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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Schönheit und Feinheit der Kirchenfürsten hat immerdar für das Volk die
Wahrheit der Kirche bewiesen; eine zeitweilige Vrutalisirung der Geistlichkeit
(wie zu Zeiten Luthers) führte immer den Glauben an das Gegenteil mit sich"
(IV, 59 bis 60). Eine sehr richtige Bemerkung! Wunderschön, bis auf zwei
unnütze Worte, sagt er VII, 85: "Den Menschen zu lieben um Gottes willen,
das war bis jetzt das vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen
erreicht worden ist. Daß die Liebe zum Menschen ohne irgend eine heiligende
Hinterabsicht eine Dummheit und Tierheit mehr ist, daß der Hang zu dieser
Menschenliebe erst von einem höhern Hange sein Maß, seine Feinheit, sein
Körnchen Salz und Stäubchen Ambra zu bekommen hat -- welcher Mensch
es auch war, der dies zuerst empfunden und erlebt hat, wie sehr auch seine
Zunge gestolpert^ haben mag, als sie versuchte, solch ein Zartheit auszu¬
drücken, er bleibe uns in allen Zeiten heilig und verehrungswert, als der
Mensch, der am höchsten bisher geflogen und am schönsten sich verirrt^ hat."
Was hat es diesem Bekenntnis gegenüber zu bedeuten, daß er an andern
Stellen der erlangten bessern Überzeugung ins Gesicht schlüge und die Liebe
um Gottes willen verspottet? Ähnlich verhält es sich mit seinen Behauptungen
über die Einwirkung des Christentums auf den Wahrheitssinn. VII, 481
fragt er, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt habe. (Daß dieser
endgiltig besiegt sei, durfte man in den siebziger Jahren, wo es für die "Heiter¬
linge" eine Lust war zu leben, schon glauben.) Und er antwortet: "Die
christliche Moralität selbst, der immer strenger genommne Begriff der Wahr¬
haftigkeit, die Beichtväterfeinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sub-
limirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden
Preis." Dieses verfeinerte Gewissen habe dem Glauben absagen müssen,
sobald es die Falschheit und UnWirklichkeit der Glaubenssätze erkannt habe.
Dagegen klagt er dann wieder, z. B. X, 317, über die "witzige Verlogenheit,"
die das Christentum in die Menschheit hineingebracht habe. Wie hoch er die
Askese hält, ist schon erwähnt worden. "Alle meine Ehrfurcht dem asketischen
Ideal, sofern es ehrlich ist." ruft er VII, 478, und ein paar Seiten weiterhin
führt er aus, daß ohne dieses Ideal das Meuscheutier bisher gar keinen Sinn
gehabt haben würde. Die Bibel nennt er in demselben Bande S. 216 das
beste deutsche Buch; "gegen Luthers Bibel gehalten ist fast alles übrige nur
"Litteratur"." S. 249 bemißt er den Wert einer Seele darnach, in welchem
Grade sie Ehrfurcht zu empfinden vermöge. "Die Gemeinheit mancher Natur
sprützt ^sol'j plötzlich wie schmutziges Wasser hervor, wenn irgend ein heiliges
Gefäß, irgend eine Kostbarkeit aus verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch
mit den Zeichen des großen Schicksals vorübergetragen wird; und andrerseits
giebt es ein unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des Auges, ein Stille¬
werden aller Geberden, worin sich ausspricht, daß eine Seele die Nähe des
Vcrehrungswürdigsten fühlt. Die Art, mit der im ganzen bisher die Ehr-


