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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

wie Milde, Sanftmut und Wohlthätigkeit, bei deren allgemeiner Herrschaft der
Schwache nichts zu fürchten hat, haben sie die Herrschenden nach und nach so
eingeschüchtert, daß sich diese ihrer Herrschaft schämen, sie als Bolksdienst und
wie die Redensarten sonst lauten zu entschuldigen und zu rechtfertigen suchen,
und damit sind die echt aristokratischen, dem Wesen des Raubtiers verwandten
Tugenden allmählich verschwunden. So haben sich die "Tschandala" für die
Verachtung und Unterdrückung, die sie früher zu erleiden hatten, gerächt. Mit
dem Christentum hat der Sklavenaufstand der Moral begonnen, die französische
Revolution hat ihn vollendet. Seitdem gilt nur noch das als Tugend, was
der Gemeinschaft, was der Menge, was wo möglich allen nutzt, was Behagen
gewährt und verbreitet, und alles gilt als böse, was irgend jemandem wehe
thut. Auf diese Weise ist man bei der heutigen Herdenmoral angelangt, die
das Schaf zum Menschheitsideal stempelt, alles Außergewöhnliche, alle Kraft-
und Machterweise als böse brandmarkt, nichts Hervorragendes duldet und alle
ohne Ausnahme zur jämmerlichsten Mittelmäßigkeit verurteilt. Die Reform
hat also als Ziel zu erstreben, daß der Gegensatz zwischen gut und böse auf¬
gehoben, der zwischen gut und schlecht wieder hergestellt werde.

Nietzsches ziemlich verwickelte Morallehre ist mit diesen Sätzen nur un¬
vollständig wiedergegeben, aber sie genügen, um meine Stellung zu ihr klar
zu machen. Für richtig erkläre ich, daß es eine solche Herrenmoral und eine
solche Sklavenmoral, wie sie Nietzsche beschreibt, wirklich giebt; ferner, was er
ebenfalls sagt, daß die heute herrschende Moral -- sofern man bei der allge¬
meinen Verwirrung von einer solchen sprechen kann, nicht die Moral, sondern
nur eine von vielen möglichen Moralen ist. Aber nicht richtig ist schon das,
daß er die beschriebnen beiden Moralen für die einzige Art Herren- und
Sklavenmoral hält. Es giebt Herren, die mit allen Herrentugcnden: Tapfer¬
keit, Lebenslust, Wahrhaftigkeit, Geradheit, Offenheit geschmückt sind und doch
ihre schwachen Untergebnen nicht verachten, sondern schätzen und lieben. Und
es giebt Untergebne, die zwar die Tugenden der Untergebnen zeigen, wie Ge¬
horsam. Arbeitsamkeit, Treue, Geduld, aber dabei frei sind von den Sklaven-
laster" Neid, Furchtsamkeit, Größenhciß, Lüge, Kriecherei, Heuchelei, sodaß
ihre Moral keineswegs den Namen Sklavenmoral verdient. Und wo solche
Herren und solche Dienende zusammenkommen, da ergeben sich schöne sittliche
Verhältnisse, wie Nietzsche gelegentlich selbst einmal bemerkt. Am allerwenigsten
aber ist es richtig, daß das Christentum ein Aufstand armer dummer Teufel
gegen wahre Größe sei, und daß die Christen Neidhämmel seien, die das Große
und Glänzende der Welt schmähten, weil sie selbst klein und schmutzig seien.
Vielmehr ist der Geist des Neuen Testaments die Vollendung jenes antiken
Philosophengeistes, der alle bloß äußerliche Scheingröße verachtet, weil er sich
über sie erhaben weiß, der in der Bedürfnislosigkeit seine Freiheit behauptet,
und der in der Demütigung vor dem allein großen Gott den Mut und die


Friedrich Nietzsche

wie Milde, Sanftmut und Wohlthätigkeit, bei deren allgemeiner Herrschaft der
Schwache nichts zu fürchten hat, haben sie die Herrschenden nach und nach so
eingeschüchtert, daß sich diese ihrer Herrschaft schämen, sie als Bolksdienst und
wie die Redensarten sonst lauten zu entschuldigen und zu rechtfertigen suchen,
und damit sind die echt aristokratischen, dem Wesen des Raubtiers verwandten
Tugenden allmählich verschwunden. So haben sich die „Tschandala" für die
Verachtung und Unterdrückung, die sie früher zu erleiden hatten, gerächt. Mit
dem Christentum hat der Sklavenaufstand der Moral begonnen, die französische
Revolution hat ihn vollendet. Seitdem gilt nur noch das als Tugend, was
der Gemeinschaft, was der Menge, was wo möglich allen nutzt, was Behagen
gewährt und verbreitet, und alles gilt als böse, was irgend jemandem wehe
thut. Auf diese Weise ist man bei der heutigen Herdenmoral angelangt, die
das Schaf zum Menschheitsideal stempelt, alles Außergewöhnliche, alle Kraft-
und Machterweise als böse brandmarkt, nichts Hervorragendes duldet und alle
ohne Ausnahme zur jämmerlichsten Mittelmäßigkeit verurteilt. Die Reform
hat also als Ziel zu erstreben, daß der Gegensatz zwischen gut und böse auf¬
gehoben, der zwischen gut und schlecht wieder hergestellt werde.

