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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

kleidung, Wertpapieren, Orden, Titeln, Vetter- und Schwägerschaften, einflu߬
reichen Beziehungen, gesellschaftlichen Umgangsformen. In diesem Wust kann
eine Persönlichkeit stecken, die sich aller dieser Dinge zu vernünftigen und guten
Zwecken zu bedienen weiß, wenn es ihr auch schwer genug wird, sich darin zu
behaupten; aber steckt keine darin, ist der Träger des Aufputzes nur ein Holz¬
stock, ähnlich denen, die in den Schaufenstern die "Costümes" tragen, so
Schädels auch nichts; der Inhaber des Krams genießt denselben Grad von
Ehre bei Lebzeiten wie bei seinem prunkvollen Begräbnis. Auch von dieser
Seite gesehen, erscheint das Christentum, nämlich das Christentum des Neuen
Testaments, als die Vollendung des Hellenentums. Es besteht gar kein Gegen¬
satz zwischen den beiden; ein Gegensatz besteht nur zwischen der antik-christlichen
und der modernen Welt. Ein Professor der Nationalökonomie, ich will ihn
nicht nennen, hat denn auch richtig herausgefunden, daß es der antik-christ¬
lichen Welt an der wahren und echten Sittlichkeit gefehlt habe, weil sie den
Wert des Reichtums nicht anerkannt habe; auf die höchste Stufe der Sittlich¬
keit habe sich erst unsre heutige Zeit geschwungen, die den Mammon gebührend
würdige. Und die läßt ja auch in dieser Beziehung wirklich nichts zu wünschen
übrig. Aber Nietzsche sehnte sich aus diesem Wust und Prunk heraus zur
antiken Einfachheit und schlichten Größe zurück und verstieg sich, da er keine
großen Menschen fand, in die großen Berge von Sils-Maria und in Zara-
thustraträume; er übersah dabei namentlich, daß dem Übel durch Züchtung
eines höhern Menschen, selbst wenn sie möglich wäre, nicht abzuhelfen sein
würde, sondern daß dazu eine Vereinfachung unsrer gesellschaftlichen Verwick¬
lungen erforderlich wäre.

Seine Schwester versichert uns, daß es rein körperliche Ursachen sind,
die sein Gehirn zerstört haben, und ich glaube es, aber auch ohne Morphium
würde er in der Gefahr des Wahnsinns geschwebt haben. Wenn ein Mann
so klar, so folgerichtig denkt wie Nietzsche und anstatt seine Thätigkeit nach
außen zu richten sich in sein Inneres verbohrt, dann muß ihn der Atheismus
wahnsinnig machen. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen ist glücklicherweise
-- so drückt sich Nietzsche selbst einmal aus -- gedankenlos und oberflächlich.
Dadurch wird es möglich, daß sich der gläubige Biedermann, den sein ortho¬
doxer Kirchenglaube eigentlich ins Trappistenklvster treiben müßte, seinen guten
Tropfen schmecken lassen und in lustiger Gesellschaft ein Bäuchlein anmästen
kann, und daß der ungläubige Biedermann, den der Gedanke an den alles
beherrschenden Zufall, an die Zwecklosigkeit des Daseins") und an das hinter
den trügerischen Erscheinungen gähnende Nichts zur Verzweiflung bringen



"Alle Ziele sind vernichtet." XII, 200. "Noch hat die Menschheit kein Ziel. Aber
sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch --
sie selber noch?" VI, 87.
Friedrich Nietzsche

kleidung, Wertpapieren, Orden, Titeln, Vetter- und Schwägerschaften, einflu߬
reichen Beziehungen, gesellschaftlichen Umgangsformen. In diesem Wust kann
eine Persönlichkeit stecken, die sich aller dieser Dinge zu vernünftigen und guten
Zwecken zu bedienen weiß, wenn es ihr auch schwer genug wird, sich darin zu
behaupten; aber steckt keine darin, ist der Träger des Aufputzes nur ein Holz¬
stock, ähnlich denen, die in den Schaufenstern die „Costümes" tragen, so
Schädels auch nichts; der Inhaber des Krams genießt denselben Grad von
Ehre bei Lebzeiten wie bei seinem prunkvollen Begräbnis. Auch von dieser
Seite gesehen, erscheint das Christentum, nämlich das Christentum des Neuen
Testaments, als die Vollendung des Hellenentums. Es besteht gar kein Gegen¬
satz zwischen den beiden; ein Gegensatz besteht nur zwischen der antik-christlichen
und der modernen Welt. Ein Professor der Nationalökonomie, ich will ihn
nicht nennen, hat denn auch richtig herausgefunden, daß es der antik-christ¬
lichen Welt an der wahren und echten Sittlichkeit gefehlt habe, weil sie den
Wert des Reichtums nicht anerkannt habe; auf die höchste Stufe der Sittlich¬
keit habe sich erst unsre heutige Zeit geschwungen, die den Mammon gebührend
würdige. Und die läßt ja auch in dieser Beziehung wirklich nichts zu wünschen
übrig. Aber Nietzsche sehnte sich aus diesem Wust und Prunk heraus zur
antiken Einfachheit und schlichten Größe zurück und verstieg sich, da er keine
großen Menschen fand, in die großen Berge von Sils-Maria und in Zara-
thustraträume; er übersah dabei namentlich, daß dem Übel durch Züchtung
eines höhern Menschen, selbst wenn sie möglich wäre, nicht abzuhelfen sein
würde, sondern daß dazu eine Vereinfachung unsrer gesellschaftlichen Verwick¬
lungen erforderlich wäre.

