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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Lili sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^870/7^

verhüte, unterliegen sollten, dann wehe uns! Dann gehen uns das linke
Rheinufer und die Errungenschaften der letzten Jahre alle wieder verloren;
wenn wir aber siegen -- und das hoffen wir zu Gott --, dann haben wir
in Zukunft die Grenze Deutschlands nicht mehr am Rheine, sondern auf den
Vogesen zu suchen." Auf der Heimreise in die Ferien nach der Lausitz, am
16. Juli, las ich in Chemnitz die entscheidenden Nachrichten aus Paris und
die kurze, aber schwerwiegende Berliner Depesche: "Die Mobilisirung der ge¬
samten Armee des Norddeutschen Bundes ist angeordnet"; bei der Ankunft in
der Heimat fand ich dort das Gerücht verbreitet, daß die Franzosen schon in
Baden stünden. Nach Lage der Sache schien das nur allzuglaublich, und doch
erwies es sich als eine Tatarennachricht. Unter wachsender Spannung ver¬
gingen die nächsten vierzehn Tage mit der planmäßigen Mobilisirung, die zum
erstenmale auch in Sachsen tief in alle Verhältnisse eingriff. Dann begannen
die Truppentransporte. Da Plauen an einer der großen Linien nach dem
Westen (Linie IZ) lag. so war es auf das stärkste daran beteiligt. In endlosen
Wagenzügen, jeden Tag dreißig und mehr zu durchschnittlich hundert Achsen
gingen das V. und das VI. Armeekorps an der Stadt vorbei, von einem frei¬
willigen Verpflegungsausschuß aus der Bürgerschaft empfangen und nach Kräften
beköstigt. Am 26. Juli reiste der Kronprinz von Preußen nach München
durch und wurde auf allen Stationen mit brausendem Jubel begrüßt, als ob
mau geahnt hätte, welch glänzender Siegeslaufbahn er entgegenging. Die
ganze Bevölkerung war in tiefster Erregung; diese wuchs aufs höchste, als die
Garnison der Stadt, die zu der Bürgerschaft in dem besten Verhältnis stand,
das 6. sächsische Infanterieregiment Ur. 105, und dann das Ersatzbataillon
ins Feld ging. Waren doch diesmal auch zahlreiche Sohne gebildeter Familien
zur Fahne berufen, und neben einer Anzahl ehemaliger Gymnasiasten auch
zwei damalige Schüler, ein Unter- und ein Oberprimaner, von denen der zweite
gegen das Ende der Ferien, am 12. August, seine Reifeprüfung in abgekürzter
Form bestand. Mit seiner Entlassung durch den Rektor wurde am 15. August
Montags die Schule wieder eröffnet; er selbst verabschiedete sich in kurzer
Ansprache, und erschütternd und erhebend klang zum Schlüsse der einfachen
Feier durch die kleine Schulgemeinde, an die der schwere Ernst der Zeit so
unvermittelt und so nahe herangetreten war, das alte protestantische Kampf¬
und Siegeslied: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen!
Ich benutzte darauf in allen meinen Geschichtsklassen die ersten Stunden, um
einen Überblick über den bisherigen Gang der Ereignisse zu geben, und habe
das während des Krieges noch mehrfach wiederholt.

Nicht so ganz leicht fanden sich Lehrer und Schüler in den gewöhnten
Gang der Arbeit wieder hinein. Denn bestündig gingen Nachschübe auf der
Linie L vorüber, bald kamen auch kleine Verwundetentransporte zurück; der
hochgelegne ziemlich entfernte Bahnhof wurde ein Hauptziel der Spaziergünge
und ein beliebter Sammelpunkt. Dazu liefen täglich Depeschen vom Kriegs-


Lili sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^870/7^

verhüte, unterliegen sollten, dann wehe uns! Dann gehen uns das linke
Rheinufer und die Errungenschaften der letzten Jahre alle wieder verloren;
wenn wir aber siegen — und das hoffen wir zu Gott —, dann haben wir
in Zukunft die Grenze Deutschlands nicht mehr am Rheine, sondern auf den
Vogesen zu suchen." Auf der Heimreise in die Ferien nach der Lausitz, am
16. Juli, las ich in Chemnitz die entscheidenden Nachrichten aus Paris und
die kurze, aber schwerwiegende Berliner Depesche: „Die Mobilisirung der ge¬
samten Armee des Norddeutschen Bundes ist angeordnet"; bei der Ankunft in
der Heimat fand ich dort das Gerücht verbreitet, daß die Franzosen schon in
Baden stünden. Nach Lage der Sache schien das nur allzuglaublich, und doch
erwies es sich als eine Tatarennachricht. Unter wachsender Spannung ver¬
gingen die nächsten vierzehn Tage mit der planmäßigen Mobilisirung, die zum
erstenmale auch in Sachsen tief in alle Verhältnisse eingriff. Dann begannen
die Truppentransporte. Da Plauen an einer der großen Linien nach dem
Westen (Linie IZ) lag. so war es auf das stärkste daran beteiligt. In endlosen
Wagenzügen, jeden Tag dreißig und mehr zu durchschnittlich hundert Achsen
gingen das V. und das VI. Armeekorps an der Stadt vorbei, von einem frei¬
willigen Verpflegungsausschuß aus der Bürgerschaft empfangen und nach Kräften
beköstigt. Am 26. Juli reiste der Kronprinz von Preußen nach München
durch und wurde auf allen Stationen mit brausendem Jubel begrüßt, als ob
mau geahnt hätte, welch glänzender Siegeslaufbahn er entgegenging. Die
ganze Bevölkerung war in tiefster Erregung; diese wuchs aufs höchste, als die
Garnison der Stadt, die zu der Bürgerschaft in dem besten Verhältnis stand,
das 6. sächsische Infanterieregiment Ur. 105, und dann das Ersatzbataillon
ins Feld ging. Waren doch diesmal auch zahlreiche Sohne gebildeter Familien
zur Fahne berufen, und neben einer Anzahl ehemaliger Gymnasiasten auch
zwei damalige Schüler, ein Unter- und ein Oberprimaner, von denen der zweite
gegen das Ende der Ferien, am 12. August, seine Reifeprüfung in abgekürzter
Form bestand. Mit seiner Entlassung durch den Rektor wurde am 15. August
Montags die Schule wieder eröffnet; er selbst verabschiedete sich in kurzer
Ansprache, und erschütternd und erhebend klang zum Schlüsse der einfachen
Feier durch die kleine Schulgemeinde, an die der schwere Ernst der Zeit so
unvermittelt und so nahe herangetreten war, das alte protestantische Kampf¬
und Siegeslied: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen!
Ich benutzte darauf in allen meinen Geschichtsklassen die ersten Stunden, um
einen Überblick über den bisherigen Gang der Ereignisse zu geben, und habe
das während des Krieges noch mehrfach wiederholt.

