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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

dahin, daß man sich seiner Menschennatur schämt.Dazu kommt endlich die
Verlegenheit der heutigen Gesetzgeber und der Obrigkeiten, die daraus entspringt,
daß die Zusammenhäufung ungeheurer Menschenmassen leicht Zügellosigkeit
erzeugt, daß das moderne Leben sowohl die äußern Bedingungen einer festen
Sitte: Kleinheit und Geschlossenheit der Gemeinden, zerstört, wie ihren innern
Quell, den festen, klaren, einfachen religiösen Glauben verstopft hat, daß an
dessen Stelle alle Meinungen aller Völker und Zeiten getreten sind, daß ein-



*) Dasz die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse nach pädagogischen Rücksichten und
der Gesundheit wegen geregelt, und das; das Ekelhafte daran verborgen werde, wird bei jedem
leidlich ziuilisirten Heidenvolke gefordert. .Lenvphon geht in der Beschreibung seines idealen
Perserstnntes (Curopndie 1, II, til) soweit, zu verlangen, daß die jungen Leute überhaupt keine
Feuchtigkeit absondern, z, B. keinen Speichel auswerfen sollen, weil alle bei den selbstverständlich
sehr müßigen Mahlzeiten aufgenommne Flüssigkeit so vollständig durch Arbeit und Leibesübungen
aufzuzehren sei, daß nichts abzusondern bleibe, womit er freilich wohl etwas physiologisch Un¬
mögliches forderte. Bei den Römern kam die Würde des ?awr t^milia,", auf die so großes
Gewicht gelegt wurde, und auf der der Staat beruhte, hinzu, eine strenge Sitte zu fordern, die
den Hausherrn und die Matrone der Gefahr überhob, in eine lächerliche Situation zu geraten
und von den Kindern oder dem Hausgesinde verspottet zu werden. Obgleich daher die Alten
vom Manichäismus so weit entfernt waren, daß sie das Geheimnis der Zeugung in den
Staatsfesten wie bei den Familien- und Erntefesten feierten und verehrten, war doch überall
da, wo eS nicht aus Possen abgesehen war, und an solchen nahm zu bestimmten Zeiten und
bei gewissen Gelegenheiten auch der gestrenge römische Hausherr teil, auch ihre Sprache anständig
und züchtig, ohne jedoch die Bezeichnung des Natürlichen dort, wo es die Umstände erforderten,
ängstlich zu scheuen, Cicero erörtert in einem Briefe um Pntus (ack diverse 9, 22) und als
ollioiis 1, 3S die Frage, ob die Cyniker und einige Stoiker mit ihrer Behauptung recht hätten,
es sei Thorheit, obscöne Worte zu meiden. 1,iosris operam ni-dro sei doch sogar ein Verdienst
um den Staat; wie komme man dazu, die Bezeichnung dafür zu meiden, während sich niemand
scheue, Wörter wie stehlen und rauben auszusprechen, die doch etwas wirklich Unanständiges
bezeichneten. Cicero will, wie er in dein Briefe sagt, lieber bei der Vol-souncliki, l?Jade>rils
bleiben, obgleich eS ihm nicht entgeht, wie ungereimt es erscheint, wenn eine für unanständig
geltende aber unvermeidliche Sache mit einem anständig klingenden neuen Namen bezeichnet
wird, damit die Uneingeweihten nicht merken, wovon man spricht, und dann, sobald die neue
Nebenbedeutung des anständigen Wortes allgemein bekannt geworden ist, wieder mit einem
andern neuen Namen. (Man denke an den bei uns üblichen häusigen Wechsel in der Bezeich¬
nung eines gewissen leider in jedem Hause unentbehrlichen Ortes!) Der eigentliche Grund der
vvrsvnnäia, in der Ausdrucksweise ist ihm wohl nicht klar geworden. An der erwähnten Stelle
des Büchleins av cMe.iis schreibt er: 5in>s -uitoin (im Gegensatz zu den Cynikern) na,tui'Am
soiznainnr, ot ab owui, Pioä "diwrrot ad ovulorum s,uriuwciug gWrodMons, IuUg,mus.
Dann dürfte man auch den Namen einer auffallend häßlichen Person oder eines übelriechenden
Medikaments nicht nennen. Nietzsche selbst sieht XII, 42 in dem ästhetischen Urteile, das die
innern Organe des Menschen und deren Verrichtungen als etions häßliches und ekelhaftes be¬
zeichnet, den Anfang der Unterscheidung zwischen dem Höhern und dem Niedern. "Der Mensch,
soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft, er thut alles, um nicht daran zu denken." Bekanntlich
ist es die Wissenschaft, die den höhern Menschen diesen Ekel überwinden lehrt, aber ohne den
höhern Menschen wäre die Wissenschaft nicht vorhanden. Andrerseits geht die moderne Prüderie
soweit, sich des Leibes, auch soweit er Gestalt ist, ja gerade der Gestalt, zu schämen.