Nietzsches ziemlich verwickelte Morallehre ist mit diesen Sätzen nur un¬
vollständig wiedergegeben, aber sie genügen, um meine Stellung zu ihr klar
zu machen. Für richtig erkläre ich, daß es eine solche Herrenmoral und eine
solche Sklavenmoral, wie sie Nietzsche beschreibt, wirklich giebt; ferner, was er
ebenfalls sagt, daß die heute herrschende Moral — sofern man bei der allge¬
meinen Verwirrung von einer solchen sprechen kann, nicht die Moral, sondern
nur eine von vielen möglichen Moralen ist. Aber nicht richtig ist schon das,
daß er die beschriebnen beiden Moralen für die einzige Art Herren- und
Sklavenmoral hält. Es giebt Herren, die mit allen Herrentugcnden: Tapfer¬
keit, Lebenslust, Wahrhaftigkeit, Geradheit, Offenheit geschmückt sind und doch
ihre schwachen Untergebnen nicht verachten, sondern schätzen und lieben. Und
es giebt Untergebne, die zwar die Tugenden der Untergebnen zeigen, wie Ge¬
horsam. Arbeitsamkeit, Treue, Geduld, aber dabei frei sind von den Sklaven-
laster» Neid, Furchtsamkeit, Größenhciß, Lüge, Kriecherei, Heuchelei, sodaß
ihre Moral keineswegs den Namen Sklavenmoral verdient. Und wo solche
Herren und solche Dienende zusammenkommen, da ergeben sich schöne sittliche
Verhältnisse, wie Nietzsche gelegentlich selbst einmal bemerkt. Am allerwenigsten
aber ist es richtig, daß das Christentum ein Aufstand armer dummer Teufel
gegen wahre Größe sei, und daß die Christen Neidhämmel seien, die das Große
und Glänzende der Welt schmähten, weil sie selbst klein und schmutzig seien.
Vielmehr ist der Geist des Neuen Testaments die Vollendung jenes antiken
Philosophengeistes, der alle bloß äußerliche Scheingröße verachtet, weil er sich
über sie erhaben weiß, der in der Bedürfnislosigkeit seine Freiheit behauptet,
und der in der Demütigung vor dem allein großen Gott den Mut und die


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[0232] Friedrich Nietzsche wie Milde, Sanftmut und Wohlthätigkeit, bei deren allgemeiner Herrschaft der Schwache nichts zu fürchten hat, haben sie die Herrschenden nach und nach so eingeschüchtert, daß sich diese ihrer Herrschaft schämen, sie als Bolksdienst und wie die Redensarten sonst lauten zu entschuldigen und zu rechtfertigen suchen, und damit sind die echt aristokratischen, dem Wesen des Raubtiers verwandten Tugenden allmählich verschwunden. So haben sich die „Tschandala" für die Verachtung und Unterdrückung, die sie früher zu erleiden hatten, gerächt. Mit dem Christentum hat der Sklavenaufstand der Moral begonnen, die französische Revolution hat ihn vollendet. Seitdem gilt nur noch das als Tugend, was der Gemeinschaft, was der Menge, was wo möglich allen nutzt, was Behagen gewährt und verbreitet, und alles gilt als böse, was irgend jemandem wehe thut. Auf diese Weise ist man bei der heutigen Herdenmoral angelangt, die das Schaf zum Menschheitsideal stempelt, alles Außergewöhnliche, alle Kraft- und Machterweise als böse brandmarkt, nichts Hervorragendes duldet und alle ohne Ausnahme zur jämmerlichsten Mittelmäßigkeit verurteilt. Die Reform hat also als Ziel zu erstreben, daß der Gegensatz zwischen gut und böse auf¬ gehoben, der zwischen gut und schlecht wieder hergestellt werde. Nietzsches ziemlich verwickelte Morallehre ist mit diesen Sätzen nur un¬ vollständig wiedergegeben, aber sie genügen, um meine Stellung zu ihr klar zu machen. Für richtig erkläre ich, daß es eine solche Herrenmoral und eine solche Sklavenmoral, wie sie Nietzsche beschreibt, wirklich giebt; ferner, was er ebenfalls sagt, daß die heute herrschende Moral — sofern man bei der allge¬ meinen Verwirrung von einer solchen sprechen kann, nicht die Moral, sondern nur eine von vielen möglichen Moralen ist. Aber nicht richtig ist schon das, daß er die beschriebnen beiden Moralen für die einzige Art Herren- und Sklavenmoral hält. Es giebt Herren, die mit allen Herrentugcnden: Tapfer¬ keit, Lebenslust, Wahrhaftigkeit, Geradheit, Offenheit geschmückt sind und doch ihre schwachen Untergebnen nicht verachten, sondern schätzen und lieben. Und es giebt Untergebne, die zwar die Tugenden der Untergebnen zeigen, wie Ge¬ horsam. Arbeitsamkeit, Treue, Geduld, aber dabei frei sind von den Sklaven- laster» Neid, Furchtsamkeit, Größenhciß, Lüge, Kriecherei, Heuchelei, sodaß ihre Moral keineswegs den Namen Sklavenmoral verdient. Und wo solche Herren und solche Dienende zusammenkommen, da ergeben sich schöne sittliche Verhältnisse, wie Nietzsche gelegentlich selbst einmal bemerkt. Am allerwenigsten aber ist es richtig, daß das Christentum ein Aufstand armer dummer Teufel gegen wahre Größe sei, und daß die Christen Neidhämmel seien, die das Große und Glänzende der Welt schmähten, weil sie selbst klein und schmutzig seien. Vielmehr ist der Geist des Neuen Testaments die Vollendung jenes antiken Philosophengeistes, der alle bloß äußerliche Scheingröße verachtet, weil er sich über sie erhaben weiß, der in der Bedürfnislosigkeit seine Freiheit behauptet, und der in der Demütigung vor dem allein großen Gott den Mut und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/232>, abgerufen am 28.07.2024.