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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Lin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^870/7^

Waffengattungen, dunkelblaue, rotbehoste Linieninfanterie, hellblaue Jäger mit
gelben Aufschlägen, Husaren in reichverschnürtem Attila, Karabiniers in roten,
Artilleristen in weißen Mänteln, alle Kleidung verblichen, abgetragen, beschmutzt,
die Gesichter abgemagert, bleich, gelb, erschlafften, müden Ausdrucks; unter
dem schwarzen Haar lagen die dunkeln Augen tief in den Höhlen. Und da¬
neben ihre Bezwinger, die breitschultrigen, blonden, gutmütigen Pommern!
Dankbar nahmen diese, was wir ihnen an Erfrischungen boten, kräftige Bouillon
mit Semmeln; mit der Gier des lange nicht gestillten Hungers sahen ihnen
die Gefangnen zu: Dornen, äonns?! hieß es immer wieder, und bittend drängten
sie sich um uns. Gern gaben wir ihnen, was übrig blieb; wie sie darüber
herfielen! Moralischen Halt hatten sie wenig mehr. Nicht nur Epauletten
und Uniformknöpfe verhandelten sie um ein paar Groschen, sondern auch mili¬
tärische Denkmünzen, denn viele, auch manche unsrer Schüler, verschafften sich
gern ein solches Andenken. Finster sah ein alter, graubärtiger Unteroffizier,
der echte Typus dieser einst ruhmvollen Armee, dessen Brust die Denkmünzen
vom Krimkriege, vom italienischen Feldzug 1859, von China und Mexiko trug,
auf diesen unwürdigen Handel. Am leichtesten schienen die zahlreichen Elsässer
und Lothringer ihr Schicksal zu nehmen. Sie brachten eifrig ihr Deutsch an
den Mann und schienen gar nicht unzufrieden, wenn man ihnen sagte, nun
würden sie deutsch; sie selbst sagten stets: Wir sind Deutsche, und nannten die
Nationalfranzosen regelmäßig die "Welschen."

Am 10. November kam ein guter Teil der Kaisergarde durch, die eine
bessere Haltung zeigte, so erbärmlich die Leute auch aussahen. Da man bei
dem gewöhnlich langen Aufenthalt die Gefangnen meist aussteigen ließ, weil
man ziemlich sicher war, daß sie bei ihrer Entkräftung in dem unbekannten
Lande nicht entlaufen würden, so bedürfte es zuweilen des entschlossenen Auf¬
tretens der Bedeckungsmannschaft, um sie, wenn das Trompetensignal zum
Einsteigen erscholl, wieder in die Wagen zu bringen; dann half wohl ein
energisches: Dutrs?, urousisur! oder eine vielsagende, durchaus unzweideutige
Handbewegung eines deutschen Unteroffiziers nach; ein blutjunger sächsischer
Offizier, der einmal einen solchen Transport leitete, mußte sogar den Degen
ziehen, um den Gehorsam zu erzwingen.

So kam der lange harte, schneereiche Winter, es kamen die blutigen Schlachten
an der Somme und an der Loire, die Schrecknisse und Verluste eines greuel¬
vollen Bandenkrieges, und vor Paris das zähe Ausharren ohne Entscheidung,
dazwischen für uns immer wieder Transporte von Kranken und Verwundeten
und Ersatztruppen. Gar mancher Zug brachte auch die Leiche eines Offiziers
zurück; dann war der Wagen, in dem der Sarg stand, mit einem ein¬
fachen Kreuz bezeichnet. Die Stimmung in der Stadt war nicht nieder¬
geschlagen, aber sehr ernst. Manches Haus war in tiefer Trauer um einen
Gefcillnen, zahlreiche Familien sahen mit schweren Sorgen hinaus auf den


Lin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^870/7^

Waffengattungen, dunkelblaue, rotbehoste Linieninfanterie, hellblaue Jäger mit
gelben Aufschlägen, Husaren in reichverschnürtem Attila, Karabiniers in roten,
Artilleristen in weißen Mänteln, alle Kleidung verblichen, abgetragen, beschmutzt,
die Gesichter abgemagert, bleich, gelb, erschlafften, müden Ausdrucks; unter
dem schwarzen Haar lagen die dunkeln Augen tief in den Höhlen. Und da¬
neben ihre Bezwinger, die breitschultrigen, blonden, gutmütigen Pommern!
Dankbar nahmen diese, was wir ihnen an Erfrischungen boten, kräftige Bouillon
mit Semmeln; mit der Gier des lange nicht gestillten Hungers sahen ihnen
die Gefangnen zu: Dornen, äonns?! hieß es immer wieder, und bittend drängten
sie sich um uns. Gern gaben wir ihnen, was übrig blieb; wie sie darüber
herfielen! Moralischen Halt hatten sie wenig mehr. Nicht nur Epauletten
und Uniformknöpfe verhandelten sie um ein paar Groschen, sondern auch mili¬
tärische Denkmünzen, denn viele, auch manche unsrer Schüler, verschafften sich
gern ein solches Andenken. Finster sah ein alter, graubärtiger Unteroffizier,
der echte Typus dieser einst ruhmvollen Armee, dessen Brust die Denkmünzen
vom Krimkriege, vom italienischen Feldzug 1859, von China und Mexiko trug,
auf diesen unwürdigen Handel. Am leichtesten schienen die zahlreichen Elsässer
und Lothringer ihr Schicksal zu nehmen. Sie brachten eifrig ihr Deutsch an
den Mann und schienen gar nicht unzufrieden, wenn man ihnen sagte, nun
würden sie deutsch; sie selbst sagten stets: Wir sind Deutsche, und nannten die
Nationalfranzosen regelmäßig die „Welschen."