Nicht so ganz leicht fanden sich Lehrer und Schüler in den gewöhnten
Gang der Arbeit wieder hinein. Denn bestündig gingen Nachschübe auf der
Linie L vorüber, bald kamen auch kleine Verwundetentransporte zurück; der
hochgelegne ziemlich entfernte Bahnhof wurde ein Hauptziel der Spaziergünge
und ein beliebter Sammelpunkt. Dazu liefen täglich Depeschen vom Kriegs-


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[0206] Lili sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^870/7^ verhüte, unterliegen sollten, dann wehe uns! Dann gehen uns das linke Rheinufer und die Errungenschaften der letzten Jahre alle wieder verloren; wenn wir aber siegen — und das hoffen wir zu Gott —, dann haben wir in Zukunft die Grenze Deutschlands nicht mehr am Rheine, sondern auf den Vogesen zu suchen." Auf der Heimreise in die Ferien nach der Lausitz, am 16. Juli, las ich in Chemnitz die entscheidenden Nachrichten aus Paris und die kurze, aber schwerwiegende Berliner Depesche: „Die Mobilisirung der ge¬ samten Armee des Norddeutschen Bundes ist angeordnet"; bei der Ankunft in der Heimat fand ich dort das Gerücht verbreitet, daß die Franzosen schon in Baden stünden. Nach Lage der Sache schien das nur allzuglaublich, und doch erwies es sich als eine Tatarennachricht. Unter wachsender Spannung ver¬ gingen die nächsten vierzehn Tage mit der planmäßigen Mobilisirung, die zum erstenmale auch in Sachsen tief in alle Verhältnisse eingriff. Dann begannen die Truppentransporte. Da Plauen an einer der großen Linien nach dem Westen (Linie IZ) lag. so war es auf das stärkste daran beteiligt. In endlosen Wagenzügen, jeden Tag dreißig und mehr zu durchschnittlich hundert Achsen gingen das V. und das VI. Armeekorps an der Stadt vorbei, von einem frei¬ willigen Verpflegungsausschuß aus der Bürgerschaft empfangen und nach Kräften beköstigt. Am 26. Juli reiste der Kronprinz von Preußen nach München durch und wurde auf allen Stationen mit brausendem Jubel begrüßt, als ob mau geahnt hätte, welch glänzender Siegeslaufbahn er entgegenging. Die ganze Bevölkerung war in tiefster Erregung; diese wuchs aufs höchste, als die Garnison der Stadt, die zu der Bürgerschaft in dem besten Verhältnis stand, das 6. sächsische Infanterieregiment Ur. 105, und dann das Ersatzbataillon ins Feld ging. Waren doch diesmal auch zahlreiche Sohne gebildeter Familien zur Fahne berufen, und neben einer Anzahl ehemaliger Gymnasiasten auch zwei damalige Schüler, ein Unter- und ein Oberprimaner, von denen der zweite gegen das Ende der Ferien, am 12. August, seine Reifeprüfung in abgekürzter Form bestand. Mit seiner Entlassung durch den Rektor wurde am 15. August Montags die Schule wieder eröffnet; er selbst verabschiedete sich in kurzer Ansprache, und erschütternd und erhebend klang zum Schlüsse der einfachen Feier durch die kleine Schulgemeinde, an die der schwere Ernst der Zeit so unvermittelt und so nahe herangetreten war, das alte protestantische Kampf¬ und Siegeslied: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen! Ich benutzte darauf in allen meinen Geschichtsklassen die ersten Stunden, um einen Überblick über den bisherigen Gang der Ereignisse zu geben, und habe das während des Krieges noch mehrfach wiederholt. Nicht so ganz leicht fanden sich Lehrer und Schüler in den gewöhnten Gang der Arbeit wieder hinein. Denn bestündig gingen Nachschübe auf der Linie L vorüber, bald kamen auch kleine Verwundetentransporte zurück; der hochgelegne ziemlich entfernte Bahnhof wurde ein Hauptziel der Spaziergünge und ein beliebter Sammelpunkt. Dazu liefen täglich Depeschen vom Kriegs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/206>, abgerufen am 28.07.2024.