<lb/> Ich habe die vier Textbücher aufmerksam gelesen und mir einen kurzen Auszug<lb/> gemacht. Die Dichtung ist das Muster der plumpsten PseudoPoesie, sie streift<lb/> geradezu ans lächerliche.</p><lb/> <p xml:id="ID_1314"> Aber, sagt man, Wagners Werke kann man nicht beurteilen, ohne sie auf der<lb/> Bühne gesehen und gehört zu haben. Diesen Winter hat man in Moskau den<lb/> zweiten „Tag" des lyrischen Dramas, des besten Teils, wie man mir versichert,<lb/> aufgeführt. Ich habe mich also ins Theater begeben, und folgendes ist der Ein¬<lb/> druck, den ich mit nach Hanse genommen habe:</p><lb/> <p xml:id="ID_1315"> Als ich ankam, war der mächtige Saal schon gefüllt; da sah man die Blüte<lb/> der Aristokratie und des Handels, der Gelehrten und der höhern Beamten. Die<lb/> meisten hatten das Textbuch in der Hand und suchten den Sinn zu ergründen.<lb/> Die Kunstschwärmer, nnter denen viele Leute in reifern Jahren waren, verfolgten<lb/> die Musik mit Hilfe der Partitur. Augenscheinlich war also die Aufführung ein<lb/> großes Ereignis. Ich kam etwas zu spät, aber man sagte mir, daß das kurze<lb/> Vorspiel, das die Handlung eröffnet, von geringer Wichtigkeit sei. Auf der Bühne<lb/> in der Mitte der Dekoration, die eine in einen Felsen gehauene Höhle darstellte,<lb/> saß vor einem nmboßartigen Gegenstande ein Schauspieler im Trikot, mit einem<lb/> Tierfell um die Schultern; er schlug mit einem Hammer auf ein Schwert, öffnete<lb/> dabei ganz absonderlich den Mund und sang Worte, die er unmöglich selbst ver¬<lb/> stand. Die zahlreiche» Instrumente des Orchesters begleiteten die merkwürdigen<lb/> Töne, die dieser Schauspieler von sich gab.</p><lb/> <p xml:id="ID_1316"> Man konnte aus dem Textbuch erfahren, daß der Sänger einen mächtigen<lb/> Zwerg darstellte, der in der Höhle wohnte und im Begriff war, ein Schwert für<lb/> seinen Zögling Siegfried zu schmieden. Man konnte auch erraten, daß es ein<lb/> Zwerg sein sollte, weil der Schauspieler mit gebognen Knieen umherging. Dieser<lb/> Zwerg sang oder vielmehr schrie andauernd und riß dabei den Mund immer un¬<lb/> geheuer weit auf. Aber auch das Orchester stieß wunderliche Töne aus, lauter<lb/> Anfänge ohne Fortsetzung. Man begriff aus dem Textbuch, daß der Zwerg sich<lb/> selbst die Geschichte eines Ringes erzählte, den ein Riese geraubt hatte, und den<lb/> er nun durch Siegfrieds Arm wiedererobern wollte. Für dieses Unternehmen<lb/> brauchte Siegfried ein gutes Schwert, und der Zwerg war dabei, es zu schmieden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1317" next="#ID_1318"> Nach diesem ziemlich lang ausgedehnten Monolog lassen sich plötzlich im Or¬<lb/> chester andre Töne vernehmen, auch wieder Anfänge ohne Fortsetzung. Ein andrer<lb/> Schauspieler erscheint mit einem Jagdhorn am Bande und führt einen Menschen<lb/> mit sich, der in der Gestalt eines Bären auf allen Bieren geht. Der Führer läßt<lb/> den Bären auf den schmiedenden Zwerg los, der sich rettet und dabei vergißt, in<lb/> der Kniebeuge zu bleiben. Der Schauspieler mit dem menschlichen Antlitz stellt<lb/> den Helden Siegfried selbst dar. Die Töne, die bei seinem Erscheinen im Orchester<lb/> erschallen, drücken offenbar den Charakter Siegfrieds aus. Es ist sein Leitmotiv.<lb/> Es wird jedesmal wiederholt, wenn Siegfried erscheint, denn jede Person hat ihr</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0376]
Wagners Musik
anpassen, ohne sie jedoch in irgend einen Zusammenhang mit den vorhergehenden
zu bringen, ohne ihnen überhaupt Rhythmus und Versmaß zu geben. Ein solches
dichterisches Werk ohne die Musik würde genau das sein, was eine musikalische
Partitur Wagners ist, die von ihrem Text losgetrennt ist.
