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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Frühlingstage am Garigliano

Passes von Monte Salvicmo hinantrugen, der nach Capistrello im obern Liris-
thale hinüberführt. Die Lerchen sangen wie im deutschen Vaterlande, und es
fehlte nur eins, um uns in die richtige Osterstimmung zu versetzen: der weihe¬
volle Klang der Kirchenglocken. Diesen aber kennen die Italiener überhaupt
nicht, sie haben dafür nur ein weiheloses, eilfertiges, nervöses Gebimmel, das
durch rasches Anschlagen der Glocken mit Metallstäben hervorgebracht wird. Dafür
begegneten uns kleine Züge malerischer Frauengestalten, die unter der Führung
eines Minoriten auf steilen Fußpfaden zu der auf der Paßhöhe gelegnen Kirche
hinaufstrebten. Aber mehr als diese Gruppen fesselte uns der Anblick der
Gegend. Östlich von uns breitete sich der ungeheure Kessel des ehemaligen
Fucinersees aus, über dem noch dichte Morgennebel schwebten. Der Lacus
Füeinus der Alten bedeckte ungefähr einen Flächenraum von hundertsechzig
Quadratkilometern. Doch wechselte sein Umfang fortwährend, da ihm ein
regelmüßiger Abfluß fehlte. Uralte Ortschaften versanken in seinen Sümpfen;
dazu kam die Malaria. Schon Julius Cäsar soll sich mit dem Plane getragen
haben, den See durch einen Emissär zum Liris abzuleiten. Aber erst der ge¬
lehrte Sonderling auf dem römischen Cäsarenthrone, Claudius, verwirklichte in
elfjähriger Arbeit diese Idee. Im letzten Jahre seiner Regierung war der
Kanal fertig und wurde mit einem furchtbar blutigen Schauspiele eröffnet, das
uns Taeitus im zwölften Buche der Annalen schildert. Auf zahlreichen Drci-
uud Vicrruderern hatte er 19000 Gladiatoren und verurteilte Verbrecher unter¬
gebracht, die nun mit ihren Schiffen gegen einander losfahrend dem schaulustigen
Volke Roms und Italiens den Anblick einer Seeschlacht liefern sollten. Der
ganze See war mit Soldaten umstellt, damit die Unglücklichen nicht entrinnen
konnten. Der Kaiser selbst im prächtigen Feldherrnmantel und seine rünkevolle
Gemahlin Agrippina in golddurchwirktem Gewände leiteten das Schauspiel.

Aber die Anlage des Emissärs ermies sich als unrichtig; bald erfüllte er
seinen Zweck nicht mehr, und auch die spätern Kaiser Trajan und Hadrian
vermochten ihn nicht dauernd brauchbar zu erhalten. Darnach verfiel die ganze
Anlage, und erst in unserm Jahrhunderte bildete sich eine Aktiengesellschaft zur
Austrocknung des Sees, deren Rechte 1855 an den Fürsten Torlonia über¬
gingen. Mit einem Kostenaufwande vou fünfunddreißig Millionen Lire voll¬
endete er den 6300 Meter langen und 21 Meter breiten Stollen durch den
Monte Salviano, der das Wasser nach Capistrello zu in den Liris ableitete.
So wurde der See bis auf einen in der Mitte übriggebliebnen Sumpf trocken
gelegt, und 145 Quadratkilometer Ackerland wurden gewonnen. Dieses Land
hat er in kleinern und größern Stücken mit Kolonen besiedelt oder an Bauern
der Umgegend verpachtet. So besteht denn hier wie anderwärts in Italien die
uralte Einrichtung der Klientel, einer wirtschaftlich unfreien Bauernschaft, un¬
gestört weiter. Den Mittelpunkt der riesigen Grundherrschaft des Fürsten bildet
das erwähnte ansehnliche Verwaltungsgebäude am Markte vou Avczzano.


Frühlingstage am Garigliano

Passes von Monte Salvicmo hinantrugen, der nach Capistrello im obern Liris-
thale hinüberführt. Die Lerchen sangen wie im deutschen Vaterlande, und es
fehlte nur eins, um uns in die richtige Osterstimmung zu versetzen: der weihe¬
volle Klang der Kirchenglocken. Diesen aber kennen die Italiener überhaupt
nicht, sie haben dafür nur ein weiheloses, eilfertiges, nervöses Gebimmel, das
durch rasches Anschlagen der Glocken mit Metallstäben hervorgebracht wird. Dafür
begegneten uns kleine Züge malerischer Frauengestalten, die unter der Führung
eines Minoriten auf steilen Fußpfaden zu der auf der Paßhöhe gelegnen Kirche
hinaufstrebten. Aber mehr als diese Gruppen fesselte uns der Anblick der
Gegend. Östlich von uns breitete sich der ungeheure Kessel des ehemaligen
Fucinersees aus, über dem noch dichte Morgennebel schwebten. Der Lacus
Füeinus der Alten bedeckte ungefähr einen Flächenraum von hundertsechzig
Quadratkilometern. Doch wechselte sein Umfang fortwährend, da ihm ein
regelmüßiger Abfluß fehlte. Uralte Ortschaften versanken in seinen Sümpfen;
dazu kam die Malaria. Schon Julius Cäsar soll sich mit dem Plane getragen
haben, den See durch einen Emissär zum Liris abzuleiten. Aber erst der ge¬
lehrte Sonderling auf dem römischen Cäsarenthrone, Claudius, verwirklichte in
elfjähriger Arbeit diese Idee. Im letzten Jahre seiner Regierung war der
Kanal fertig und wurde mit einem furchtbar blutigen Schauspiele eröffnet, das
uns Taeitus im zwölften Buche der Annalen schildert. Auf zahlreichen Drci-
uud Vicrruderern hatte er 19000 Gladiatoren und verurteilte Verbrecher unter¬
gebracht, die nun mit ihren Schiffen gegen einander losfahrend dem schaulustigen
Volke Roms und Italiens den Anblick einer Seeschlacht liefern sollten. Der
ganze See war mit Soldaten umstellt, damit die Unglücklichen nicht entrinnen
konnten. Der Kaiser selbst im prächtigen Feldherrnmantel und seine rünkevolle
Gemahlin Agrippina in golddurchwirktem Gewände leiteten das Schauspiel.

