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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Sie Verhandlungen des nennten Evangelisch-sozialen Kongresses

Stieda scheint sich mit noch zwei weitern Sätzen über solche Bedenken
hinwegzusetzen, erstens, indem er sagt, daß die Hauptsache im Wesen dieser
Vereine doch immer bleibe: "die gegenseitige Unterstützung mit Rat und That,
mit freundlichem, gut gemeintem Zuspruch, mit materiellem Kapital," und
zweitens mit der Behauptung Dietzels, "daß eine Arbeiterschaft, von der ein
beträchtlicher Teil in beruflich exklusiven Verbänden organisirt ist, ein weit
spröderes Material für die Sozialdemokratie darstellen wird, als das jetzt der
Fall ist." Wie will er denn aber diese Sätze beweisen, und wie sind sie bisher
von ihm bewiesen worden? Um das, was die Theorie als "Wesen" der Ar¬
beitervereine bezeichnet, kümmert sich die Wirklichkeit gar nicht. Der Praktiker
Tischendörfer trat auch hier wieder der Theorie Stiedas, "die Arbeiter¬
vereine sind zunächst keine Kampfvereine," kurz und bündig mit dem Wort
entgegen: "Das ist nach meiner Meinung nicht richtig." Namentlich aber übte
Professor Delbrück eine sehr beachtenswerte Kritik an beiden Sätzen und an
der ganzen Stellung des Vortragenden zur Arbeiterorganisation.

"Es ist wirklich wahr, sagte Delbrück, auch der Gewerkverein schützt uns
nicht vor Streiks -- im Gegenteil, er ruft sie hervor und weiß sie nicht auf
vernünftige Weise schnell zu Ende zu bringen. Es ist kein Allheilmittel im
Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das wundert mich nicht,
denn die ständischen gewerklichen Organisationen, deren Vorteile gepriesen
werden, haben auch die ungeheure Schwäche, daß sie den Standesgeist auf die
Spitze treiben." Wir hätten -- fuhr er fort -- ein klassisches Beispiel an
der Organisation unsrer Landwirte, unsrer Agrarier. Die enge Verbindung
mit dem Boden, die durch den ererbten Besitz das Standesinteresse von selber
fortpflanze, habe bisher die Grundbesitzer ganz besonders geeignet erscheinen
lassen zur konservativen verstündigen Grundlage für die gesamte Staatsver¬
waltung und Staatsauffassung. Und was hätten wir jetzt für ein Schauspiel?
Gerade dieser Stand, der für den konservativsten von allen gelte, sei heute
demagogischer als irgend ein andrer. Und das sei natürlich, denn wenn ein
Stand sich erst in sich selbst vereinige und sein Interesse an die Spitze stelle,
würden immer die leidenschaftlichen Menschen die Führung übernehmen. Die
die größten Forderungen stellten, denen würde zugejubelt, und der die extremsten
Ansichten aufgestellt habe, der sei der allerbeliebteste. Wenn das bei den Land¬
wirten geschehe, was sollten wir dann von der Arbeiterschaft erwarten? "Sie
wird auch organisirt nicht vernünftig werden," sagt Delbrück wörtlich. Ein
wirkliches Mittel zum Frieden zwischen Kapital und Arbeiterschaft sei in den
Gewerkschaften nicht gegeben. Das müßte der Evangelisch-soziale Kongreß
aussprechen, und er müßte weiter zugeben, "daß eine derartig organisirte
Arbeiterschaft eine große Gefahr sei für das gewerbliche Leben."

Was Delbrück sich gedacht hat, wenn er trotzdem eine Reform des geltenden
Rechts zu Gunsten der Gewerkvereine für notwendig und unvermeidlich erklärt,
ist schwer zu ergründen. Auch er hat nicht gesagt, was er eigentlich will,


Sie Verhandlungen des nennten Evangelisch-sozialen Kongresses

Stieda scheint sich mit noch zwei weitern Sätzen über solche Bedenken
hinwegzusetzen, erstens, indem er sagt, daß die Hauptsache im Wesen dieser
Vereine doch immer bleibe: „die gegenseitige Unterstützung mit Rat und That,
mit freundlichem, gut gemeintem Zuspruch, mit materiellem Kapital," und
zweitens mit der Behauptung Dietzels, „daß eine Arbeiterschaft, von der ein
beträchtlicher Teil in beruflich exklusiven Verbänden organisirt ist, ein weit
spröderes Material für die Sozialdemokratie darstellen wird, als das jetzt der
Fall ist." Wie will er denn aber diese Sätze beweisen, und wie sind sie bisher
von ihm bewiesen worden? Um das, was die Theorie als „Wesen" der Ar¬
beitervereine bezeichnet, kümmert sich die Wirklichkeit gar nicht. Der Praktiker
Tischendörfer trat auch hier wieder der Theorie Stiedas, „die Arbeiter¬
vereine sind zunächst keine Kampfvereine," kurz und bündig mit dem Wort
entgegen: „Das ist nach meiner Meinung nicht richtig." Namentlich aber übte
Professor Delbrück eine sehr beachtenswerte Kritik an beiden Sätzen und an
der ganzen Stellung des Vortragenden zur Arbeiterorganisation.