Aber Wagner ist nicht nur Musiker, er ist auch Dichter, oder vielmehr er ist
leider beides zugleich: um ihn zu beurteilen, muß man also auch seinen Text
kennen, diesen Text, dem die Musik dienen soll. Das poetische Hauptwerk
Wagners ist der Nibelungenring. Dieses Werk hat heutzutage eine solche Be¬
deutung erlangt, es hat einen solchen Einfluß auf alles gewonnen, was sich gegen¬
wartig als Kunst ausgiebt, daß jeder von uns eine Vorstellung davon haben muß.
Ich habe die vier Textbücher aufmerksam gelesen und mir einen kurzen Auszug
gemacht. Die Dichtung ist das Muster der plumpsten PseudoPoesie, sie streift
geradezu ans lächerliche.
Aber, sagt man, Wagners Werke kann man nicht beurteilen, ohne sie auf der
Bühne gesehen und gehört zu haben. Diesen Winter hat man in Moskau den
zweiten „Tag" des lyrischen Dramas, des besten Teils, wie man mir versichert,
aufgeführt. Ich habe mich also ins Theater begeben, und folgendes ist der Ein¬
druck, den ich mit nach Hanse genommen habe:
Als ich ankam, war der mächtige Saal schon gefüllt; da sah man die Blüte
der Aristokratie und des Handels, der Gelehrten und der höhern Beamten. Die
meisten hatten das Textbuch in der Hand und suchten den Sinn zu ergründen.
Die Kunstschwärmer, nnter denen viele Leute in reifern Jahren waren, verfolgten
die Musik mit Hilfe der Partitur. Augenscheinlich war also die Aufführung ein
großes Ereignis. Ich kam etwas zu spät, aber man sagte mir, daß das kurze
Vorspiel, das die Handlung eröffnet, von geringer Wichtigkeit sei. Auf der Bühne
in der Mitte der Dekoration, die eine in einen Felsen gehauene Höhle darstellte,
saß vor einem nmboßartigen Gegenstande ein Schauspieler im Trikot, mit einem
Tierfell um die Schultern; er schlug mit einem Hammer auf ein Schwert, öffnete
dabei ganz absonderlich den Mund und sang Worte, die er unmöglich selbst ver¬
stand. Die zahlreiche» Instrumente des Orchesters begleiteten die merkwürdigen
Töne, die dieser Schauspieler von sich gab.
Man konnte aus dem Textbuch erfahren, daß der Sänger einen mächtigen
Zwerg darstellte, der in der Höhle wohnte und im Begriff war, ein Schwert für
seinen Zögling Siegfried zu schmieden. Man konnte auch erraten, daß es ein
Zwerg sein sollte, weil der Schauspieler mit gebognen Knieen umherging. Dieser
Zwerg sang oder vielmehr schrie andauernd und riß dabei den Mund immer un¬
geheuer weit auf. Aber auch das Orchester stieß wunderliche Töne aus, lauter
Anfänge ohne Fortsetzung. Man begriff aus dem Textbuch, daß der Zwerg sich
selbst die Geschichte eines Ringes erzählte, den ein Riese geraubt hatte, und den
er nun durch Siegfrieds Arm wiedererobern wollte. Für dieses Unternehmen
brauchte Siegfried ein gutes Schwert, und der Zwerg war dabei, es zu schmieden.
Nach diesem ziemlich lang ausgedehnten Monolog lassen sich plötzlich im Or¬
chester andre Töne vernehmen, auch wieder Anfänge ohne Fortsetzung. Ein andrer
Schauspieler erscheint mit einem Jagdhorn am Bande und führt einen Menschen
mit sich, der in der Gestalt eines Bären auf allen Bieren geht. Der Führer läßt
den Bären auf den schmiedenden Zwerg los, der sich rettet und dabei vergißt, in
der Kniebeuge zu bleiben. Der Schauspieler mit dem menschlichen Antlitz stellt
den Helden Siegfried selbst dar. Die Töne, die bei seinem Erscheinen im Orchester
erschallen, drücken offenbar den Charakter Siegfrieds aus. Es ist sein Leitmotiv.
Es wird jedesmal wiederholt, wenn Siegfried erscheint, denn jede Person hat ihr
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