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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

Über die Predigt schreibt ein "christlicher" Arbeiter: "Wird die Predigt
in natürlichem Sinne gehalten, so geht man gehoben und befriedigt aus der
Kirche, wird sie dagegen in alttestamentlichen Sinne gehalten, so sagt man
sich: das kann ich nicht glauben, und verliert die Liebe zu derselben." Ein
gleichfalls christlich Gesinnter schreibt: "Die Predigten, deren Inhalt irgendwie
aktuell ins weitere Leben eingreifen, die die christliche Gesinnung und deren
Bethätigung im Leben in den Vordergrund stellen, dabei frei sind von spitz¬
findigen Untersuchungen oder Glaubensfragen, sind mir die liebsten." Ein
andrer: "Eine Predigt mit Beispielen aus dem täglichen Leben wird von mir
und meiner Frau gern gehört und hat wahrlich Wert." Und noch einer:
"Die Predigt hat nur Wert, wenn Reichen und Armen gleichzeitig ihr Zu¬
stand vorgehalten wird." Rade bemerkt hierzu, daß das "Eingehen auf das
Leben" mehrfach verlangt, die Forderung "einer eigentlich sozialen" Predigt
weniger häufig gestellt werde. Wer die Gedankenwelt der Arbeiter kennt, wie
sie wirklich ist, wird das leicht erklären. Der moderne Begriff der eigentlichen
sozialen Predigt ist ihr eben fremd.

Die Urteile über die christlichen Feste sind zum großen Teil beeinflußt
durch die bekannte sozialdemokratische Belehrung, wie sie in folgender Antwort
zum Ausdruck kommt: "Waren im Anfang Naturfeste (Wintersonnenwende.
Feste der Göttin Ostera usw.). Haben nur den Wert, daß man sich mal ein
Paar Tage erholen kann." Ob diese Antworten es rechtfertigen, wie Rade
thut, fast bewundernd auszurufen: "Eine Renaissance der vorchristlichen heid¬
nischen Festgedanken hat sich bis in die sonst christlich bestimmte Arbeiterschaft
dank der sozialdemokratischen Aufklärung durchsetzt," ist doch fraglich. Aber man
macht nun einmal heute gern aus Mücken Wundertiere. Ein christlicher Arbeiter
schreibt: "Die Geburt Christi füllt auf den 25. Dezember, also Weihnachten,
auf Ostern der Todestag. Die Feste in diesem Sinne zu feiern halte ich für
gut. Aber mit Pfingsten weiß ich nicht recht, was ich damit anfangen soll."

Die Taufe hat, wie Rade mit Recht bemerkt, nach den Antworten auch
für die befragten christlichen Arbeiter "alles eigentlich sakramentale" verloren.
Dagegen findet die Konfirmation in vielen Antworten hohe Wertschätzung.
Ein Arbeiter bemerkt dazu: "Ich wünschte, die berufnen Seelsorger würden
sich ernstlich gegen die Unsitte, um nicht zu sagen Unfug, richten, der diesen
Tag und diesen Akt durch Feste. Tanz, Schmausereien und unsinniges Schenken
seiner Weihe beraubt." Und ein andrer: "Die Konfirmation, insofern sie über
den Rahmen, den Kindern noch einmal vor ihrem Austritt aus der Schule
die Lehrsätze ihrer Religion einzuprägen, hinausgeht und den Kindern ein
Gelöbnis abnimmt, das zu geben sie oft nicht imstande sind, halte ich nicht
für angebracht."

Über die Bibel schreibt ein Sozialdemokrat: "Ein Werk, das großen Wert
haben könnte, wenn darnach gelebt und gehandelt würde! Aber die heutige


Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

Über die Predigt schreibt ein „christlicher" Arbeiter: „Wird die Predigt
in natürlichem Sinne gehalten, so geht man gehoben und befriedigt aus der
Kirche, wird sie dagegen in alttestamentlichen Sinne gehalten, so sagt man
sich: das kann ich nicht glauben, und verliert die Liebe zu derselben." Ein
gleichfalls christlich Gesinnter schreibt: „Die Predigten, deren Inhalt irgendwie
aktuell ins weitere Leben eingreifen, die die christliche Gesinnung und deren
Bethätigung im Leben in den Vordergrund stellen, dabei frei sind von spitz¬
findigen Untersuchungen oder Glaubensfragen, sind mir die liebsten." Ein
andrer: „Eine Predigt mit Beispielen aus dem täglichen Leben wird von mir
und meiner Frau gern gehört und hat wahrlich Wert." Und noch einer:
„Die Predigt hat nur Wert, wenn Reichen und Armen gleichzeitig ihr Zu¬
stand vorgehalten wird." Rade bemerkt hierzu, daß das „Eingehen auf das
Leben" mehrfach verlangt, die Forderung „einer eigentlich sozialen" Predigt
weniger häufig gestellt werde. Wer die Gedankenwelt der Arbeiter kennt, wie
sie wirklich ist, wird das leicht erklären. Der moderne Begriff der eigentlichen
sozialen Predigt ist ihr eben fremd.

