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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

furcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird, ist vielleicht das beste
Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christentum ver¬
dankt: solche Bücher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem
Schutz eine von außen kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahr-
tausende von Dauer zu gewinnen, welche nötig sind, sie auszuschöpfen und
auszuraten." (Den letzten, höchst wichtigen Satz bitten wir die Leser, im
Gedächtnis zu behalten.) Ganz treffend und genau wird das Verhältnis der
Religion zur Moralität X, 214 dargestellt: "Das Gutsein und das Mitleiden
ist glücklicherweise unabhängig vom Verderben und Gedeihen einer Religion:
dagegen ist das Guthandeln sehr bestimmt durch religiöse Imperative. Die
weitaus größte Masse der guten pflichtmüßigen Handlungen hat keinen ethischen
Wert, sondern ist erzwungen. Die praktische Moralität wird bei allem Zu¬
sammenbrechen einer Religion sehr leiden. Die strafende und belohnende Meta¬
physik scheint unentbehrlich." Dem Volke will auch er die Religion erhalten
wissen (was freilich in einer Zeit, wo alles lesen kann und liest, unmöglich
ist, wenn die führenden Geister die Religion verloren haben). "Die Frömmig¬
keit ist die einzige erträgliche Form des gemeinen Menschen; wir wollen, daß
das Volk religiös wird, damit wir nicht Ekel vor ihm empfinden, wie jetzt,
wo der Anblick der Massen ekelhaft ist" (XII, 206).

Die Versöhnung solcher Widersprüche liegt in dem Gedanken, daß die
christliche Religion eine berechtigte und notwendige Kulturmacht, ihre Be¬
rechtigung aber begrenzt und nur relativ sei, und es fehlt nicht an Stellen,
an denen versucht wird, die Grenzen der Berechtigung festzustellen. Freilich
geraten diese Versuche selbst vielfach in Widerspruch gegen einander. So wenn
einmal (III, 122 bis 123) das Christentum charakterisirt wird als ein Balsam
für absterbende, ein Gift für lebenskräftige Varbarenvölker, dann aber wieder
an vielen andern Stellen die Kirche als die Erzieherin oder vielmehr Bän¬
digerin dieser Barbaren gerühmt wird. Wie ein Lob sieht es zwar noch nicht
aus, wenn er VIII, 103 die Kirche als eine Menagerie schildert, deren Wärter
die schönsten Exemplare der blonden Bestie eingefangen und durch Hunger und
Prügel krank gemacht hätten, was man dann Besserung genannt habe. Die
Schwächung, bemerkt er S. 240, sei das christliche Rezept zur Zähmung, zur
Zivilisation. Es fragt sich nur, ob es irgendwo sonst in der Welt ein andres
Rezept zur Zivilisation giebt, als eine mäßige Schwächung der Naturtriebe,
und ob ohne solche Zivilisation jene höhere philosophische Kultur möglich ist,
die nach Nietzsche die besten erstreben sollen. Er selbst verneint diese Fragen
S. 87 bis 89, wo er die unsterblichen Verdienste der Religion um die Mensch¬
heit darstellt, freilich eine Gegenrechnung aufmacht und es beklagt, daß sie zu¬
gleich grundsätzlich alle Kranken und Leidenden erhalten und dadurch die Rasse
verschlechtert habe, aber doch auch die Notwendigkeit der Erziehung durch
die Religion gerade auch für die Herrenmenschen anerkennt mit den Worten:


Grenzboten III 1898 28
Friedrich Nietzsche

furcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird, ist vielleicht das beste
Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christentum ver¬
dankt: solche Bücher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem
Schutz eine von außen kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahr-
tausende von Dauer zu gewinnen, welche nötig sind, sie auszuschöpfen und
auszuraten." (Den letzten, höchst wichtigen Satz bitten wir die Leser, im
Gedächtnis zu behalten.) Ganz treffend und genau wird das Verhältnis der
Religion zur Moralität X, 214 dargestellt: „Das Gutsein und das Mitleiden
ist glücklicherweise unabhängig vom Verderben und Gedeihen einer Religion:
dagegen ist das Guthandeln sehr bestimmt durch religiöse Imperative. Die
weitaus größte Masse der guten pflichtmüßigen Handlungen hat keinen ethischen
Wert, sondern ist erzwungen. Die praktische Moralität wird bei allem Zu¬
sammenbrechen einer Religion sehr leiden. Die strafende und belohnende Meta¬
physik scheint unentbehrlich." Dem Volke will auch er die Religion erhalten
wissen (was freilich in einer Zeit, wo alles lesen kann und liest, unmöglich
ist, wenn die führenden Geister die Religion verloren haben). „Die Frömmig¬
keit ist die einzige erträgliche Form des gemeinen Menschen; wir wollen, daß
das Volk religiös wird, damit wir nicht Ekel vor ihm empfinden, wie jetzt,
wo der Anblick der Massen ekelhaft ist" (XII, 206).

