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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

Verbrecher als Kranken zu behandeln, ist völlig verfehlt und kann keine guten
Erfolge haben; viel richtiger faßt man ihn als einen in der Erziehung zurück¬
gebliebnen auf. Ein großer englischer Naturforscher nennt die Verbrecher "reine
Wilde, die unsinnige und verzweifelte Versuche machen, inmitten und auf
Kosten einer zivilisirten Gesellschaft als Wilde zu leben." Der zivilisirte und
gute Mensch bedarf keiner Strafgesetze, er wird durch die Triebe der Pflicht,
der Ehre und der Liebe genügend zum Guten geleitet, aber der schwache und
egoistische Mensch bedarf stärkerer Antriebe, und je weniger die genannten
positiven Antriebe wirken, desto mehr bedarf es des negativen Antriebes der
Furcht vor Strafe. Bei Kindern nimmt man gar keinen Anstoß, die Ab-
schreckuugstheorie theoretisch und praktisch anzuerkennen; da eine ganze Zahl
von Menschen aber ihr Leben lang Kinder in diesem Punkte bleiben, so bleibt
die Theorie auch grundsätzlich richtig.

Unter besondern: Hinweis auf die Thatsache, daß Unkenntnis der Gesetze
nicht die Strafe ausschließt, ist von manchen Seiten eine Art allgemeine
juristische Vorbildung durch die Schule gefordert worden. Die Verbreitung
nützlicher praktischer Kenntnisse in der Schule ist heute eine allgemeine Forde¬
rung; von Juristen wird Unterricht in der Gesetzeskunde, von Ärzten natur¬
wissenschaftliche und hygienische Schulbildung, von Politikern staatsbürgerliche
Schulbildung verlangt.

In der Hauptsache wird man diesen Forderungen aus dem Grunde wider¬
sprechen müssen, daß durch eine derartige Vielseitigkeit die Sammlung und
Erziehung leiden muß. Ase, niullA, sha rnnlwm! Auch Treitschke warnt
vor dem Streben, den Schüler zu einem zweibeinigen Konversationslexikon
zu machen. Nicht das ist die Aufgabe der Schule, eine Anzahl von unzu-
sammenhüngenden Kenntnissen zu vermitteln, sondern dem Schüler geistige
und sittliche Zucht beizubringen, ihn richtig denken zu lehren und zum Herrn
über seine Vorstellungen zu machen.

Es kommt weiter die außerordentliche Schwierigkeit dazu, Kindern juristische
und politische Vorträge zu halten, ohne zugleich die Streitfragen der Zeit
zu berühren und ihnen diese in einem bestimmten Lichte zu zeigen, bevor sie
auch nur eine Spur von eignem Urteil haben können. In einer Zeit lebhafter
Meinungskämpfe, wie der unsern, wird das geradezu zur Unmöglichkeit. Soweit
die Wissenschaft zu festen und unbestrittnen Grundlagen gelangt ist, kann immer¬
hin wie in der Naturgeschichte auf die Hygiene, in der Geschichte auf die
Politik hingewiesen werden; einige Rechtsbegriffe lassen sich wohl auch durch
geeignete Auswahl der Stücke in den Lehrbüchern verbreiten. Scheinen solchen
"modernen" Anforderungen gegenüber für die eigentlichen Schulen die Bedenken
zu überwiegen, so steht die Sache bei den Hochschulen anders. Auf diesen
erscheint ein obligatorischer Unterricht zum mindesten in den ersten beiden
Semestern über den Staat und seine Einrichtungen als durchaus notwendig, denn


Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

Verbrecher als Kranken zu behandeln, ist völlig verfehlt und kann keine guten
Erfolge haben; viel richtiger faßt man ihn als einen in der Erziehung zurück¬
gebliebnen auf. Ein großer englischer Naturforscher nennt die Verbrecher „reine
Wilde, die unsinnige und verzweifelte Versuche machen, inmitten und auf
Kosten einer zivilisirten Gesellschaft als Wilde zu leben." Der zivilisirte und
gute Mensch bedarf keiner Strafgesetze, er wird durch die Triebe der Pflicht,
der Ehre und der Liebe genügend zum Guten geleitet, aber der schwache und
egoistische Mensch bedarf stärkerer Antriebe, und je weniger die genannten
positiven Antriebe wirken, desto mehr bedarf es des negativen Antriebes der
Furcht vor Strafe. Bei Kindern nimmt man gar keinen Anstoß, die Ab-
schreckuugstheorie theoretisch und praktisch anzuerkennen; da eine ganze Zahl
von Menschen aber ihr Leben lang Kinder in diesem Punkte bleiben, so bleibt
die Theorie auch grundsätzlich richtig.

Unter besondern: Hinweis auf die Thatsache, daß Unkenntnis der Gesetze
nicht die Strafe ausschließt, ist von manchen Seiten eine Art allgemeine
juristische Vorbildung durch die Schule gefordert worden. Die Verbreitung
nützlicher praktischer Kenntnisse in der Schule ist heute eine allgemeine Forde¬
rung; von Juristen wird Unterricht in der Gesetzeskunde, von Ärzten natur¬
wissenschaftliche und hygienische Schulbildung, von Politikern staatsbürgerliche
Schulbildung verlangt.

In der Hauptsache wird man diesen Forderungen aus dem Grunde wider¬
sprechen müssen, daß durch eine derartige Vielseitigkeit die Sammlung und
Erziehung leiden muß. Ase, niullA, sha rnnlwm! Auch Treitschke warnt
vor dem Streben, den Schüler zu einem zweibeinigen Konversationslexikon
zu machen. Nicht das ist die Aufgabe der Schule, eine Anzahl von unzu-
sammenhüngenden Kenntnissen zu vermitteln, sondern dem Schüler geistige
und sittliche Zucht beizubringen, ihn richtig denken zu lehren und zum Herrn
über seine Vorstellungen zu machen.

Es kommt weiter die außerordentliche Schwierigkeit dazu, Kindern juristische
und politische Vorträge zu halten, ohne zugleich die Streitfragen der Zeit
zu berühren und ihnen diese in einem bestimmten Lichte zu zeigen, bevor sie
auch nur eine Spur von eignem Urteil haben können. In einer Zeit lebhafter
Meinungskämpfe, wie der unsern, wird das geradezu zur Unmöglichkeit. Soweit
die Wissenschaft zu festen und unbestrittnen Grundlagen gelangt ist, kann immer¬
hin wie in der Naturgeschichte auf die Hygiene, in der Geschichte auf die
Politik hingewiesen werden; einige Rechtsbegriffe lassen sich wohl auch durch
geeignete Auswahl der Stücke in den Lehrbüchern verbreiten. Scheinen solchen
„modernen" Anforderungen gegenüber für die eigentlichen Schulen die Bedenken
zu überwiegen, so steht die Sache bei den Hochschulen anders. Auf diesen
erscheint ein obligatorischer Unterricht zum mindesten in den ersten beiden
Semestern über den Staat und seine Einrichtungen als durchaus notwendig, denn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/24>, abgerufen am 01.09.2024.