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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Gin sächsisches Gymnasium während des Krieges von I.3?0/?^

Schauplatze ein, die sofort öffentlich angeschlagen wurden, und es förderte die
Vertiefung in die Unterrichtsgegenstände nicht, daß sie immer an einem Stein¬
pfeiler der Garteneinfassung des gegenüberliegenden Seminars erschienen. Bei
wichtigern Ereignissen stiegen außerdem sofort Flaggen in der Stadt auf, vor
allem auf dem altehrwürdigen Rathause, und da man diese von manchen
Klassen des die ganze Stadt beherrschenden Schulgebäudes aus sehen konnte,
so war die Aufmerksamkeit zuweilen mehr auf die Fenster als ans den Lehrer
gerichtet. So tauchten am Vormittage des 18. August die Fahnen des Rat¬
hauses auf, und die gegenüber am Seminar angeschlagne Depesche brachte die
erste Kunde von dem blutigen Kampfe bei Mars la Tour. Am 19. abends
hatten wir die Nachricht von Gravelotte und Se. Privat; sofort wurden
Sammlungen von Geld und Erfrischungsgegenstünden für die Verwundeten
angeregt, und am nächsten Mittag, Sonnabends, forderten große Plakate zur
Beteiligung auf. Nachmittags gingen zahlreiche Wagen, von jungen Leuten,
auch Schülern der obern Klassen, begleitet, durch die Stadt, um die reichlich
fließenden Gaben in Empfang zu nehmen. Noch wußten wir nicht, ob das
XII. Armeekorps, ob insbesondre unser Regiment im Feuer gewesen sei. Voll
Spannung und doch gehobnen Herzens sahen wir am Sonntag einen großen
Transport schlesischer Artillerie vorübergehen, die nach Straßburg bestimmt
war, und eifrig beteiligten sich Lehrer und Schüler bei der Spende von Er¬
frischungen. Welch ein Eindruck: siegreiche Schlachten lagen hinter uns, Männer,
die zu neuen Kämpfen auszogen, sahen wir vor uns, und um uns ein Volk,
das sie bei Ankunft und Abfahrt mit brausendem Hurra begrüßte.

Da trafen am Montag, am 21. abends, die ersten großen Züge von Ver¬
wundeten aus den Schlachten um Metz ein, viele Sachsen darunter, und wir
erhielten die ersten genauern Nachrichten. Das ganze XII. Armeekorps hatte im
Feuer gestanden, unter den ersten Truppen auch das 105. Regiment. Ungeheure
Aufregung ging durch die Stadt, fast alle Offiziere wurden von dem übertreibender
Gerüchte tot gesagt. Erst die Verlustlisten brachten am 22. Gewißheit, den einen
die Bestätigung seiner Befürchtungen und damit tiefe Trauer, den andern die Er¬
lösung von banger Spannung. Eine Reihe uns wohlbekannter Offiziere, mit
denen wir noch vor wenigen Wochen friedlich verkehrt hatten, war tot oder
verwundet, darunter alle Adjutanten des Regiments, und auch ein ehemaliger
Schüler des Gymnasiums war unter den Gefallnen, ein andrer hatte beim
Sturm auf Se. Marie-aux-Chenes einen Schuß durch die Brust erhalten,
genas übrigens später wieder. Zugleich wurden aus Soldatenbriefen die ersten
Einzelheiten von der Schlacht bekannt: der verheerende Kugelregen der Chasse-
Pots, das betäubende, sinnverwirrende Getöse des Kampfes, die Ruhe und
Tapferkeit der Unsern, die Unzahl der Verwundeten, der schreckliche Anblick des
Schlachtfeldes. Umso freudiger begrüßte man es, daß am Vormittage des
22. August zwei junge Kaufleute mit den angesammelten Gaben in dreiund¬
sechzig Kisten, Körben und Fässern nach dem Kriegsschauplatze abreisten, um