Friedrich Nietzsche

dahin, daß man sich seiner Menschennatur schämt.Dazu kommt endlich die
Verlegenheit der heutigen Gesetzgeber und der Obrigkeiten, die daraus entspringt,
daß die Zusammenhäufung ungeheurer Menschenmassen leicht Zügellosigkeit
erzeugt, daß das moderne Leben sowohl die äußern Bedingungen einer festen
Sitte: Kleinheit und Geschlossenheit der Gemeinden, zerstört, wie ihren innern
Quell, den festen, klaren, einfachen religiösen Glauben verstopft hat, daß an
dessen Stelle alle Meinungen aller Völker und Zeiten getreten sind, daß ein-



*) Dasz die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse nach pädagogischen Rücksichten und
der Gesundheit wegen geregelt, und das; das Ekelhafte daran verborgen werde, wird bei jedem
leidlich ziuilisirten Heidenvolke gefordert. .Lenvphon geht in der Beschreibung seines idealen
Perserstnntes (Curopndie 1, II, til) soweit, zu verlangen, daß die jungen Leute überhaupt keine
Feuchtigkeit absondern, z, B. keinen Speichel auswerfen sollen, weil alle bei den selbstverständlich
sehr müßigen Mahlzeiten aufgenommne Flüssigkeit so vollständig durch Arbeit und Leibesübungen
aufzuzehren sei, daß nichts abzusondern bleibe, womit er freilich wohl etwas physiologisch Un¬
mögliches forderte. Bei den Römern kam die Würde des ?awr t^milia,», auf die so großes
Gewicht gelegt wurde, und auf der der Staat beruhte, hinzu, eine strenge Sitte zu fordern, die
den Hausherrn und die Matrone der Gefahr überhob, in eine lächerliche Situation zu geraten
und von den Kindern oder dem Hausgesinde verspottet zu werden. Obgleich daher die Alten
vom Manichäismus so weit entfernt waren, daß sie das Geheimnis der Zeugung in den
Staatsfesten wie bei den Familien- und Erntefesten feierten und verehrten, war doch überall
da, wo eS nicht aus Possen abgesehen war, und an solchen nahm zu bestimmten Zeiten und
bei gewissen Gelegenheiten auch der gestrenge römische Hausherr teil, auch ihre Sprache anständig
und züchtig, ohne jedoch die Bezeichnung des Natürlichen dort, wo es die Umstände erforderten,
ängstlich zu scheuen, Cicero erörtert in einem Briefe um Pntus (ack diverse 9, 22) und als
ollioiis 1, 3S die Frage, ob die Cyniker und einige Stoiker mit ihrer Behauptung recht hätten,
es sei Thorheit, obscöne Worte zu meiden. 1,iosris operam ni-dro sei doch sogar ein Verdienst
um den Staat; wie komme man dazu, die Bezeichnung dafür zu meiden, während sich niemand
scheue, Wörter wie stehlen und rauben auszusprechen, die doch etwas wirklich Unanständiges
bezeichneten. Cicero will, wie er in dein Briefe sagt, lieber bei der Vol-souncliki, l?Jade>rils
bleiben, obgleich eS ihm nicht entgeht, wie ungereimt es erscheint, wenn eine für unanständig
geltende aber unvermeidliche Sache mit einem anständig klingenden neuen Namen bezeichnet
wird, damit die Uneingeweihten nicht merken, wovon man spricht, und dann, sobald die neue
Nebenbedeutung des anständigen Wortes allgemein bekannt geworden ist, wieder mit einem
andern neuen Namen. (Man denke an den bei uns üblichen häusigen Wechsel in der Bezeich¬
nung eines gewissen leider in jedem Hause unentbehrlichen Ortes!) Der eigentliche Grund der
vvrsvnnäia, in der Ausdrucksweise ist ihm wohl nicht klar geworden. An der erwähnten Stelle
des Büchleins av cMe.iis schreibt er: 5in>s -uitoin (im Gegensatz zu den Cynikern) na,tui'Am
soiznainnr, ot ab owui, Pioä »diwrrot ad ovulorum s,uriuwciug gWrodMons, IuUg,mus.
Dann dürfte man auch den Namen einer auffallend häßlichen Person oder eines übelriechenden
Medikaments nicht nennen. Nietzsche selbst sieht XII, 42 in dem ästhetischen Urteile, das die
innern Organe des Menschen und deren Verrichtungen als etions häßliches und ekelhaftes be¬
zeichnet, den Anfang der Unterscheidung zwischen dem Höhern und dem Niedern. „Der Mensch,
soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft, er thut alles, um nicht daran zu denken." Bekanntlich
ist es die Wissenschaft, die den höhern Menschen diesen Ekel überwinden lehrt, aber ohne den
höhern Menschen wäre die Wissenschaft nicht vorhanden. Andrerseits geht die moderne Prüderie
soweit, sich des Leibes, auch soweit er Gestalt ist, ja gerade der Gestalt, zu schämen.