Die Urteile über die christlichen Feste sind zum großen Teil beeinflußt
durch die bekannte sozialdemokratische Belehrung, wie sie in folgender Antwort
zum Ausdruck kommt: „Waren im Anfang Naturfeste (Wintersonnenwende.
Feste der Göttin Ostera usw.). Haben nur den Wert, daß man sich mal ein
Paar Tage erholen kann." Ob diese Antworten es rechtfertigen, wie Rade
thut, fast bewundernd auszurufen: „Eine Renaissance der vorchristlichen heid¬
nischen Festgedanken hat sich bis in die sonst christlich bestimmte Arbeiterschaft
dank der sozialdemokratischen Aufklärung durchsetzt," ist doch fraglich. Aber man
macht nun einmal heute gern aus Mücken Wundertiere. Ein christlicher Arbeiter
schreibt: „Die Geburt Christi füllt auf den 25. Dezember, also Weihnachten,
auf Ostern der Todestag. Die Feste in diesem Sinne zu feiern halte ich für
gut. Aber mit Pfingsten weiß ich nicht recht, was ich damit anfangen soll."

Die Taufe hat, wie Rade mit Recht bemerkt, nach den Antworten auch
für die befragten christlichen Arbeiter „alles eigentlich sakramentale" verloren.
Dagegen findet die Konfirmation in vielen Antworten hohe Wertschätzung.
Ein Arbeiter bemerkt dazu: „Ich wünschte, die berufnen Seelsorger würden
sich ernstlich gegen die Unsitte, um nicht zu sagen Unfug, richten, der diesen
Tag und diesen Akt durch Feste. Tanz, Schmausereien und unsinniges Schenken
seiner Weihe beraubt." Und ein andrer: „Die Konfirmation, insofern sie über
den Rahmen, den Kindern noch einmal vor ihrem Austritt aus der Schule
die Lehrsätze ihrer Religion einzuprägen, hinausgeht und den Kindern ein
Gelöbnis abnimmt, das zu geben sie oft nicht imstande sind, halte ich nicht
für angebracht."

Über die Bibel schreibt ein Sozialdemokrat: „Ein Werk, das großen Wert
haben könnte, wenn darnach gelebt und gehandelt würde! Aber die heutige


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[0357] Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses Über die Predigt schreibt ein „christlicher" Arbeiter: „Wird die Predigt in natürlichem Sinne gehalten, so geht man gehoben und befriedigt aus der Kirche, wird sie dagegen in alttestamentlichen Sinne gehalten, so sagt man sich: das kann ich nicht glauben, und verliert die Liebe zu derselben." Ein gleichfalls christlich Gesinnter schreibt: „Die Predigten, deren Inhalt irgendwie aktuell ins weitere Leben eingreifen, die die christliche Gesinnung und deren Bethätigung im Leben in den Vordergrund stellen, dabei frei sind von spitz¬ findigen Untersuchungen oder Glaubensfragen, sind mir die liebsten." Ein andrer: „Eine Predigt mit Beispielen aus dem täglichen Leben wird von mir und meiner Frau gern gehört und hat wahrlich Wert." Und noch einer: „Die Predigt hat nur Wert, wenn Reichen und Armen gleichzeitig ihr Zu¬ stand vorgehalten wird." Rade bemerkt hierzu, daß das „Eingehen auf das Leben" mehrfach verlangt, die Forderung „einer eigentlich sozialen" Predigt weniger häufig gestellt werde. Wer die Gedankenwelt der Arbeiter kennt, wie sie wirklich ist, wird das leicht erklären. Der moderne Begriff der eigentlichen sozialen Predigt ist ihr eben fremd. Die Urteile über die christlichen Feste sind zum großen Teil beeinflußt durch die bekannte sozialdemokratische Belehrung, wie sie in folgender Antwort zum Ausdruck kommt: „Waren im Anfang Naturfeste (Wintersonnenwende. Feste der Göttin Ostera usw.). Haben nur den Wert, daß man sich mal ein Paar Tage erholen kann." Ob diese Antworten es rechtfertigen, wie Rade thut, fast bewundernd auszurufen: „Eine Renaissance der vorchristlichen heid¬ nischen Festgedanken hat sich bis in die sonst christlich bestimmte Arbeiterschaft dank der sozialdemokratischen Aufklärung durchsetzt," ist doch fraglich. Aber man macht nun einmal heute gern aus Mücken Wundertiere. Ein christlicher Arbeiter schreibt: „Die Geburt Christi füllt auf den 25. Dezember, also Weihnachten, auf Ostern der Todestag. Die Feste in diesem Sinne zu feiern halte ich für gut. Aber mit Pfingsten weiß ich nicht recht, was ich damit anfangen soll." Die Taufe hat, wie Rade mit Recht bemerkt, nach den Antworten auch für die befragten christlichen Arbeiter „alles eigentlich sakramentale" verloren. Dagegen findet die Konfirmation in vielen Antworten hohe Wertschätzung. Ein Arbeiter bemerkt dazu: „Ich wünschte, die berufnen Seelsorger würden sich ernstlich gegen die Unsitte, um nicht zu sagen Unfug, richten, der diesen Tag und diesen Akt durch Feste. Tanz, Schmausereien und unsinniges Schenken seiner Weihe beraubt." Und ein andrer: „Die Konfirmation, insofern sie über den Rahmen, den Kindern noch einmal vor ihrem Austritt aus der Schule die Lehrsätze ihrer Religion einzuprägen, hinausgeht und den Kindern ein Gelöbnis abnimmt, das zu geben sie oft nicht imstande sind, halte ich nicht für angebracht." Über die Bibel schreibt ein Sozialdemokrat: „Ein Werk, das großen Wert haben könnte, wenn darnach gelebt und gehandelt würde! Aber die heutige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/357>, abgerufen am 28.07.2024.