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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Gin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^370/7^

Kriegsschauplatz, die üblichen Wintervergnügungen, Konzerte, Bälle u. dergl.,
wurden eingestellt. Auch die kleine Schulgemeinde stand unter dem Druck der
schweren Zeit. Als sie am 19. November nach dem Brauche die Gedächtnis¬
feier ihrer im Jahre 1869/70 verstorbnen Angehörigen beging, da waren unter
den 22 Toten des Jahres 8, die der Krieg in blühender Jugendkraft hinweg¬
gerafft hatte, 2 bei Wörth, je einen bei Mars-lei-Tour und Gravelotte, 4 bei
Sedan. Zwei kamen später noch hinzu. Die Namen aller wurden noch 1871
auf einer Gedenktafel in der Aula verewigt. Am Totensonntage wurden in
der überfüllten Hauptkirche die Namen der vor dem Feinde gebliebner Ge-
meindeangehvrigen verlesen, es waren ihrer 18. Dazu gingen in den letzten
Nvvemberwochen in großen Zügen die Ersatztruppen des XII. Armeekorps durch,
etwa 8000 Mann, und wir mußten uns auf neue verlustvolle Kämpfe gefaßt
machen. Sie blieben nicht aus und trafen auch unser Armeekorps um so
schwerer, als die grimmige Ausfallsschlacht von Brie und Champigny am
30. November und 2. Dezember die beiden (damaligen) Leipziger Regimenter
Ur. 107 und 108, in denen besonders viele eben ausgehöhlte Studenten auch
aus dem Vogtlande standen, furchtbar mitnahm. Das Schützenregiment Ur. 108
ließ sogar ein Drittel seines Bestandes, 35 Offiziere und 880 Mann auf dem
Platz. Einer unsrer ehemaligen Schüler war am 2. Dezember durch den Unter¬
leib geschossen worden und in den Armen eines zuspringenden Kameraden,
seines ehemaligen Mitschülers, zusammengebrochen, da in dem Augenblicke die
ihnen gegenüberstehenden Franzosen das Zeichen der Ergebung gemacht und
sie dadurch getäuscht hatten. Der andre aber -- er hat es mir später selbst,
zitternd vor innerer Erregung, erzählt -- läßt den sterbenden Freund zu Boden
gleiten, kehrt, rasend vor Wut und Schmerz, sein Gewehr um und schlüge dem
Franzosen, der den verräterischen Schuß abgegeben hat, mit dem Kolben den
Schädel ein, das Werk einer Sekunde. Ein andrer ehemaliger Zögling der
Anstalt, der sie erst zu Ostern 1870 verlassen hatte und im sächsischen Garde¬
reiterregiment als Freiwilliger diente, war dem heimtückischen Überfälle von
Etrepagny in der Nacht des 29. November nur dadurch entgangen, daß er
zufällig auf Vorposten gestanden hatte; zwei andre alte Schüler kehrten in
diesen Tagen schwerkrank aus dem Felde zurück. Das alles gab keine Stimmung
zu der Feier der Königsgeburtstages (12. Dezember) in der sonst üblichen
Form. Die Schüler der obern Klassen verzichteten freiwillig auf den Schüler¬
ball und bestimmten das gesammelte Geld für die Verwundeten. Nur der
Aktus fand wie immer statt. Dabei war eine ganz ungewöhnlich reife Leistung
die deutsche Rede eines Oberprimaners über den Unterschied des antiken und
des modernen Patriotismus, an der alles seine Freude hatte, denn sie zeigte
greifbar die Wirkung der großen Zeit auf unsre Jugend. Der junge Mann
hat unsre Hoffnungen nicht getäuscht, es war der jetzige Professor der klassischen
Archäologie in Bonn, Georg Löschcke. Die Aushebung gegen Ende des Jahres