Gin sächsisches Gymnasium während des Krieges von I.3?0/?^

Schauplatze ein, die sofort öffentlich angeschlagen wurden, und es förderte die
Vertiefung in die Unterrichtsgegenstände nicht, daß sie immer an einem Stein¬
pfeiler der Garteneinfassung des gegenüberliegenden Seminars erschienen. Bei
wichtigern Ereignissen stiegen außerdem sofort Flaggen in der Stadt auf, vor
allem auf dem altehrwürdigen Rathause, und da man diese von manchen
Klassen des die ganze Stadt beherrschenden Schulgebäudes aus sehen konnte,
so war die Aufmerksamkeit zuweilen mehr auf die Fenster als ans den Lehrer
gerichtet. So tauchten am Vormittage des 18. August die Fahnen des Rat¬
hauses auf, und die gegenüber am Seminar angeschlagne Depesche brachte die
erste Kunde von dem blutigen Kampfe bei Mars la Tour. Am 19. abends
hatten wir die Nachricht von Gravelotte und Se. Privat; sofort wurden
Sammlungen von Geld und Erfrischungsgegenstünden für die Verwundeten
angeregt, und am nächsten Mittag, Sonnabends, forderten große Plakate zur
Beteiligung auf. Nachmittags gingen zahlreiche Wagen, von jungen Leuten,
auch Schülern der obern Klassen, begleitet, durch die Stadt, um die reichlich
fließenden Gaben in Empfang zu nehmen. Noch wußten wir nicht, ob das
XII. Armeekorps, ob insbesondre unser Regiment im Feuer gewesen sei. Voll
Spannung und doch gehobnen Herzens sahen wir am Sonntag einen großen
Transport schlesischer Artillerie vorübergehen, die nach Straßburg bestimmt
war, und eifrig beteiligten sich Lehrer und Schüler bei der Spende von Er¬
frischungen. Welch ein Eindruck: siegreiche Schlachten lagen hinter uns, Männer,
die zu neuen Kämpfen auszogen, sahen wir vor uns, und um uns ein Volk,
das sie bei Ankunft und Abfahrt mit brausendem Hurra begrüßte.

Da trafen am Montag, am 21. abends, die ersten großen Züge von Ver¬
wundeten aus den Schlachten um Metz ein, viele Sachsen darunter, und wir
erhielten die ersten genauern Nachrichten. Das ganze XII. Armeekorps hatte im
Feuer gestanden, unter den ersten Truppen auch das 105. Regiment. Ungeheure
Aufregung ging durch die Stadt, fast alle Offiziere wurden von dem übertreibender
Gerüchte tot gesagt. Erst die Verlustlisten brachten am 22. Gewißheit, den einen
die Bestätigung seiner Befürchtungen und damit tiefe Trauer, den andern die Er¬
lösung von banger Spannung. Eine Reihe uns wohlbekannter Offiziere, mit
denen wir noch vor wenigen Wochen friedlich verkehrt hatten, war tot oder
verwundet, darunter alle Adjutanten des Regiments, und auch ein ehemaliger
Schüler des Gymnasiums war unter den Gefallnen, ein andrer hatte beim
Sturm auf Se. Marie-aux-Chenes einen Schuß durch die Brust erhalten,
genas übrigens später wieder. Zugleich wurden aus Soldatenbriefen die ersten
Einzelheiten von der Schlacht bekannt: der verheerende Kugelregen der Chasse-
Pots, das betäubende, sinnverwirrende Getöse des Kampfes, die Ruhe und
Tapferkeit der Unsern, die Unzahl der Verwundeten, der schreckliche Anblick des
Schlachtfeldes. Umso freudiger begrüßte man es, daß am Vormittage des
22. August zwei junge Kaufleute mit den angesammelten Gaben in dreiund¬
sechzig Kisten, Körben und Fässern nach dem Kriegsschauplatze abreisten, um