Am 10. November kam ein guter Teil der Kaisergarde durch, die eine
bessere Haltung zeigte, so erbärmlich die Leute auch aussahen. Da man bei
dem gewöhnlich langen Aufenthalt die Gefangnen meist aussteigen ließ, weil
man ziemlich sicher war, daß sie bei ihrer Entkräftung in dem unbekannten
Lande nicht entlaufen würden, so bedürfte es zuweilen des entschlossenen Auf¬
tretens der Bedeckungsmannschaft, um sie, wenn das Trompetensignal zum
Einsteigen erscholl, wieder in die Wagen zu bringen; dann half wohl ein
energisches: Dutrs?, urousisur! oder eine vielsagende, durchaus unzweideutige
Handbewegung eines deutschen Unteroffiziers nach; ein blutjunger sächsischer
Offizier, der einmal einen solchen Transport leitete, mußte sogar den Degen
ziehen, um den Gehorsam zu erzwingen.

So kam der lange harte, schneereiche Winter, es kamen die blutigen Schlachten
an der Somme und an der Loire, die Schrecknisse und Verluste eines greuel¬
vollen Bandenkrieges, und vor Paris das zähe Ausharren ohne Entscheidung,
dazwischen für uns immer wieder Transporte von Kranken und Verwundeten
und Ersatztruppen. Gar mancher Zug brachte auch die Leiche eines Offiziers
zurück; dann war der Wagen, in dem der Sarg stand, mit einem ein¬
fachen Kreuz bezeichnet. Die Stimmung in der Stadt war nicht nieder¬
geschlagen, aber sehr ernst. Manches Haus war in tiefer Trauer um einen
Gefcillnen, zahlreiche Familien sahen mit schweren Sorgen hinaus auf den


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[0210] Lin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^870/7^ Waffengattungen, dunkelblaue, rotbehoste Linieninfanterie, hellblaue Jäger mit gelben Aufschlägen, Husaren in reichverschnürtem Attila, Karabiniers in roten, Artilleristen in weißen Mänteln, alle Kleidung verblichen, abgetragen, beschmutzt, die Gesichter abgemagert, bleich, gelb, erschlafften, müden Ausdrucks; unter dem schwarzen Haar lagen die dunkeln Augen tief in den Höhlen. Und da¬ neben ihre Bezwinger, die breitschultrigen, blonden, gutmütigen Pommern! Dankbar nahmen diese, was wir ihnen an Erfrischungen boten, kräftige Bouillon mit Semmeln; mit der Gier des lange nicht gestillten Hungers sahen ihnen die Gefangnen zu: Dornen, äonns?! hieß es immer wieder, und bittend drängten sie sich um uns. Gern gaben wir ihnen, was übrig blieb; wie sie darüber herfielen! Moralischen Halt hatten sie wenig mehr. Nicht nur Epauletten und Uniformknöpfe verhandelten sie um ein paar Groschen, sondern auch mili¬ tärische Denkmünzen, denn viele, auch manche unsrer Schüler, verschafften sich gern ein solches Andenken. Finster sah ein alter, graubärtiger Unteroffizier, der echte Typus dieser einst ruhmvollen Armee, dessen Brust die Denkmünzen vom Krimkriege, vom italienischen Feldzug 1859, von China und Mexiko trug, auf diesen unwürdigen Handel. Am leichtesten schienen die zahlreichen Elsässer und Lothringer ihr Schicksal zu nehmen. Sie brachten eifrig ihr Deutsch an den Mann und schienen gar nicht unzufrieden, wenn man ihnen sagte, nun würden sie deutsch; sie selbst sagten stets: Wir sind Deutsche, und nannten die Nationalfranzosen regelmäßig die „Welschen." Am 10. November kam ein guter Teil der Kaisergarde durch, die eine bessere Haltung zeigte, so erbärmlich die Leute auch aussahen. Da man bei dem gewöhnlich langen Aufenthalt die Gefangnen meist aussteigen ließ, weil man ziemlich sicher war, daß sie bei ihrer Entkräftung in dem unbekannten Lande nicht entlaufen würden, so bedürfte es zuweilen des entschlossenen Auf¬ tretens der Bedeckungsmannschaft, um sie, wenn das Trompetensignal zum Einsteigen erscholl, wieder in die Wagen zu bringen; dann half wohl ein energisches: Dutrs?, urousisur! oder eine vielsagende, durchaus unzweideutige Handbewegung eines deutschen Unteroffiziers nach; ein blutjunger sächsischer Offizier, der einmal einen solchen Transport leitete, mußte sogar den Degen ziehen, um den Gehorsam zu erzwingen. So kam der lange harte, schneereiche Winter, es kamen die blutigen Schlachten an der Somme und an der Loire, die Schrecknisse und Verluste eines greuel¬ vollen Bandenkrieges, und vor Paris das zähe Ausharren ohne Entscheidung, dazwischen für uns immer wieder Transporte von Kranken und Verwundeten und Ersatztruppen. Gar mancher Zug brachte auch die Leiche eines Offiziers zurück; dann war der Wagen, in dem der Sarg stand, mit einem ein¬ fachen Kreuz bezeichnet. Die Stimmung in der Stadt war nicht nieder¬ geschlagen, aber sehr ernst. Manches Haus war in tiefer Trauer um einen Gefcillnen, zahlreiche Familien sahen mit schweren Sorgen hinaus auf den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/210>, abgerufen am 28.07.2024.