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[0229] Friedrich Nietzsche dahin, daß man sich seiner Menschennatur schämt.Dazu kommt endlich die Verlegenheit der heutigen Gesetzgeber und der Obrigkeiten, die daraus entspringt, daß die Zusammenhäufung ungeheurer Menschenmassen leicht Zügellosigkeit erzeugt, daß das moderne Leben sowohl die äußern Bedingungen einer festen Sitte: Kleinheit und Geschlossenheit der Gemeinden, zerstört, wie ihren innern Quell, den festen, klaren, einfachen religiösen Glauben verstopft hat, daß an dessen Stelle alle Meinungen aller Völker und Zeiten getreten sind, daß ein- *) Dasz die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse nach pädagogischen Rücksichten und der Gesundheit wegen geregelt, und das; das Ekelhafte daran verborgen werde, wird bei jedem leidlich ziuilisirten Heidenvolke gefordert. .Lenvphon geht in der Beschreibung seines idealen Perserstnntes (Curopndie 1, II, til) soweit, zu verlangen, daß die jungen Leute überhaupt keine Feuchtigkeit absondern, z, B. keinen Speichel auswerfen sollen, weil alle bei den selbstverständlich sehr müßigen Mahlzeiten aufgenommne Flüssigkeit so vollständig durch Arbeit und Leibesübungen aufzuzehren sei, daß nichts abzusondern bleibe, womit er freilich wohl etwas physiologisch Un¬ mögliches forderte. Bei den Römern kam die Würde des ?awr t^milia,», auf die so großes Gewicht gelegt wurde, und auf der der Staat beruhte, hinzu, eine strenge Sitte zu fordern, die den Hausherrn und die Matrone der Gefahr überhob, in eine lächerliche Situation zu geraten und von den Kindern oder dem Hausgesinde verspottet zu werden. Obgleich daher die Alten vom Manichäismus so weit entfernt waren, daß sie das Geheimnis der Zeugung in den Staatsfesten wie bei den Familien- und Erntefesten feierten und verehrten, war doch überall da, wo eS nicht aus Possen abgesehen war, und an solchen nahm zu bestimmten Zeiten und bei gewissen Gelegenheiten auch der gestrenge römische Hausherr teil, auch ihre Sprache anständig und züchtig, ohne jedoch die Bezeichnung des Natürlichen dort, wo es die Umstände erforderten, ängstlich zu scheuen, Cicero erörtert in einem Briefe um Pntus (ack diverse 9, 22) und als ollioiis 1, 3S die Frage, ob die Cyniker und einige Stoiker mit ihrer Behauptung recht hätten, es sei Thorheit, obscöne Worte zu meiden. 1,iosris operam ni-dro sei doch sogar ein Verdienst um den Staat; wie komme man dazu, die Bezeichnung dafür zu meiden, während sich niemand scheue, Wörter wie stehlen und rauben auszusprechen, die doch etwas wirklich Unanständiges bezeichneten. Cicero will, wie er in dein Briefe sagt, lieber bei der Vol-souncliki, l?Jade>rils bleiben, obgleich eS ihm nicht entgeht, wie ungereimt es erscheint, wenn eine für unanständig geltende aber unvermeidliche Sache mit einem anständig klingenden neuen Namen bezeichnet wird, damit die Uneingeweihten nicht merken, wovon man spricht, und dann, sobald die neue Nebenbedeutung des anständigen Wortes allgemein bekannt geworden ist, wieder mit einem andern neuen Namen. (Man denke an den bei uns üblichen häusigen Wechsel in der Bezeich¬ nung eines gewissen leider in jedem Hause unentbehrlichen Ortes!) Der eigentliche Grund der vvrsvnnäia, in der Ausdrucksweise ist ihm wohl nicht klar geworden. An der erwähnten Stelle des Büchleins av cMe.iis schreibt er: 5in>s -uitoin (im Gegensatz zu den Cynikern) na,tui'Am soiznainnr, ot ab owui, Pioä »diwrrot ad ovulorum s,uriuwciug gWrodMons, IuUg,mus. Dann dürfte man auch den Namen einer auffallend häßlichen Person oder eines übelriechenden Medikaments nicht nennen. Nietzsche selbst sieht XII, 42 in dem ästhetischen Urteile, das die innern Organe des Menschen und deren Verrichtungen als etions häßliches und ekelhaftes be¬ zeichnet, den Anfang der Unterscheidung zwischen dem Höhern und dem Niedern. „Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft, er thut alles, um nicht daran zu denken." Bekanntlich ist es die Wissenschaft, die den höhern Menschen diesen Ekel überwinden lehrt, aber ohne den höhern Menschen wäre die Wissenschaft nicht vorhanden. Andrerseits geht die moderne Prüderie soweit, sich des Leibes, auch soweit er Gestalt ist, ja gerade der Gestalt, zu schämen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/229>, abgerufen am 28.07.2024.