Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Friedrich Nietzsche Verwirrung ist groß, und Nietzsche war vollauf berechtigt, dagegen aufzutreten, Die Grundzüge der Lehre Nietzsches von der Herren- und Sklavenmoral Friedrich Nietzsche Verwirrung ist groß, und Nietzsche war vollauf berechtigt, dagegen aufzutreten, Die Grundzüge der Lehre Nietzsches von der Herren- und Sklavenmoral <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0231" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228533"/> <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/> <p xml:id="ID_832" prev="#ID_831"> Verwirrung ist groß, und Nietzsche war vollauf berechtigt, dagegen aufzutreten,<lb/> ober er hat seinen Angriff gegen eine Macht gerichtet, die an dem Übel nicht<lb/> schuld ist, und er hat es auch seinerseits unterlassen, Grundsätze aufzustellen,<lb/> nach denen eine neue, folgerichtige und klare Sitte und Gesetzgebung geschaffen<lb/> werden könnte. Im einzelnen bringt er zur Sache manches Wahre und Be¬<lb/> achtenswerte bei, z. B. die folgende Bemerkung: „Zuletzt hat die Verteuflung<lb/> des Eros einen Komödienausgang bekommen: der »Teufel« Eros ist allmählich<lb/> den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, dank der<lb/> Munkelei und Geheimthuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat<lb/> bewirkt, bis in unsre Zeiten hinein, daß die Liebesgeschichte das einzige wirk¬<lb/> liche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist, in einer dem Altertum<lb/> unbegreiflichen Übertreibung, der später auch noch einmal das Gelächter folgen<lb/> wird. Unsre ganze Dichterei und Denkerei, vom größten bis zum niedrigste»,<lb/> ist durch die ausschweifende Wichtigkeit, mit der die Liebesgeschichte darin als<lb/> Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und mehr als gezeichnet: vielleicht daß ihret-<lb/> halber die Nachwelt urteilt, auf der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen<lb/> Kultur liege etwas Kleinliches und Verrücktes." Setzen wir statt „christliche<lb/> Kultur" lieber moderne Spießbürgerei, so ist die Bemerkung richtig, wie man<lb/> bei einem Vergleich unsrer heutigen Litteratur mit der antiken sofort bemerkt.<lb/> Naturtriebe, denen jede Äußerung verwehrt wird, werden eben toll. Ein ge¬<lb/> sunder Mensch, der täglich seine ordentlichen Mahlzeiten hat, denkt höchstens<lb/> kurz vor der Mahlzeit, wenn er den Hunger spürt, ans Essen, und zwar ohne<lb/> alle Aufregung und ohne der Sache Wichtigkeit beizulegen, und fühlt sich kaum<lb/> je veranlaßt, vom Speisen und vom Essen zu sprechen; ein Mensch dagegen,<lb/> der lange Zeit Hunger leiden muß und seinen Hunger nur notdürftig mit<lb/> widerlichen Nahrungsmittel» stillen kann, träumt Tag und Nacht von üppigen<lb/> Gastmählern und kostbaren Leckerbissen, leidet an krankhaften Appetiten und<lb/> schwebt in Gefahr, unter dem Antriebe dieser Appetite einmal etwas Verrücktes<lb/> zu thun.</p><lb/> <p xml:id="ID_833" next="#ID_834"> Die Grundzüge der Lehre Nietzsches von der Herren- und Sklavenmoral<lb/> darf ich wohl als bekannt voraussetzen. Die Herrschenden nennen den gut,<lb/> der vergelte» kann, „der dankbar und rachsüchtig ist"; den Schwachen, der<lb/> nicht vergelten kann, nennen sie schlecht und verachten ihn. Dagegen giebt es<lb/> sür sie keine Bösen; den Feind hassen sie nicht als einen Bösen, sondern sie<lb/> achten ihn als einen ebenbürtigen, also guten Gegner. Die Schwachen dagegen<lb/> fürchten jedermann und halten daher jedermann für böse. Namentlich aber<lb/> fürchten und hassen sie alle Hervorragenden, die ihnen am meisten schaden<lb/> können. Das Christentum bedeutet nun einen Aufstand der Armen, Schwachen<lb/> und Unterdrückten gegen die Reichen, Starken und Herrschenden. Indem die<lb/> „Tschandala" die Meinung verbreiteten, die Tugenden der Aristokraten seien<lb/> Laster und böse, und daß als gut nur solche Eigenschaften anzusehen seien</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0231]
