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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die große Kunstausstellung in Berlin

treten. Sie kommen nur, wenn man Jagd auf sie macht, was ja die Ver¬
anstalter der vorjährigen Dresdner Ausstellung mit ganz ungewöhnlichem
Erfolge gethan haben. In Berlin ist man schon mit Franz Courtens und
H. W. Mesdag zufrieden. Mesdag hat übrigens seinen Naturalismus in den
letzten Jahren zu einer künstlerischen Ruhe abgeklärt, durch die er bisweilen,
wie z. B. bei der Nacht auf dem holländischen Diep, sogar zu großartigen
Wirkungen gelangt, wenn der Beschauer nur die Vorsicht anwendet, bei der
Betrachtung seiner Bilder einen gehörigen Abstand zu nehmen. Auch bei dem
Belgier Courteus ist diese Vorsicht dringend nötig. Dann wird man gewahr,
daß uuter der rauhen naturalistischen Hülle eine feingestimmte, für Poesie em¬
pfängliche Seele lebt, die es nicht verschmäht, gelegentlich auch in Mondschein¬
lyrik zu schwelgen. Der Dordrechter Landschaftsmaler B. M. Koldewey, der
Amsterdamer H. W. Jansen, der meist Straßenansichten zur Herbst- und
Winterszeit bei trübem, schwerem Himmel malt, und der belgische Genre- und
Landschaftsmaler Evarist Carpentier sind Vertreter einer frischen, gesunden
Naturanschauung, die mit ihrer schlichten Wahrheitsliebe poetische Empfindungen
wohl vereinbar halten. Bei Constantin Meuuier, der, wie bekannt, Bildhauer
und Maler zugleich ist, scheint jede Hoffnung, daß auf seiue traurigen Menschen
und seine trübseligen Landschaften jemals ein Schimmer von Poesie fallen werde,
ausgeschlossen zu sein. Er ist auf unsrer Ausstellung, da ein großer Teil
seiner Bildwerke und Malereien erst im vorigen Herbst dem Berliner Publikum
durch die Kunsthandlung von Keller und Reiner vorgeführt worden ist, nur
mit einer Pastellzeichnung vertreten, einem grau-grünen, in ein graues Dämmer¬
licht gehüllten Ausschnitt aus dem belgischen Kohlen- und Fabrikzentrum im
Hennegau, mit einer Brücke in der Mitte. Diese eine Probe seiner Kunst
genügt aber, um die, die mehr oder vielleicht gar alles von ihm kennen, daran
zu erinnern, daß Meuuier, wie hoch oder wie niedrig man ihn schätzen mag,
jedenfalls einer der einseitigsten Künstler unsrer Zeit ist. Wenn er wirklich,
wie seine Verehrer behaupten, ein Idealist ist, so hat sein Ideal jedenfalls
keine Flügel. Es kriecht am Boden und wälzt sich im Staube. Selbst für
die Phantasie ist in Meuniers Schöpfungen kein Raum. Er hängt an feinen
Modellen, und selbst wenn er den Versuch macht, sich über ihre Welt zu er¬
heben und Gegenstände aus der evangelischen Geschichte darzustellen, wie z. B.
die Rückkehr des Verlornen Sohnes oder den am Kreuze sterbenden Heiland,
so bekommen wir immer nur die von Arbeit und Entbehrung aufgeriebnen,
vertrockneten und verkümmerten Gestalten zu sehen, die, mit Binsen, Schurz¬
fellen und Holzschuhen bekleidet, schon in langen Prozessionen an uns vorüber-
gewandelt sind. Der wahrhaft große Künstler steht über seinem Stoff. Sein
hoher Standpunkt bewahrt ihn vor Einseitigkeit und Engherzigkeit, und so lange
Meuuier nicht die Kraft gewinnt, sich zu dieser Freiheit und Unabhängigkeit
zu erheben, wird man ihn nicht zu den großen Künstlern zählen dürfen.


Die große Kunstausstellung in Berlin

treten. Sie kommen nur, wenn man Jagd auf sie macht, was ja die Ver¬
anstalter der vorjährigen Dresdner Ausstellung mit ganz ungewöhnlichem
Erfolge gethan haben. In Berlin ist man schon mit Franz Courtens und
H. W. Mesdag zufrieden. Mesdag hat übrigens seinen Naturalismus in den
letzten Jahren zu einer künstlerischen Ruhe abgeklärt, durch die er bisweilen,
wie z. B. bei der Nacht auf dem holländischen Diep, sogar zu großartigen
Wirkungen gelangt, wenn der Beschauer nur die Vorsicht anwendet, bei der
Betrachtung seiner Bilder einen gehörigen Abstand zu nehmen. Auch bei dem
Belgier Courteus ist diese Vorsicht dringend nötig. Dann wird man gewahr,
daß uuter der rauhen naturalistischen Hülle eine feingestimmte, für Poesie em¬
pfängliche Seele lebt, die es nicht verschmäht, gelegentlich auch in Mondschein¬
lyrik zu schwelgen. Der Dordrechter Landschaftsmaler B. M. Koldewey, der
Amsterdamer H. W. Jansen, der meist Straßenansichten zur Herbst- und
Winterszeit bei trübem, schwerem Himmel malt, und der belgische Genre- und
Landschaftsmaler Evarist Carpentier sind Vertreter einer frischen, gesunden
Naturanschauung, die mit ihrer schlichten Wahrheitsliebe poetische Empfindungen
wohl vereinbar halten. Bei Constantin Meuuier, der, wie bekannt, Bildhauer
und Maler zugleich ist, scheint jede Hoffnung, daß auf seiue traurigen Menschen
und seine trübseligen Landschaften jemals ein Schimmer von Poesie fallen werde,
ausgeschlossen zu sein. Er ist auf unsrer Ausstellung, da ein großer Teil
seiner Bildwerke und Malereien erst im vorigen Herbst dem Berliner Publikum
durch die Kunsthandlung von Keller und Reiner vorgeführt worden ist, nur
mit einer Pastellzeichnung vertreten, einem grau-grünen, in ein graues Dämmer¬
licht gehüllten Ausschnitt aus dem belgischen Kohlen- und Fabrikzentrum im
Hennegau, mit einer Brücke in der Mitte. Diese eine Probe seiner Kunst
genügt aber, um die, die mehr oder vielleicht gar alles von ihm kennen, daran
zu erinnern, daß Meuuier, wie hoch oder wie niedrig man ihn schätzen mag,
jedenfalls einer der einseitigsten Künstler unsrer Zeit ist. Wenn er wirklich,
wie seine Verehrer behaupten, ein Idealist ist, so hat sein Ideal jedenfalls
keine Flügel. Es kriecht am Boden und wälzt sich im Staube. Selbst für
die Phantasie ist in Meuniers Schöpfungen kein Raum. Er hängt an feinen
Modellen, und selbst wenn er den Versuch macht, sich über ihre Welt zu er¬
heben und Gegenstände aus der evangelischen Geschichte darzustellen, wie z. B.
die Rückkehr des Verlornen Sohnes oder den am Kreuze sterbenden Heiland,
so bekommen wir immer nur die von Arbeit und Entbehrung aufgeriebnen,
vertrockneten und verkümmerten Gestalten zu sehen, die, mit Binsen, Schurz¬
fellen und Holzschuhen bekleidet, schon in langen Prozessionen an uns vorüber-
gewandelt sind. Der wahrhaft große Künstler steht über seinem Stoff. Sein
hoher Standpunkt bewahrt ihn vor Einseitigkeit und Engherzigkeit, und so lange
Meuuier nicht die Kraft gewinnt, sich zu dieser Freiheit und Unabhängigkeit
zu erheben, wird man ihn nicht zu den großen Künstlern zählen dürfen.


