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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Rongresses

tatorischen und sensationellen. Seine Ausführungen liefen im wesentlichen
auf zwei Forderungen hinaus, erstens auf den bekannten, wiederholt auf
der parlamentarischen Tagesordnung erschienenen Antrag des verstorbnen
Schulze-Delitzsch auf gesetzliche Verleihung der Rechtsfähigkeit an die soge¬
nannten Berufsvereine und zweitens auf das Verlangen nach Arbeiterkammern,
entsprechend den längst bestehenden Handelskammern und den beschlossenen
Handwerkerkammern.

Was die erste Forderung betrifft, so wies der Vortragende auf die kaiser¬
lichen Erlasse vom 4. Februar 1890 hin, in denen gesagt sei: "Für die Pflege
des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind gesetzliche Be¬
stimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen, in denen die Arbeiter
durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer
Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhand¬
lungen mit den Arbeitgebern und mit den Organen Meiner Negierung befähigt
werden." Dieser Zusage entsprechend ist dann bekanntlich in der Gewerbe¬
novelle vom 1. Juni 1891 die Vorschrift für die Arbeiterausschüsse erfolgt,
und es sind auch thatsächlich zahlreiche derartige Organisationen geschaffen
worden, von denen, wohl zu merken, Schmoller selbst, wie der Vortragende
hervorhob, noch 1890 vorausgesagt hatte: "Die Epoche des Kapitalismus,
die Diktatur des Kapitals ginge dank diesem Ausschusse zu Ende, und eine
neue Epoche des volkswirtschaftlichen Organismus beginne." Diese Arbeiter¬
ausschüsse hätten nun aber -- und darin hat Stieda recht -- so gut wie nichts
geleistet, und deshalb müßten andre Organisationen den Arbeitern eine den
Arbeitgeber zumal in Lohnfragen "eventuell zwingende Macht" verleihen. Diese
erhalte der Arbeiter in "seinem Verbände," und darum sei es nötig, daß, so¬
lange das Lohnsystem bestehe, im Rechtsstaat ihm die Möglichkeit eingeräumt
werde, "freie Vereinigungen" zu begründen, und zwar "mit den Rechten eines
anerkannten Vereins." Daß die Arbeiter schon jetzt das Recht haben, freie
Vereinigungen zu begründen, giebt Stieda zu, aber sür diese Vereine bestehe
eine "nicht wegzuleugnende Rechtsunsicherheit." Sie könnten in den meisten
deutschen Staaten Korporationsrechte nur durch staatliche Verleihung erhalten.
Eine solche Verleihung aber auszuwirken, sei sehr schwer, weil die Regierungen
entweder mit den Bestrebungen des Vereins nicht einverstanden seien oder sich
vor der Verantwortlichkeit scheuten, die sie für den privilegirten Verein zu
nehmen schienen. Demnach stünden die Arbeiterverbände sozusagen in der Luft,
die Mitglieder hafteten persönlich für alle Schulden; sie hätten kein Vermögen,
keine Prozeßfähigkeit u. dergl. in. Nur in Bayern könnten Arbeitervereine
Rechtsfähigkeit erwerben, aber sie hielten es meist nicht der Mühe für wert
-- sagt Stieda selbst --, weil die bayrischen Gerichte auch Vereine, die keine
Rechtsfreiheit hätten, zur Prozeßführung zuließen. Nach dem neuen Bürger¬
lichen Gesetzbuch müßten solche Vereine, um rechtskräftig zu werden, in besondre


Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Rongresses

tatorischen und sensationellen. Seine Ausführungen liefen im wesentlichen
auf zwei Forderungen hinaus, erstens auf den bekannten, wiederholt auf
der parlamentarischen Tagesordnung erschienenen Antrag des verstorbnen
Schulze-Delitzsch auf gesetzliche Verleihung der Rechtsfähigkeit an die soge¬
nannten Berufsvereine und zweitens auf das Verlangen nach Arbeiterkammern,
entsprechend den längst bestehenden Handelskammern und den beschlossenen
Handwerkerkammern.

Was die erste Forderung betrifft, so wies der Vortragende auf die kaiser¬
lichen Erlasse vom 4. Februar 1890 hin, in denen gesagt sei: „Für die Pflege
des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind gesetzliche Be¬
stimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen, in denen die Arbeiter
durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer
Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhand¬
lungen mit den Arbeitgebern und mit den Organen Meiner Negierung befähigt
werden." Dieser Zusage entsprechend ist dann bekanntlich in der Gewerbe¬
novelle vom 1. Juni 1891 die Vorschrift für die Arbeiterausschüsse erfolgt,
und es sind auch thatsächlich zahlreiche derartige Organisationen geschaffen
worden, von denen, wohl zu merken, Schmoller selbst, wie der Vortragende
hervorhob, noch 1890 vorausgesagt hatte: „Die Epoche des Kapitalismus,
die Diktatur des Kapitals ginge dank diesem Ausschusse zu Ende, und eine
neue Epoche des volkswirtschaftlichen Organismus beginne." Diese Arbeiter¬
ausschüsse hätten nun aber — und darin hat Stieda recht — so gut wie nichts
geleistet, und deshalb müßten andre Organisationen den Arbeitern eine den
Arbeitgeber zumal in Lohnfragen „eventuell zwingende Macht" verleihen. Diese
erhalte der Arbeiter in „seinem Verbände," und darum sei es nötig, daß, so¬
lange das Lohnsystem bestehe, im Rechtsstaat ihm die Möglichkeit eingeräumt
werde, „freie Vereinigungen" zu begründen, und zwar „mit den Rechten eines
anerkannten Vereins." Daß die Arbeiter schon jetzt das Recht haben, freie
Vereinigungen zu begründen, giebt Stieda zu, aber sür diese Vereine bestehe
eine „nicht wegzuleugnende Rechtsunsicherheit." Sie könnten in den meisten
deutschen Staaten Korporationsrechte nur durch staatliche Verleihung erhalten.
Eine solche Verleihung aber auszuwirken, sei sehr schwer, weil die Regierungen
entweder mit den Bestrebungen des Vereins nicht einverstanden seien oder sich
vor der Verantwortlichkeit scheuten, die sie für den privilegirten Verein zu
nehmen schienen. Demnach stünden die Arbeiterverbände sozusagen in der Luft,
die Mitglieder hafteten persönlich für alle Schulden; sie hätten kein Vermögen,
keine Prozeßfähigkeit u. dergl. in. Nur in Bayern könnten Arbeitervereine
Rechtsfähigkeit erwerben, aber sie hielten es meist nicht der Mühe für wert
— sagt Stieda selbst —, weil die bayrischen Gerichte auch Vereine, die keine
Rechtsfreiheit hätten, zur Prozeßführung zuließen. Nach dem neuen Bürger¬
lichen Gesetzbuch müßten solche Vereine, um rechtskräftig zu werden, in besondre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/300>, abgerufen am 28.07.2024.