Die Versöhnung solcher Widersprüche liegt in dem Gedanken, daß die
christliche Religion eine berechtigte und notwendige Kulturmacht, ihre Be¬
rechtigung aber begrenzt und nur relativ sei, und es fehlt nicht an Stellen,
an denen versucht wird, die Grenzen der Berechtigung festzustellen. Freilich
geraten diese Versuche selbst vielfach in Widerspruch gegen einander. So wenn
einmal (III, 122 bis 123) das Christentum charakterisirt wird als ein Balsam
für absterbende, ein Gift für lebenskräftige Varbarenvölker, dann aber wieder
an vielen andern Stellen die Kirche als die Erzieherin oder vielmehr Bän¬
digerin dieser Barbaren gerühmt wird. Wie ein Lob sieht es zwar noch nicht
aus, wenn er VIII, 103 die Kirche als eine Menagerie schildert, deren Wärter
die schönsten Exemplare der blonden Bestie eingefangen und durch Hunger und
Prügel krank gemacht hätten, was man dann Besserung genannt habe. Die
Schwächung, bemerkt er S. 240, sei das christliche Rezept zur Zähmung, zur
Zivilisation. Es fragt sich nur, ob es irgendwo sonst in der Welt ein andres
Rezept zur Zivilisation giebt, als eine mäßige Schwächung der Naturtriebe,
und ob ohne solche Zivilisation jene höhere philosophische Kultur möglich ist,
die nach Nietzsche die besten erstreben sollen. Er selbst verneint diese Fragen
S. 87 bis 89, wo er die unsterblichen Verdienste der Religion um die Mensch¬
heit darstellt, freilich eine Gegenrechnung aufmacht und es beklagt, daß sie zu¬
gleich grundsätzlich alle Kranken und Leidenden erhalten und dadurch die Rasse
verschlechtert habe, aber doch auch die Notwendigkeit der Erziehung durch
die Religion gerade auch für die Herrenmenschen anerkennt mit den Worten:


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[0225] Friedrich Nietzsche furcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird, ist vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christentum ver¬ dankt: solche Bücher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem Schutz eine von außen kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahr- tausende von Dauer zu gewinnen, welche nötig sind, sie auszuschöpfen und auszuraten." (Den letzten, höchst wichtigen Satz bitten wir die Leser, im Gedächtnis zu behalten.) Ganz treffend und genau wird das Verhältnis der Religion zur Moralität X, 214 dargestellt: „Das Gutsein und das Mitleiden ist glücklicherweise unabhängig vom Verderben und Gedeihen einer Religion: dagegen ist das Guthandeln sehr bestimmt durch religiöse Imperative. Die weitaus größte Masse der guten pflichtmüßigen Handlungen hat keinen ethischen Wert, sondern ist erzwungen. Die praktische Moralität wird bei allem Zu¬ sammenbrechen einer Religion sehr leiden. Die strafende und belohnende Meta¬ physik scheint unentbehrlich." Dem Volke will auch er die Religion erhalten wissen (was freilich in einer Zeit, wo alles lesen kann und liest, unmöglich ist, wenn die führenden Geister die Religion verloren haben). „Die Frömmig¬ keit ist die einzige erträgliche Form des gemeinen Menschen; wir wollen, daß das Volk religiös wird, damit wir nicht Ekel vor ihm empfinden, wie jetzt, wo der Anblick der Massen ekelhaft ist" (XII, 206). Die Versöhnung solcher Widersprüche liegt in dem Gedanken, daß die christliche Religion eine berechtigte und notwendige Kulturmacht, ihre Be¬ rechtigung aber begrenzt und nur relativ sei, und es fehlt nicht an Stellen, an denen versucht wird, die Grenzen der Berechtigung festzustellen. Freilich geraten diese Versuche selbst vielfach in Widerspruch gegen einander. So wenn einmal (III, 122 bis 123) das Christentum charakterisirt wird als ein Balsam für absterbende, ein Gift für lebenskräftige Varbarenvölker, dann aber wieder an vielen andern Stellen die Kirche als die Erzieherin oder vielmehr Bän¬ digerin dieser Barbaren gerühmt wird. Wie ein Lob sieht es zwar noch nicht aus, wenn er VIII, 103 die Kirche als eine Menagerie schildert, deren Wärter die schönsten Exemplare der blonden Bestie eingefangen und durch Hunger und Prügel krank gemacht hätten, was man dann Besserung genannt habe. Die Schwächung, bemerkt er S. 240, sei das christliche Rezept zur Zähmung, zur Zivilisation. Es fragt sich nur, ob es irgendwo sonst in der Welt ein andres Rezept zur Zivilisation giebt, als eine mäßige Schwächung der Naturtriebe, und ob ohne solche Zivilisation jene höhere philosophische Kultur möglich ist, die nach Nietzsche die besten erstreben sollen. Er selbst verneint diese Fragen S. 87 bis 89, wo er die unsterblichen Verdienste der Religion um die Mensch¬ heit darstellt, freilich eine Gegenrechnung aufmacht und es beklagt, daß sie zu¬ gleich grundsätzlich alle Kranken und Leidenden erhalten und dadurch die Rasse verschlechtert habe, aber doch auch die Notwendigkeit der Erziehung durch die Religion gerade auch für die Herrenmenschen anerkennt mit den Worten: Grenzboten III 1898 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/225>, abgerufen am 01.09.2024.