Friedrich Nietzsche

Schönheit und Feinheit der Kirchenfürsten hat immerdar für das Volk die
Wahrheit der Kirche bewiesen; eine zeitweilige Vrutalisirung der Geistlichkeit
(wie zu Zeiten Luthers) führte immer den Glauben an das Gegenteil mit sich"
(IV, 59 bis 60). Eine sehr richtige Bemerkung! Wunderschön, bis auf zwei
unnütze Worte, sagt er VII, 85: „Den Menschen zu lieben um Gottes willen,
das war bis jetzt das vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen
erreicht worden ist. Daß die Liebe zum Menschen ohne irgend eine heiligende
Hinterabsicht eine Dummheit und Tierheit mehr ist, daß der Hang zu dieser
Menschenliebe erst von einem höhern Hange sein Maß, seine Feinheit, sein
Körnchen Salz und Stäubchen Ambra zu bekommen hat — welcher Mensch
es auch war, der dies zuerst empfunden und erlebt hat, wie sehr auch seine
Zunge gestolpert^ haben mag, als sie versuchte, solch ein Zartheit auszu¬
drücken, er bleibe uns in allen Zeiten heilig und verehrungswert, als der
Mensch, der am höchsten bisher geflogen und am schönsten sich verirrt^ hat."
Was hat es diesem Bekenntnis gegenüber zu bedeuten, daß er an andern
Stellen der erlangten bessern Überzeugung ins Gesicht schlüge und die Liebe
um Gottes willen verspottet? Ähnlich verhält es sich mit seinen Behauptungen
über die Einwirkung des Christentums auf den Wahrheitssinn. VII, 481
fragt er, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt habe. (Daß dieser
endgiltig besiegt sei, durfte man in den siebziger Jahren, wo es für die „Heiter¬
linge" eine Lust war zu leben, schon glauben.) Und er antwortet: „Die
christliche Moralität selbst, der immer strenger genommne Begriff der Wahr¬
haftigkeit, die Beichtväterfeinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sub-
limirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden
Preis." Dieses verfeinerte Gewissen habe dem Glauben absagen müssen,
sobald es die Falschheit und UnWirklichkeit der Glaubenssätze erkannt habe.
Dagegen klagt er dann wieder, z. B. X, 317, über die „witzige Verlogenheit,"
die das Christentum in die Menschheit hineingebracht habe. Wie hoch er die
Askese hält, ist schon erwähnt worden. „Alle meine Ehrfurcht dem asketischen
Ideal, sofern es ehrlich ist." ruft er VII, 478, und ein paar Seiten weiterhin
führt er aus, daß ohne dieses Ideal das Meuscheutier bisher gar keinen Sinn
gehabt haben würde. Die Bibel nennt er in demselben Bande S. 216 das
beste deutsche Buch; „gegen Luthers Bibel gehalten ist fast alles übrige nur
»Litteratur«." S. 249 bemißt er den Wert einer Seele darnach, in welchem
Grade sie Ehrfurcht zu empfinden vermöge. „Die Gemeinheit mancher Natur
sprützt ^sol'j plötzlich wie schmutziges Wasser hervor, wenn irgend ein heiliges
Gefäß, irgend eine Kostbarkeit aus verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch
mit den Zeichen des großen Schicksals vorübergetragen wird; und andrerseits
giebt es ein unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des Auges, ein Stille¬
werden aller Geberden, worin sich ausspricht, daß eine Seele die Nähe des
Vcrehrungswürdigsten fühlt. Die Art, mit der im ganzen bisher die Ehr-


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[0224] Friedrich Nietzsche Schönheit und Feinheit der Kirchenfürsten hat immerdar für das Volk die Wahrheit der Kirche bewiesen; eine zeitweilige Vrutalisirung der Geistlichkeit (wie zu Zeiten Luthers) führte immer den Glauben an das Gegenteil mit sich" (IV, 59 bis 60). Eine sehr richtige Bemerkung! Wunderschön, bis auf zwei unnütze Worte, sagt er VII, 85: „Den Menschen zu lieben um Gottes willen, das war bis jetzt das vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen erreicht worden ist. Daß die Liebe zum Menschen ohne irgend eine heiligende Hinterabsicht eine Dummheit und Tierheit mehr ist, daß der Hang zu dieser Menschenliebe erst von einem höhern Hange sein Maß, seine Feinheit, sein Körnchen Salz und Stäubchen Ambra zu bekommen hat — welcher Mensch es auch war, der dies zuerst empfunden und erlebt hat, wie sehr auch seine Zunge gestolpert^ haben mag, als sie versuchte, solch ein Zartheit auszu¬ drücken, er bleibe uns in allen Zeiten heilig und verehrungswert, als der Mensch, der am höchsten bisher geflogen und am schönsten sich verirrt^ hat." Was hat es diesem Bekenntnis gegenüber zu bedeuten, daß er an andern Stellen der erlangten bessern Überzeugung ins Gesicht schlüge und die Liebe um Gottes willen verspottet? Ähnlich verhält es sich mit seinen Behauptungen über die Einwirkung des Christentums auf den Wahrheitssinn. VII, 481 fragt er, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt habe. (Daß dieser endgiltig besiegt sei, durfte man in den siebziger Jahren, wo es für die „Heiter¬ linge" eine Lust war zu leben, schon glauben.) Und er antwortet: „Die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommne Begriff der Wahr¬ haftigkeit, die Beichtväterfeinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sub- limirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis." Dieses verfeinerte Gewissen habe dem Glauben absagen müssen, sobald es die Falschheit und UnWirklichkeit der Glaubenssätze erkannt habe. Dagegen klagt er dann wieder, z. B. X, 317, über die „witzige Verlogenheit," die das Christentum in die Menschheit hineingebracht habe. Wie hoch er die Askese hält, ist schon erwähnt worden. „Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideal, sofern es ehrlich ist." ruft er VII, 478, und ein paar Seiten weiterhin führt er aus, daß ohne dieses Ideal das Meuscheutier bisher gar keinen Sinn gehabt haben würde. Die Bibel nennt er in demselben Bande S. 216 das beste deutsche Buch; „gegen Luthers Bibel gehalten ist fast alles übrige nur »Litteratur«." S. 249 bemißt er den Wert einer Seele darnach, in welchem Grade sie Ehrfurcht zu empfinden vermöge. „Die Gemeinheit mancher Natur sprützt ^sol'j plötzlich wie schmutziges Wasser hervor, wenn irgend ein heiliges Gefäß, irgend eine Kostbarkeit aus verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des großen Schicksals vorübergetragen wird; und andrerseits giebt es ein unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des Auges, ein Stille¬ werden aller Geberden, worin sich ausspricht, daß eine Seele die Nähe des Vcrehrungswürdigsten fühlt. Die Art, mit der im ganzen bisher die Ehr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/224>, abgerufen am 01.09.2024.