Friedrich Nietzsche
Verwirrung ist groß, und Nietzsche war vollauf berechtigt, dagegen aufzutreten,
ober er hat seinen Angriff gegen eine Macht gerichtet, die an dem Übel nicht
schuld ist, und er hat es auch seinerseits unterlassen, Grundsätze aufzustellen,
nach denen eine neue, folgerichtige und klare Sitte und Gesetzgebung geschaffen
werden könnte. Im einzelnen bringt er zur Sache manches Wahre und Be¬
achtenswerte bei, z. B. die folgende Bemerkung: „Zuletzt hat die Verteuflung
des Eros einen Komödienausgang bekommen: der »Teufel« Eros ist allmählich
den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, dank der
Munkelei und Geheimthuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat
bewirkt, bis in unsre Zeiten hinein, daß die Liebesgeschichte das einzige wirk¬
liche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist, in einer dem Altertum
unbegreiflichen Übertreibung, der später auch noch einmal das Gelächter folgen
wird. Unsre ganze Dichterei und Denkerei, vom größten bis zum niedrigste»,
ist durch die ausschweifende Wichtigkeit, mit der die Liebesgeschichte darin als
Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und mehr als gezeichnet: vielleicht daß ihret-
halber die Nachwelt urteilt, auf der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen
Kultur liege etwas Kleinliches und Verrücktes." Setzen wir statt „christliche
Kultur" lieber moderne Spießbürgerei, so ist die Bemerkung richtig, wie man
bei einem Vergleich unsrer heutigen Litteratur mit der antiken sofort bemerkt.
Naturtriebe, denen jede Äußerung verwehrt wird, werden eben toll. Ein ge¬
sunder Mensch, der täglich seine ordentlichen Mahlzeiten hat, denkt höchstens
kurz vor der Mahlzeit, wenn er den Hunger spürt, ans Essen, und zwar ohne
alle Aufregung und ohne der Sache Wichtigkeit beizulegen, und fühlt sich kaum
je veranlaßt, vom Speisen und vom Essen zu sprechen; ein Mensch dagegen,
der lange Zeit Hunger leiden muß und seinen Hunger nur notdürftig mit
widerlichen Nahrungsmittel» stillen kann, träumt Tag und Nacht von üppigen
Gastmählern und kostbaren Leckerbissen, leidet an krankhaften Appetiten und
schwebt in Gefahr, unter dem Antriebe dieser Appetite einmal etwas Verrücktes
zu thun.
Die Grundzüge der Lehre Nietzsches von der Herren- und Sklavenmoral
darf ich wohl als bekannt voraussetzen. Die Herrschenden nennen den gut,
der vergelte» kann, „der dankbar und rachsüchtig ist"; den Schwachen, der
nicht vergelten kann, nennen sie schlecht und verachten ihn. Dagegen giebt es
sür sie keine Bösen; den Feind hassen sie nicht als einen Bösen, sondern sie
achten ihn als einen ebenbürtigen, also guten Gegner. Die Schwachen dagegen
fürchten jedermann und halten daher jedermann für böse. Namentlich aber
fürchten und hassen sie alle Hervorragenden, die ihnen am meisten schaden
können. Das Christentum bedeutet nun einen Aufstand der Armen, Schwachen
und Unterdrückten gegen die Reichen, Starken und Herrschenden. Indem die
„Tschandala" die Meinung verbreiteten, die Tugenden der Aristokraten seien
Laster und böse, und daß als gut nur solche Eigenschaften anzusehen seien
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |