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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Frühlingstage am Garigliano

Landschaft hinaus. In blauem Duft, den goldne Fäden durchzogen, lagen da
drüben die Bergkuppen von Veroli und Arpino, auf der andern Seite San
Giovanni und Quercia und viele andre. Vor uns aber senkte sich rings um
den Berg ein mit Wein und Getreide, Öl- und Maulbeerbüumen bewachsenes
Gelände zu Thale, und man konnte mit den Augen abmessen, wie weit sich
der Bezirk von Alatri hinab und unten in der Ebene über duftende Felder
weiter erstreckte, bis zur Grenzmark der Nachbarn. Manches Rätsel der alten
Geschichte, über das uns die Bücherweisheit im Dunkeln läßt, löst sich vor
unserm Blick auf dem Felsen von Alatri. Vor allem aber begreift man hier
die Berechtigung und Naturnotwendigkeit eines solchen antiken Stadtstaats;
auf der Karte erscheint er als ein winziger Punkt neben vielen andern Punkten,
so recht als das Produkt eines beschränkten Sondergeistes. Aber zu jeder
Bergstadt gehört ja eine sie umgebende Campagna mit Höfen und Dörfern,
deren Bewohner die Stadt ernähren und andrerseits wieder in ihrer Akropolis
den nötigen Schutz finden, und ein solches Gebiet wie das von Alatri erscheint
dem Auge so groß und einheitlich, daß man recht wohl versteht, wie dem
antiken, natürlichen Menschen der Begriff der Stadtflur und der Welt als
identisch zusammenfiel.

Erst spät suchte ich an diesem Tage mein hartes, aber sauberes Lager
auf. Indes die Eindrücke des Tages erwiesen sich stärker als die zur Ruhe
lockende weiche Frühlingsnacht. Der Schlaf kam mir lange nicht in die Augen;
und so genoß ich noch bis Mitternacht bei offnem Fenster die Lebeustöne
des Ostertreibens in der alten Hernikerstadt. Zuletzt war alles still, nur der
Brunnen rauschte noch im Mondenschein -- da hallte auf einmal in kräftigem
Tenor das Lied eines heimkehrenden Bergeiomren durch die Nacht, eine süße
Mädchenstimme, nur wenige Häuser von mir, sang das Ritornell, und so ging
es fort mit Sang und Gegeusang, bis das Lied des Burschen im lauen Nacht¬
wind erstarb.

Mehr als ein Monat war ins Land gegangen, als ich mich Mitte Mai
anschickte, aus Unteritalien in das stille Liristhal zurückzukehren. Der politische
Horizont des schönen Landes hatte sich unterdes mit düstern Wolken bedeckt.
Die vulkanische Natur Italiens war wieder einmal zu Tage getreten; Dämonen,
die sonst in der Tiefe schlummern, waren erwacht; die Flamme des Aufruhrs war
da und dort emporgezüngelt, und an mehr als einem Orte war in erbittertem
Kampfe Bürgerblut geflossen. Ich selbst hatte mich eines Tages auf dem
Wege zum Vesuv in einem der Vororte Neapels plötzlich inmitten eines Volks¬
haufens befunden, der eine Reiterpatrouille von fünf Dragonern mit Knütteln
und Steinen umringte und bedrohte. Neapel glich noch lange darnach einem
Kriegslager; auf allen Plätzen sah man kampirende Schwadronen, sogar
Kanonen waren aufgefahren. Diese düstern Bilder verschwanden, als ich eines
Tages den militärisch besetzten Bahnhof Neapels verließ, um über Caserta und


Frühlingstage am Garigliano

Landschaft hinaus. In blauem Duft, den goldne Fäden durchzogen, lagen da
drüben die Bergkuppen von Veroli und Arpino, auf der andern Seite San
Giovanni und Quercia und viele andre. Vor uns aber senkte sich rings um
den Berg ein mit Wein und Getreide, Öl- und Maulbeerbüumen bewachsenes
Gelände zu Thale, und man konnte mit den Augen abmessen, wie weit sich
der Bezirk von Alatri hinab und unten in der Ebene über duftende Felder
weiter erstreckte, bis zur Grenzmark der Nachbarn. Manches Rätsel der alten
Geschichte, über das uns die Bücherweisheit im Dunkeln läßt, löst sich vor
unserm Blick auf dem Felsen von Alatri. Vor allem aber begreift man hier
die Berechtigung und Naturnotwendigkeit eines solchen antiken Stadtstaats;
auf der Karte erscheint er als ein winziger Punkt neben vielen andern Punkten,
so recht als das Produkt eines beschränkten Sondergeistes. Aber zu jeder
Bergstadt gehört ja eine sie umgebende Campagna mit Höfen und Dörfern,
deren Bewohner die Stadt ernähren und andrerseits wieder in ihrer Akropolis
den nötigen Schutz finden, und ein solches Gebiet wie das von Alatri erscheint
dem Auge so groß und einheitlich, daß man recht wohl versteht, wie dem
antiken, natürlichen Menschen der Begriff der Stadtflur und der Welt als
identisch zusammenfiel.

