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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

im Kriege die Oberhand behalten wolle, der müsse auch seine Gedanken
verbergen, müsse wacker täuschen, betrügen, stehlen und rauben können.
Cyrus ruft lachend aus (bei Tenophon wird sehr viel gelacht, und nie bei
unpassender Gelegenheit; ein Beweis für die geistige Gesundheit seiner Volks¬
genossen): Guter Gott, was für ein Mensch, sagst du, soll ich sein? Der
Vater macht ihm klar, daß er ein solcher Lügner, Betrüger und Räuber schon
gewesen sei, nämlich auf der Jagd, wo er die Hasen, Hirsche, Wildschweine,
Bären und Löwen mit allerlei Listen in seine Gewalt bekommen habe. -- Ja,
das seien doch Tiere, keine Menschen. -- Nun, die Jagd sei nur eine Vor¬
übung sür den Krieg, wo dieselben schlimmen Künste gegen Menschen angewandt
würden. -- Aber gegen Menschen, so seien sie doch als Knaben belehrt worden,
müsse man stets wahrhaft, ehrlich und gerecht sein. -- Dasselbe sage man
ihnen auch heute noch; nämlich gegen Freunde und Volksgenossen müsse man
sich so verhalten. -- Warum man ihnen das nicht von Anfang an gesagt
habe, daß, je nach Umständen, die Pflichten verschieden seien, und daß man
dem einen Menschen Gutes, dem andern Übles erweisen müsse? -- Es solle,
erwidert der Bater, in der That Erzieher gegeben haben, die die Knaben
sowohl die Gerechtigkeit als die Ungerechtigkeit lehrten und so weit gingen,
ihren Zöglingen zu sagen, auch den Freund dürfe man belügen, betrügen und
bestehlen, wenn es zu seinem Besten gereiche. Diese Lehre habe nun natürlich
auch praktisch eingeübt werden müssen, dadurch wären aber die von Natur
Schlauen gewohnheitsmäßige Betrüger und Diebe geworden. Deshalb habe
man beschlossen, der Jugend die Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit schlechthin
anzubefehlen und sie erst, wenn sie zum Mannesalter gelangt sei, auch im
Kriegsrecht zu unterweisen; nachdem sie in der Gerechtigkeit und im Wohl¬
wollen fest geworden sei, habe man wohl nicht mehr zu befürchten, daß sie
durch das, was der Krieg fordre, lieblos und ungerecht gegen die Mitbürger
werde.") So rede man ja auch vom Erotischen nicht zu früh mit den Knaben,
damit nicht zur heftigen Begierde auch noch die Leichtfertigkeit hinzukomme
und sie zu unmäßigem Genuß stachle. Noch merkwürdiger als diese pädago¬
gische Betrachtung Xenophons erscheint mir der Umstand, daß sie bis ans den
heutigen Tag ganz unbeachtet geblieben ist. Es geht eben den alten Klassikern
wie der Bibel; sie werden viel beräuchert aber wenig gelesen, und wenn ge¬
lesen, mit wenig Verstand und Nutzen.

Nietzsche hat sich ein Verdienst dadurch erworben, daß er in seiner Feind¬
schaft gegen das, was er für Christentum hielt, rücksichtsloser als andre die
Schäden aufgedeckt hat, an denen die Christenheit leidet, und die dadurch



Der Cyrus des Xenophon ist dann trotzdem auch im Kriege ein Muster der Humanität.
Diesem Ideal haben die Griechen in der Behandlung ihrer Feinde freilich nicht ganz entsprochen,
aber solche Greuel, wie sie die Christen in ihren Kriegen an Christen verübt haben, sind bei
ihnen niemals vorgekommen.
Friedrich Nietzsche

im Kriege die Oberhand behalten wolle, der müsse auch seine Gedanken
verbergen, müsse wacker täuschen, betrügen, stehlen und rauben können.
Cyrus ruft lachend aus (bei Tenophon wird sehr viel gelacht, und nie bei
unpassender Gelegenheit; ein Beweis für die geistige Gesundheit seiner Volks¬
genossen): Guter Gott, was für ein Mensch, sagst du, soll ich sein? Der
Vater macht ihm klar, daß er ein solcher Lügner, Betrüger und Räuber schon
gewesen sei, nämlich auf der Jagd, wo er die Hasen, Hirsche, Wildschweine,
Bären und Löwen mit allerlei Listen in seine Gewalt bekommen habe. — Ja,
das seien doch Tiere, keine Menschen. — Nun, die Jagd sei nur eine Vor¬
übung sür den Krieg, wo dieselben schlimmen Künste gegen Menschen angewandt
würden. — Aber gegen Menschen, so seien sie doch als Knaben belehrt worden,
müsse man stets wahrhaft, ehrlich und gerecht sein. — Dasselbe sage man
ihnen auch heute noch; nämlich gegen Freunde und Volksgenossen müsse man
sich so verhalten. — Warum man ihnen das nicht von Anfang an gesagt
habe, daß, je nach Umständen, die Pflichten verschieden seien, und daß man
dem einen Menschen Gutes, dem andern Übles erweisen müsse? — Es solle,
erwidert der Bater, in der That Erzieher gegeben haben, die die Knaben
sowohl die Gerechtigkeit als die Ungerechtigkeit lehrten und so weit gingen,
ihren Zöglingen zu sagen, auch den Freund dürfe man belügen, betrügen und
bestehlen, wenn es zu seinem Besten gereiche. Diese Lehre habe nun natürlich
auch praktisch eingeübt werden müssen, dadurch wären aber die von Natur
Schlauen gewohnheitsmäßige Betrüger und Diebe geworden. Deshalb habe
man beschlossen, der Jugend die Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit schlechthin
anzubefehlen und sie erst, wenn sie zum Mannesalter gelangt sei, auch im
Kriegsrecht zu unterweisen; nachdem sie in der Gerechtigkeit und im Wohl¬
wollen fest geworden sei, habe man wohl nicht mehr zu befürchten, daß sie
durch das, was der Krieg fordre, lieblos und ungerecht gegen die Mitbürger
werde.") So rede man ja auch vom Erotischen nicht zu früh mit den Knaben,
damit nicht zur heftigen Begierde auch noch die Leichtfertigkeit hinzukomme
und sie zu unmäßigem Genuß stachle. Noch merkwürdiger als diese pädago¬
gische Betrachtung Xenophons erscheint mir der Umstand, daß sie bis ans den
heutigen Tag ganz unbeachtet geblieben ist. Es geht eben den alten Klassikern
wie der Bibel; sie werden viel beräuchert aber wenig gelesen, und wenn ge¬
lesen, mit wenig Verstand und Nutzen.

Nietzsche hat sich ein Verdienst dadurch erworben, daß er in seiner Feind¬
schaft gegen das, was er für Christentum hielt, rücksichtsloser als andre die
Schäden aufgedeckt hat, an denen die Christenheit leidet, und die dadurch



Der Cyrus des Xenophon ist dann trotzdem auch im Kriege ein Muster der Humanität.
Diesem Ideal haben die Griechen in der Behandlung ihrer Feinde freilich nicht ganz entsprochen,
aber solche Greuel, wie sie die Christen in ihren Kriegen an Christen verübt haben, sind bei
ihnen niemals vorgekommen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/308>, abgerufen am 28.07.2024.