Seine Schwester versichert uns, daß es rein körperliche Ursachen sind,
die sein Gehirn zerstört haben, und ich glaube es, aber auch ohne Morphium
würde er in der Gefahr des Wahnsinns geschwebt haben. Wenn ein Mann
so klar, so folgerichtig denkt wie Nietzsche und anstatt seine Thätigkeit nach
außen zu richten sich in sein Inneres verbohrt, dann muß ihn der Atheismus
wahnsinnig machen. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen ist glücklicherweise
— so drückt sich Nietzsche selbst einmal aus — gedankenlos und oberflächlich.
Dadurch wird es möglich, daß sich der gläubige Biedermann, den sein ortho¬
doxer Kirchenglaube eigentlich ins Trappistenklvster treiben müßte, seinen guten
Tropfen schmecken lassen und in lustiger Gesellschaft ein Bäuchlein anmästen
kann, und daß der ungläubige Biedermann, den der Gedanke an den alles
beherrschenden Zufall, an die Zwecklosigkeit des Daseins") und an das hinter
den trügerischen Erscheinungen gähnende Nichts zur Verzweiflung bringen



„Alle Ziele sind vernichtet." XII, 200. „Noch hat die Menschheit kein Ziel. Aber
sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch —
sie selber noch?" VI, 87.
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[0314] Friedrich Nietzsche kleidung, Wertpapieren, Orden, Titeln, Vetter- und Schwägerschaften, einflu߬ reichen Beziehungen, gesellschaftlichen Umgangsformen. In diesem Wust kann eine Persönlichkeit stecken, die sich aller dieser Dinge zu vernünftigen und guten Zwecken zu bedienen weiß, wenn es ihr auch schwer genug wird, sich darin zu behaupten; aber steckt keine darin, ist der Träger des Aufputzes nur ein Holz¬ stock, ähnlich denen, die in den Schaufenstern die „Costümes" tragen, so Schädels auch nichts; der Inhaber des Krams genießt denselben Grad von Ehre bei Lebzeiten wie bei seinem prunkvollen Begräbnis. Auch von dieser Seite gesehen, erscheint das Christentum, nämlich das Christentum des Neuen Testaments, als die Vollendung des Hellenentums. Es besteht gar kein Gegen¬ satz zwischen den beiden; ein Gegensatz besteht nur zwischen der antik-christlichen und der modernen Welt. Ein Professor der Nationalökonomie, ich will ihn nicht nennen, hat denn auch richtig herausgefunden, daß es der antik-christ¬ lichen Welt an der wahren und echten Sittlichkeit gefehlt habe, weil sie den Wert des Reichtums nicht anerkannt habe; auf die höchste Stufe der Sittlich¬ keit habe sich erst unsre heutige Zeit geschwungen, die den Mammon gebührend würdige. Und die läßt ja auch in dieser Beziehung wirklich nichts zu wünschen übrig. Aber Nietzsche sehnte sich aus diesem Wust und Prunk heraus zur antiken Einfachheit und schlichten Größe zurück und verstieg sich, da er keine großen Menschen fand, in die großen Berge von Sils-Maria und in Zara- thustraträume; er übersah dabei namentlich, daß dem Übel durch Züchtung eines höhern Menschen, selbst wenn sie möglich wäre, nicht abzuhelfen sein würde, sondern daß dazu eine Vereinfachung unsrer gesellschaftlichen Verwick¬ lungen erforderlich wäre. Seine Schwester versichert uns, daß es rein körperliche Ursachen sind, die sein Gehirn zerstört haben, und ich glaube es, aber auch ohne Morphium würde er in der Gefahr des Wahnsinns geschwebt haben. Wenn ein Mann so klar, so folgerichtig denkt wie Nietzsche und anstatt seine Thätigkeit nach außen zu richten sich in sein Inneres verbohrt, dann muß ihn der Atheismus wahnsinnig machen. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen ist glücklicherweise — so drückt sich Nietzsche selbst einmal aus — gedankenlos und oberflächlich. Dadurch wird es möglich, daß sich der gläubige Biedermann, den sein ortho¬ doxer Kirchenglaube eigentlich ins Trappistenklvster treiben müßte, seinen guten Tropfen schmecken lassen und in lustiger Gesellschaft ein Bäuchlein anmästen kann, und daß der ungläubige Biedermann, den der Gedanke an den alles beherrschenden Zufall, an die Zwecklosigkeit des Daseins") und an das hinter den trügerischen Erscheinungen gähnende Nichts zur Verzweiflung bringen „Alle Ziele sind vernichtet." XII, 200. „Noch hat die Menschheit kein Ziel. Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch — sie selber noch?" VI, 87.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/314>, abgerufen am 28.07.2024.