Gin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^370/7^

Kriegsschauplatz, die üblichen Wintervergnügungen, Konzerte, Bälle u. dergl.,
wurden eingestellt. Auch die kleine Schulgemeinde stand unter dem Druck der
schweren Zeit. Als sie am 19. November nach dem Brauche die Gedächtnis¬
feier ihrer im Jahre 1869/70 verstorbnen Angehörigen beging, da waren unter
den 22 Toten des Jahres 8, die der Krieg in blühender Jugendkraft hinweg¬
gerafft hatte, 2 bei Wörth, je einen bei Mars-lei-Tour und Gravelotte, 4 bei
Sedan. Zwei kamen später noch hinzu. Die Namen aller wurden noch 1871
auf einer Gedenktafel in der Aula verewigt. Am Totensonntage wurden in
der überfüllten Hauptkirche die Namen der vor dem Feinde gebliebner Ge-
meindeangehvrigen verlesen, es waren ihrer 18. Dazu gingen in den letzten
Nvvemberwochen in großen Zügen die Ersatztruppen des XII. Armeekorps durch,
etwa 8000 Mann, und wir mußten uns auf neue verlustvolle Kämpfe gefaßt
machen. Sie blieben nicht aus und trafen auch unser Armeekorps um so
schwerer, als die grimmige Ausfallsschlacht von Brie und Champigny am
30. November und 2. Dezember die beiden (damaligen) Leipziger Regimenter
Ur. 107 und 108, in denen besonders viele eben ausgehöhlte Studenten auch
aus dem Vogtlande standen, furchtbar mitnahm. Das Schützenregiment Ur. 108
ließ sogar ein Drittel seines Bestandes, 35 Offiziere und 880 Mann auf dem
Platz. Einer unsrer ehemaligen Schüler war am 2. Dezember durch den Unter¬
leib geschossen worden und in den Armen eines zuspringenden Kameraden,
seines ehemaligen Mitschülers, zusammengebrochen, da in dem Augenblicke die
ihnen gegenüberstehenden Franzosen das Zeichen der Ergebung gemacht und
sie dadurch getäuscht hatten. Der andre aber — er hat es mir später selbst,
zitternd vor innerer Erregung, erzählt — läßt den sterbenden Freund zu Boden
gleiten, kehrt, rasend vor Wut und Schmerz, sein Gewehr um und schlüge dem
Franzosen, der den verräterischen Schuß abgegeben hat, mit dem Kolben den
Schädel ein, das Werk einer Sekunde. Ein andrer ehemaliger Zögling der
Anstalt, der sie erst zu Ostern 1870 verlassen hatte und im sächsischen Garde¬
reiterregiment als Freiwilliger diente, war dem heimtückischen Überfälle von
Etrepagny in der Nacht des 29. November nur dadurch entgangen, daß er
zufällig auf Vorposten gestanden hatte; zwei andre alte Schüler kehrten in
diesen Tagen schwerkrank aus dem Felde zurück. Das alles gab keine Stimmung
zu der Feier der Königsgeburtstages (12. Dezember) in der sonst üblichen
Form. Die Schüler der obern Klassen verzichteten freiwillig auf den Schüler¬
ball und bestimmten das gesammelte Geld für die Verwundeten. Nur der
Aktus fand wie immer statt. Dabei war eine ganz ungewöhnlich reife Leistung
die deutsche Rede eines Oberprimaners über den Unterschied des antiken und
des modernen Patriotismus, an der alles seine Freude hatte, denn sie zeigte
greifbar die Wirkung der großen Zeit auf unsre Jugend. Der junge Mann
hat unsre Hoffnungen nicht getäuscht, es war der jetzige Professor der klassischen
Archäologie in Bonn, Georg Löschcke. Die Aushebung gegen Ende des Jahres


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[0211] Gin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^370/7^ Kriegsschauplatz, die üblichen Wintervergnügungen, Konzerte, Bälle u. dergl., wurden eingestellt. Auch die kleine Schulgemeinde stand unter dem Druck der schweren Zeit. Als sie am 19. November nach dem Brauche die Gedächtnis¬ feier ihrer im Jahre 1869/70 verstorbnen Angehörigen beging, da waren unter den 22 Toten des Jahres 8, die der Krieg in blühender Jugendkraft hinweg¬ gerafft hatte, 2 bei Wörth, je einen bei Mars-lei-Tour und Gravelotte, 4 bei Sedan. Zwei kamen später noch hinzu. Die Namen aller wurden noch 1871 auf einer Gedenktafel in der Aula verewigt. Am Totensonntage wurden in der überfüllten Hauptkirche die Namen der vor dem Feinde gebliebner Ge- meindeangehvrigen verlesen, es waren ihrer 18. Dazu gingen in den letzten Nvvemberwochen in großen Zügen die Ersatztruppen des XII. Armeekorps durch, etwa 8000 Mann, und wir mußten uns auf neue verlustvolle Kämpfe gefaßt machen. Sie blieben nicht aus und trafen auch unser Armeekorps um so schwerer, als die grimmige Ausfallsschlacht von Brie und Champigny am 30. November und 2. Dezember die beiden (damaligen) Leipziger Regimenter Ur. 107 und 108, in denen besonders viele eben ausgehöhlte Studenten auch aus dem Vogtlande standen, furchtbar mitnahm. Das Schützenregiment Ur. 108 ließ sogar ein Drittel seines Bestandes, 35 Offiziere und 880 Mann auf dem Platz. Einer unsrer ehemaligen Schüler war am 2. Dezember durch den Unter¬ leib geschossen worden und in den Armen eines zuspringenden Kameraden, seines ehemaligen Mitschülers, zusammengebrochen, da in dem Augenblicke die ihnen gegenüberstehenden Franzosen das Zeichen der Ergebung gemacht und sie dadurch getäuscht hatten. Der andre aber — er hat es mir später selbst, zitternd vor innerer Erregung, erzählt — läßt den sterbenden Freund zu Boden gleiten, kehrt, rasend vor Wut und Schmerz, sein Gewehr um und schlüge dem Franzosen, der den verräterischen Schuß abgegeben hat, mit dem Kolben den Schädel ein, das Werk einer Sekunde. Ein andrer ehemaliger Zögling der Anstalt, der sie erst zu Ostern 1870 verlassen hatte und im sächsischen Garde¬ reiterregiment als Freiwilliger diente, war dem heimtückischen Überfälle von Etrepagny in der Nacht des 29. November nur dadurch entgangen, daß er zufällig auf Vorposten gestanden hatte; zwei andre alte Schüler kehrten in diesen Tagen schwerkrank aus dem Felde zurück. Das alles gab keine Stimmung zu der Feier der Königsgeburtstages (12. Dezember) in der sonst üblichen Form. Die Schüler der obern Klassen verzichteten freiwillig auf den Schüler¬ ball und bestimmten das gesammelte Geld für die Verwundeten. Nur der Aktus fand wie immer statt. Dabei war eine ganz ungewöhnlich reife Leistung die deutsche Rede eines Oberprimaners über den Unterschied des antiken und des modernen Patriotismus, an der alles seine Freude hatte, denn sie zeigte greifbar die Wirkung der großen Zeit auf unsre Jugend. Der junge Mann hat unsre Hoffnungen nicht getäuscht, es war der jetzige Professor der klassischen Archäologie in Bonn, Georg Löschcke. Die Aushebung gegen Ende des Jahres

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/211>, abgerufen am 28.07.2024.