„Es ist wirklich wahr, sagte Delbrück, auch der Gewerkverein schützt uns
nicht vor Streiks — im Gegenteil, er ruft sie hervor und weiß sie nicht auf
vernünftige Weise schnell zu Ende zu bringen. Es ist kein Allheilmittel im
Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das wundert mich nicht,
denn die ständischen gewerklichen Organisationen, deren Vorteile gepriesen
werden, haben auch die ungeheure Schwäche, daß sie den Standesgeist auf die
Spitze treiben." Wir hätten — fuhr er fort — ein klassisches Beispiel an
der Organisation unsrer Landwirte, unsrer Agrarier. Die enge Verbindung
mit dem Boden, die durch den ererbten Besitz das Standesinteresse von selber
fortpflanze, habe bisher die Grundbesitzer ganz besonders geeignet erscheinen
lassen zur konservativen verstündigen Grundlage für die gesamte Staatsver¬
waltung und Staatsauffassung. Und was hätten wir jetzt für ein Schauspiel?
Gerade dieser Stand, der für den konservativsten von allen gelte, sei heute
demagogischer als irgend ein andrer. Und das sei natürlich, denn wenn ein
Stand sich erst in sich selbst vereinige und sein Interesse an die Spitze stelle,
würden immer die leidenschaftlichen Menschen die Führung übernehmen. Die
die größten Forderungen stellten, denen würde zugejubelt, und der die extremsten
Ansichten aufgestellt habe, der sei der allerbeliebteste. Wenn das bei den Land¬
wirten geschehe, was sollten wir dann von der Arbeiterschaft erwarten? „Sie
wird auch organisirt nicht vernünftig werden," sagt Delbrück wörtlich. Ein
wirkliches Mittel zum Frieden zwischen Kapital und Arbeiterschaft sei in den
Gewerkschaften nicht gegeben. Das müßte der Evangelisch-soziale Kongreß
aussprechen, und er müßte weiter zugeben, „daß eine derartig organisirte
Arbeiterschaft eine große Gefahr sei für das gewerbliche Leben."

Was Delbrück sich gedacht hat, wenn er trotzdem eine Reform des geltenden
Rechts zu Gunsten der Gewerkvereine für notwendig und unvermeidlich erklärt,
ist schwer zu ergründen. Auch er hat nicht gesagt, was er eigentlich will,


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[0303] Sie Verhandlungen des nennten Evangelisch-sozialen Kongresses Stieda scheint sich mit noch zwei weitern Sätzen über solche Bedenken hinwegzusetzen, erstens, indem er sagt, daß die Hauptsache im Wesen dieser Vereine doch immer bleibe: „die gegenseitige Unterstützung mit Rat und That, mit freundlichem, gut gemeintem Zuspruch, mit materiellem Kapital," und zweitens mit der Behauptung Dietzels, „daß eine Arbeiterschaft, von der ein beträchtlicher Teil in beruflich exklusiven Verbänden organisirt ist, ein weit spröderes Material für die Sozialdemokratie darstellen wird, als das jetzt der Fall ist." Wie will er denn aber diese Sätze beweisen, und wie sind sie bisher von ihm bewiesen worden? Um das, was die Theorie als „Wesen" der Ar¬ beitervereine bezeichnet, kümmert sich die Wirklichkeit gar nicht. Der Praktiker Tischendörfer trat auch hier wieder der Theorie Stiedas, „die Arbeiter¬ vereine sind zunächst keine Kampfvereine," kurz und bündig mit dem Wort entgegen: „Das ist nach meiner Meinung nicht richtig." Namentlich aber übte Professor Delbrück eine sehr beachtenswerte Kritik an beiden Sätzen und an der ganzen Stellung des Vortragenden zur Arbeiterorganisation. „Es ist wirklich wahr, sagte Delbrück, auch der Gewerkverein schützt uns nicht vor Streiks — im Gegenteil, er ruft sie hervor und weiß sie nicht auf vernünftige Weise schnell zu Ende zu bringen. Es ist kein Allheilmittel im Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das wundert mich nicht, denn die ständischen gewerklichen Organisationen, deren Vorteile gepriesen werden, haben auch die ungeheure Schwäche, daß sie den Standesgeist auf die Spitze treiben." Wir hätten — fuhr er fort — ein klassisches Beispiel an der Organisation unsrer Landwirte, unsrer Agrarier. Die enge Verbindung mit dem Boden, die durch den ererbten Besitz das Standesinteresse von selber fortpflanze, habe bisher die Grundbesitzer ganz besonders geeignet erscheinen lassen zur konservativen verstündigen Grundlage für die gesamte Staatsver¬ waltung und Staatsauffassung. Und was hätten wir jetzt für ein Schauspiel? Gerade dieser Stand, der für den konservativsten von allen gelte, sei heute demagogischer als irgend ein andrer. Und das sei natürlich, denn wenn ein Stand sich erst in sich selbst vereinige und sein Interesse an die Spitze stelle, würden immer die leidenschaftlichen Menschen die Führung übernehmen. Die die größten Forderungen stellten, denen würde zugejubelt, und der die extremsten Ansichten aufgestellt habe, der sei der allerbeliebteste. Wenn das bei den Land¬ wirten geschehe, was sollten wir dann von der Arbeiterschaft erwarten? „Sie wird auch organisirt nicht vernünftig werden," sagt Delbrück wörtlich. Ein wirkliches Mittel zum Frieden zwischen Kapital und Arbeiterschaft sei in den Gewerkschaften nicht gegeben. Das müßte der Evangelisch-soziale Kongreß aussprechen, und er müßte weiter zugeben, „daß eine derartig organisirte Arbeiterschaft eine große Gefahr sei für das gewerbliche Leben." Was Delbrück sich gedacht hat, wenn er trotzdem eine Reform des geltenden Rechts zu Gunsten der Gewerkvereine für notwendig und unvermeidlich erklärt, ist schwer zu ergründen. Auch er hat nicht gesagt, was er eigentlich will,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/303>, abgerufen am 28.07.2024.