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[0035] Die große Kunstausstellung in Berlin treten. Sie kommen nur, wenn man Jagd auf sie macht, was ja die Ver¬ anstalter der vorjährigen Dresdner Ausstellung mit ganz ungewöhnlichem Erfolge gethan haben. In Berlin ist man schon mit Franz Courtens und H. W. Mesdag zufrieden. Mesdag hat übrigens seinen Naturalismus in den letzten Jahren zu einer künstlerischen Ruhe abgeklärt, durch die er bisweilen, wie z. B. bei der Nacht auf dem holländischen Diep, sogar zu großartigen Wirkungen gelangt, wenn der Beschauer nur die Vorsicht anwendet, bei der Betrachtung seiner Bilder einen gehörigen Abstand zu nehmen. Auch bei dem Belgier Courteus ist diese Vorsicht dringend nötig. Dann wird man gewahr, daß uuter der rauhen naturalistischen Hülle eine feingestimmte, für Poesie em¬ pfängliche Seele lebt, die es nicht verschmäht, gelegentlich auch in Mondschein¬ lyrik zu schwelgen. Der Dordrechter Landschaftsmaler B. M. Koldewey, der Amsterdamer H. W. Jansen, der meist Straßenansichten zur Herbst- und Winterszeit bei trübem, schwerem Himmel malt, und der belgische Genre- und Landschaftsmaler Evarist Carpentier sind Vertreter einer frischen, gesunden Naturanschauung, die mit ihrer schlichten Wahrheitsliebe poetische Empfindungen wohl vereinbar halten. Bei Constantin Meuuier, der, wie bekannt, Bildhauer und Maler zugleich ist, scheint jede Hoffnung, daß auf seiue traurigen Menschen und seine trübseligen Landschaften jemals ein Schimmer von Poesie fallen werde, ausgeschlossen zu sein. Er ist auf unsrer Ausstellung, da ein großer Teil seiner Bildwerke und Malereien erst im vorigen Herbst dem Berliner Publikum durch die Kunsthandlung von Keller und Reiner vorgeführt worden ist, nur mit einer Pastellzeichnung vertreten, einem grau-grünen, in ein graues Dämmer¬ licht gehüllten Ausschnitt aus dem belgischen Kohlen- und Fabrikzentrum im Hennegau, mit einer Brücke in der Mitte. Diese eine Probe seiner Kunst genügt aber, um die, die mehr oder vielleicht gar alles von ihm kennen, daran zu erinnern, daß Meuuier, wie hoch oder wie niedrig man ihn schätzen mag, jedenfalls einer der einseitigsten Künstler unsrer Zeit ist. Wenn er wirklich, wie seine Verehrer behaupten, ein Idealist ist, so hat sein Ideal jedenfalls keine Flügel. Es kriecht am Boden und wälzt sich im Staube. Selbst für die Phantasie ist in Meuniers Schöpfungen kein Raum. Er hängt an feinen Modellen, und selbst wenn er den Versuch macht, sich über ihre Welt zu er¬ heben und Gegenstände aus der evangelischen Geschichte darzustellen, wie z. B. die Rückkehr des Verlornen Sohnes oder den am Kreuze sterbenden Heiland, so bekommen wir immer nur die von Arbeit und Entbehrung aufgeriebnen, vertrockneten und verkümmerten Gestalten zu sehen, die, mit Binsen, Schurz¬ fellen und Holzschuhen bekleidet, schon in langen Prozessionen an uns vorüber- gewandelt sind. Der wahrhaft große Künstler steht über seinem Stoff. Sein hoher Standpunkt bewahrt ihn vor Einseitigkeit und Engherzigkeit, und so lange Meuuier nicht die Kraft gewinnt, sich zu dieser Freiheit und Unabhängigkeit zu erheben, wird man ihn nicht zu den großen Künstlern zählen dürfen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/35>, abgerufen am 01.09.2024.