Erst spät suchte ich an diesem Tage mein hartes, aber sauberes Lager
auf. Indes die Eindrücke des Tages erwiesen sich stärker als die zur Ruhe
lockende weiche Frühlingsnacht. Der Schlaf kam mir lange nicht in die Augen;
und so genoß ich noch bis Mitternacht bei offnem Fenster die Lebeustöne
des Ostertreibens in der alten Hernikerstadt. Zuletzt war alles still, nur der
Brunnen rauschte noch im Mondenschein — da hallte auf einmal in kräftigem
Tenor das Lied eines heimkehrenden Bergeiomren durch die Nacht, eine süße
Mädchenstimme, nur wenige Häuser von mir, sang das Ritornell, und so ging
es fort mit Sang und Gegeusang, bis das Lied des Burschen im lauen Nacht¬
wind erstarb.

Mehr als ein Monat war ins Land gegangen, als ich mich Mitte Mai
anschickte, aus Unteritalien in das stille Liristhal zurückzukehren. Der politische
Horizont des schönen Landes hatte sich unterdes mit düstern Wolken bedeckt.
Die vulkanische Natur Italiens war wieder einmal zu Tage getreten; Dämonen,
die sonst in der Tiefe schlummern, waren erwacht; die Flamme des Aufruhrs war
da und dort emporgezüngelt, und an mehr als einem Orte war in erbittertem
Kampfe Bürgerblut geflossen. Ich selbst hatte mich eines Tages auf dem
Wege zum Vesuv in einem der Vororte Neapels plötzlich inmitten eines Volks¬
haufens befunden, der eine Reiterpatrouille von fünf Dragonern mit Knütteln
und Steinen umringte und bedrohte. Neapel glich noch lange darnach einem
Kriegslager; auf allen Plätzen sah man kampirende Schwadronen, sogar
Kanonen waren aufgefahren. Diese düstern Bilder verschwanden, als ich eines
Tages den militärisch besetzten Bahnhof Neapels verließ, um über Caserta und


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[0366] Frühlingstage am Garigliano Landschaft hinaus. In blauem Duft, den goldne Fäden durchzogen, lagen da drüben die Bergkuppen von Veroli und Arpino, auf der andern Seite San Giovanni und Quercia und viele andre. Vor uns aber senkte sich rings um den Berg ein mit Wein und Getreide, Öl- und Maulbeerbüumen bewachsenes Gelände zu Thale, und man konnte mit den Augen abmessen, wie weit sich der Bezirk von Alatri hinab und unten in der Ebene über duftende Felder weiter erstreckte, bis zur Grenzmark der Nachbarn. Manches Rätsel der alten Geschichte, über das uns die Bücherweisheit im Dunkeln läßt, löst sich vor unserm Blick auf dem Felsen von Alatri. Vor allem aber begreift man hier die Berechtigung und Naturnotwendigkeit eines solchen antiken Stadtstaats; auf der Karte erscheint er als ein winziger Punkt neben vielen andern Punkten, so recht als das Produkt eines beschränkten Sondergeistes. Aber zu jeder Bergstadt gehört ja eine sie umgebende Campagna mit Höfen und Dörfern, deren Bewohner die Stadt ernähren und andrerseits wieder in ihrer Akropolis den nötigen Schutz finden, und ein solches Gebiet wie das von Alatri erscheint dem Auge so groß und einheitlich, daß man recht wohl versteht, wie dem antiken, natürlichen Menschen der Begriff der Stadtflur und der Welt als identisch zusammenfiel. Erst spät suchte ich an diesem Tage mein hartes, aber sauberes Lager auf. Indes die Eindrücke des Tages erwiesen sich stärker als die zur Ruhe lockende weiche Frühlingsnacht. Der Schlaf kam mir lange nicht in die Augen; und so genoß ich noch bis Mitternacht bei offnem Fenster die Lebeustöne des Ostertreibens in der alten Hernikerstadt. Zuletzt war alles still, nur der Brunnen rauschte noch im Mondenschein — da hallte auf einmal in kräftigem Tenor das Lied eines heimkehrenden Bergeiomren durch die Nacht, eine süße Mädchenstimme, nur wenige Häuser von mir, sang das Ritornell, und so ging es fort mit Sang und Gegeusang, bis das Lied des Burschen im lauen Nacht¬ wind erstarb. Mehr als ein Monat war ins Land gegangen, als ich mich Mitte Mai anschickte, aus Unteritalien in das stille Liristhal zurückzukehren. Der politische Horizont des schönen Landes hatte sich unterdes mit düstern Wolken bedeckt. Die vulkanische Natur Italiens war wieder einmal zu Tage getreten; Dämonen, die sonst in der Tiefe schlummern, waren erwacht; die Flamme des Aufruhrs war da und dort emporgezüngelt, und an mehr als einem Orte war in erbittertem Kampfe Bürgerblut geflossen. Ich selbst hatte mich eines Tages auf dem Wege zum Vesuv in einem der Vororte Neapels plötzlich inmitten eines Volks¬ haufens befunden, der eine Reiterpatrouille von fünf Dragonern mit Knütteln und Steinen umringte und bedrohte. Neapel glich noch lange darnach einem Kriegslager; auf allen Plätzen sah man kampirende Schwadronen, sogar Kanonen waren aufgefahren. Diese düstern Bilder verschwanden, als ich eines Tages den militärisch besetzten Bahnhof Neapels verließ, um über Caserta und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/366>, abgerufen am 28.07.2024.