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[0207] Gin sächsisches Gymnasium während des Krieges von I.3?0/?^ Schauplatze ein, die sofort öffentlich angeschlagen wurden, und es förderte die Vertiefung in die Unterrichtsgegenstände nicht, daß sie immer an einem Stein¬ pfeiler der Garteneinfassung des gegenüberliegenden Seminars erschienen. Bei wichtigern Ereignissen stiegen außerdem sofort Flaggen in der Stadt auf, vor allem auf dem altehrwürdigen Rathause, und da man diese von manchen Klassen des die ganze Stadt beherrschenden Schulgebäudes aus sehen konnte, so war die Aufmerksamkeit zuweilen mehr auf die Fenster als ans den Lehrer gerichtet. So tauchten am Vormittage des 18. August die Fahnen des Rat¬ hauses auf, und die gegenüber am Seminar angeschlagne Depesche brachte die erste Kunde von dem blutigen Kampfe bei Mars la Tour. Am 19. abends hatten wir die Nachricht von Gravelotte und Se. Privat; sofort wurden Sammlungen von Geld und Erfrischungsgegenstünden für die Verwundeten angeregt, und am nächsten Mittag, Sonnabends, forderten große Plakate zur Beteiligung auf. Nachmittags gingen zahlreiche Wagen, von jungen Leuten, auch Schülern der obern Klassen, begleitet, durch die Stadt, um die reichlich fließenden Gaben in Empfang zu nehmen. Noch wußten wir nicht, ob das XII. Armeekorps, ob insbesondre unser Regiment im Feuer gewesen sei. Voll Spannung und doch gehobnen Herzens sahen wir am Sonntag einen großen Transport schlesischer Artillerie vorübergehen, die nach Straßburg bestimmt war, und eifrig beteiligten sich Lehrer und Schüler bei der Spende von Er¬ frischungen. Welch ein Eindruck: siegreiche Schlachten lagen hinter uns, Männer, die zu neuen Kämpfen auszogen, sahen wir vor uns, und um uns ein Volk, das sie bei Ankunft und Abfahrt mit brausendem Hurra begrüßte. Da trafen am Montag, am 21. abends, die ersten großen Züge von Ver¬ wundeten aus den Schlachten um Metz ein, viele Sachsen darunter, und wir erhielten die ersten genauern Nachrichten. Das ganze XII. Armeekorps hatte im Feuer gestanden, unter den ersten Truppen auch das 105. Regiment. Ungeheure Aufregung ging durch die Stadt, fast alle Offiziere wurden von dem übertreibender Gerüchte tot gesagt. Erst die Verlustlisten brachten am 22. Gewißheit, den einen die Bestätigung seiner Befürchtungen und damit tiefe Trauer, den andern die Er¬ lösung von banger Spannung. Eine Reihe uns wohlbekannter Offiziere, mit denen wir noch vor wenigen Wochen friedlich verkehrt hatten, war tot oder verwundet, darunter alle Adjutanten des Regiments, und auch ein ehemaliger Schüler des Gymnasiums war unter den Gefallnen, ein andrer hatte beim Sturm auf Se. Marie-aux-Chenes einen Schuß durch die Brust erhalten, genas übrigens später wieder. Zugleich wurden aus Soldatenbriefen die ersten Einzelheiten von der Schlacht bekannt: der verheerende Kugelregen der Chasse- Pots, das betäubende, sinnverwirrende Getöse des Kampfes, die Ruhe und Tapferkeit der Unsern, die Unzahl der Verwundeten, der schreckliche Anblick des Schlachtfeldes. Umso freudiger begrüßte man es, daß am Vormittage des 22. August zwei junge Kaufleute mit den angesammelten Gaben in dreiund¬ sechzig Kisten, Körben und Fässern nach dem Kriegsschauplatze abreisten, um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/207>, abgerufen am 28.07.2024.