Aber die Anlage des Emissärs ermies sich als unrichtig; bald erfüllte er
seinen Zweck nicht mehr, und auch die spätern Kaiser Trajan und Hadrian
vermochten ihn nicht dauernd brauchbar zu erhalten. Darnach verfiel die ganze
Anlage, und erst in unserm Jahrhunderte bildete sich eine Aktiengesellschaft zur
Austrocknung des Sees, deren Rechte 1855 an den Fürsten Torlonia über¬
gingen. Mit einem Kostenaufwande vou fünfunddreißig Millionen Lire voll¬
endete er den 6300 Meter langen und 21 Meter breiten Stollen durch den
Monte Salviano, der das Wasser nach Capistrello zu in den Liris ableitete.
So wurde der See bis auf einen in der Mitte übriggebliebnen Sumpf trocken
gelegt, und 145 Quadratkilometer Ackerland wurden gewonnen. Dieses Land
hat er in kleinern und größern Stücken mit Kolonen besiedelt oder an Bauern
der Umgegend verpachtet. So besteht denn hier wie anderwärts in Italien die
uralte Einrichtung der Klientel, einer wirtschaftlich unfreien Bauernschaft, un¬
gestört weiter. Den Mittelpunkt der riesigen Grundherrschaft des Fürsten bildet
das erwähnte ansehnliche Verwaltungsgebäude am Markte vou Avczzano.


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[0279] Frühlingstage am Garigliano Passes von Monte Salvicmo hinantrugen, der nach Capistrello im obern Liris- thale hinüberführt. Die Lerchen sangen wie im deutschen Vaterlande, und es fehlte nur eins, um uns in die richtige Osterstimmung zu versetzen: der weihe¬ volle Klang der Kirchenglocken. Diesen aber kennen die Italiener überhaupt nicht, sie haben dafür nur ein weiheloses, eilfertiges, nervöses Gebimmel, das durch rasches Anschlagen der Glocken mit Metallstäben hervorgebracht wird. Dafür begegneten uns kleine Züge malerischer Frauengestalten, die unter der Führung eines Minoriten auf steilen Fußpfaden zu der auf der Paßhöhe gelegnen Kirche hinaufstrebten. Aber mehr als diese Gruppen fesselte uns der Anblick der Gegend. Östlich von uns breitete sich der ungeheure Kessel des ehemaligen Fucinersees aus, über dem noch dichte Morgennebel schwebten. Der Lacus Füeinus der Alten bedeckte ungefähr einen Flächenraum von hundertsechzig Quadratkilometern. Doch wechselte sein Umfang fortwährend, da ihm ein regelmüßiger Abfluß fehlte. Uralte Ortschaften versanken in seinen Sümpfen; dazu kam die Malaria. Schon Julius Cäsar soll sich mit dem Plane getragen haben, den See durch einen Emissär zum Liris abzuleiten. Aber erst der ge¬ lehrte Sonderling auf dem römischen Cäsarenthrone, Claudius, verwirklichte in elfjähriger Arbeit diese Idee. Im letzten Jahre seiner Regierung war der Kanal fertig und wurde mit einem furchtbar blutigen Schauspiele eröffnet, das uns Taeitus im zwölften Buche der Annalen schildert. Auf zahlreichen Drci- uud Vicrruderern hatte er 19000 Gladiatoren und verurteilte Verbrecher unter¬ gebracht, die nun mit ihren Schiffen gegen einander losfahrend dem schaulustigen Volke Roms und Italiens den Anblick einer Seeschlacht liefern sollten. Der ganze See war mit Soldaten umstellt, damit die Unglücklichen nicht entrinnen konnten. Der Kaiser selbst im prächtigen Feldherrnmantel und seine rünkevolle Gemahlin Agrippina in golddurchwirktem Gewände leiteten das Schauspiel. Aber die Anlage des Emissärs ermies sich als unrichtig; bald erfüllte er seinen Zweck nicht mehr, und auch die spätern Kaiser Trajan und Hadrian vermochten ihn nicht dauernd brauchbar zu erhalten. Darnach verfiel die ganze Anlage, und erst in unserm Jahrhunderte bildete sich eine Aktiengesellschaft zur Austrocknung des Sees, deren Rechte 1855 an den Fürsten Torlonia über¬ gingen. Mit einem Kostenaufwande vou fünfunddreißig Millionen Lire voll¬ endete er den 6300 Meter langen und 21 Meter breiten Stollen durch den Monte Salviano, der das Wasser nach Capistrello zu in den Liris ableitete. So wurde der See bis auf einen in der Mitte übriggebliebnen Sumpf trocken gelegt, und 145 Quadratkilometer Ackerland wurden gewonnen. Dieses Land hat er in kleinern und größern Stücken mit Kolonen besiedelt oder an Bauern der Umgegend verpachtet. So besteht denn hier wie anderwärts in Italien die uralte Einrichtung der Klientel, einer wirtschaftlich unfreien Bauernschaft, un¬ gestört weiter. Den Mittelpunkt der riesigen Grundherrschaft des Fürsten bildet das erwähnte ansehnliche Verwaltungsgebäude am Markte vou Avczzano.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/279>, abgerufen am 28.07.2024.