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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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geworfncn Bemerkungen und gelegentlichen Aussprüchen manche zu "goethisch"
klangen/') als daß sie genau so, wie angegeben, hätten gesprochen sein können,
so wurde das nicht als Störung empfunden: der Würde der Sache entsprach
die Würde der Form, die in der That Goethen "gemäß" war.

Eine Leserwelt, die mit Eckermann groß geworden war und mit seinen
Augen sehen gelernt hatte, mußte und muß Mühe haben, sich in das vor¬
liegende Buch zu finden. Unbeschadet der warmen Verehrung für Goethe, die
aus jeder Zeile des Müllerscheu Berichts redet, stellt es einen von den "Ge¬
sprächen" durchaus verschiednen Typus dar. Als Sohn einer Zeit, die ein
eigentlich kritisches Bedürfnis nicht kannte ("Die Kritik ist eine bloße An¬
gewohnheit der Modernen," hat Goethe noch in seinen alten Tagen -- Juni
1822 -- gesagt), und deren optimistische Grundstimmung sich bei großen und
kleinen Genossen gleich wenig deutlich wiederfand, war unser Kanzler durchaus
geneigt, sich die Freude an dem großen Kollegen so unvertummert wie möglich
zu erhalten. Um "die gemeine Deutlichkeit der Dinge" unter allen Um¬
ständen und zu allen Zeiten deu "goldnen Duft der Morgenröte zu weben/'
konnte indessen nicht Sache eines Mannes sein, den das Leben gelehrt hatte,
täglich seine Pflicht zu thun und die vöritö vrg,is für die oberste aller Pflichten
anzusehen. So bereitwillig er sich auch in die Stellung des Empfangenden begab,
so hatte Müller doch zu vollständig aufgehört, ein bloß "Werdender" zu sein,
als daß er ein immerdar Dankbarer und Bewundernder hätte bleiben können.
Die Empfindung, daß es ein hohes Glück sei, näherer Beziehungen zu einem
Genie gewürdigt zu sein, hat ihn niemals verlassen: daß dieses Genie in einem
bestimmten Manne wohnte, der die Eigentümlichkeiten seiner Zeit an sich trug,
und der in rein menschlicher Beziehung nicht sür alle Zeiten, sondern in und
für eine bestimmte Zeit gelebt hat, hat Kanzler Müller gleichwohl niemals
vergessen. Als täglicher Gast des Goethischen Hauses wußte er, daß dessen
Herr mit andern Sterblichen das Los teilte, ungleich zu sein und ungleiche
Stunden zu haben; daß es Zeiten gab, wo der große Olympier ein kränkelnder,
grilliger alter Herr sein konnte, der körperlichen Beschwerden und gereizten
Stimmungen nur unvollständigen Widerstand leistete, und daß das Wort der
Stael: II Vous kaut as 1a sväuotiou von dem hohen Siebziger so unein¬
geschränkt galt, wie früher von dem angehenden Fünfziger. Auf den Gebieten
endlich, denen seine besondre Thätigkeit gewidmet gewesen war, nahm Müller
wenn nicht Überlegenheit, so doch volle Parität mit seinem Jnterlvkutor in
Anspruch; an mehr als einer Stelle seines Buchs deutet er an, daß von dem
großen Freunde abgegebne Wahrsprüche über politische und geschichtliche Fragen



Der dritte Band der "Gespräche" enthält Abschnitte, die direkt an das Witzwort Moritz
Hatiptmcums erinnern: "Dieses Stück klingt so Mendelssohnisch, das; es wohl von Richter
sein wird."

geworfncn Bemerkungen und gelegentlichen Aussprüchen manche zu „goethisch"
klangen/') als daß sie genau so, wie angegeben, hätten gesprochen sein können,
so wurde das nicht als Störung empfunden: der Würde der Sache entsprach
die Würde der Form, die in der That Goethen „gemäß" war.

Eine Leserwelt, die mit Eckermann groß geworden war und mit seinen
Augen sehen gelernt hatte, mußte und muß Mühe haben, sich in das vor¬
liegende Buch zu finden. Unbeschadet der warmen Verehrung für Goethe, die
aus jeder Zeile des Müllerscheu Berichts redet, stellt es einen von den „Ge¬
sprächen" durchaus verschiednen Typus dar. Als Sohn einer Zeit, die ein
eigentlich kritisches Bedürfnis nicht kannte („Die Kritik ist eine bloße An¬
gewohnheit der Modernen," hat Goethe noch in seinen alten Tagen — Juni
1822 — gesagt), und deren optimistische Grundstimmung sich bei großen und
kleinen Genossen gleich wenig deutlich wiederfand, war unser Kanzler durchaus
geneigt, sich die Freude an dem großen Kollegen so unvertummert wie möglich
zu erhalten. Um „die gemeine Deutlichkeit der Dinge" unter allen Um¬
ständen und zu allen Zeiten deu „goldnen Duft der Morgenröte zu weben/'
konnte indessen nicht Sache eines Mannes sein, den das Leben gelehrt hatte,
täglich seine Pflicht zu thun und die vöritö vrg,is für die oberste aller Pflichten
anzusehen. So bereitwillig er sich auch in die Stellung des Empfangenden begab,
so hatte Müller doch zu vollständig aufgehört, ein bloß „Werdender" zu sein,
als daß er ein immerdar Dankbarer und Bewundernder hätte bleiben können.
Die Empfindung, daß es ein hohes Glück sei, näherer Beziehungen zu einem
Genie gewürdigt zu sein, hat ihn niemals verlassen: daß dieses Genie in einem
bestimmten Manne wohnte, der die Eigentümlichkeiten seiner Zeit an sich trug,
und der in rein menschlicher Beziehung nicht sür alle Zeiten, sondern in und
für eine bestimmte Zeit gelebt hat, hat Kanzler Müller gleichwohl niemals
vergessen. Als täglicher Gast des Goethischen Hauses wußte er, daß dessen
Herr mit andern Sterblichen das Los teilte, ungleich zu sein und ungleiche
Stunden zu haben; daß es Zeiten gab, wo der große Olympier ein kränkelnder,
grilliger alter Herr sein konnte, der körperlichen Beschwerden und gereizten
Stimmungen nur unvollständigen Widerstand leistete, und daß das Wort der
Stael: II Vous kaut as 1a sväuotiou von dem hohen Siebziger so unein¬
geschränkt galt, wie früher von dem angehenden Fünfziger. Auf den Gebieten
endlich, denen seine besondre Thätigkeit gewidmet gewesen war, nahm Müller
wenn nicht Überlegenheit, so doch volle Parität mit seinem Jnterlvkutor in
Anspruch; an mehr als einer Stelle seines Buchs deutet er an, daß von dem
großen Freunde abgegebne Wahrsprüche über politische und geschichtliche Fragen



Der dritte Band der „Gespräche" enthält Abschnitte, die direkt an das Witzwort Moritz
Hatiptmcums erinnern: „Dieses Stück klingt so Mendelssohnisch, das; es wohl von Richter
sein wird."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/291>, abgerufen am 28.07.2024.