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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Lin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^ 370/7 l

mahlsfeier. Mit seiner zahlreichen Familie und seinen Pensionären hauste er
in einem alten weitläufigen Gebäude an der Hauptkirche auf der alten Stadt¬
mauer und sah von dort aus den Fenstern seiner engen, bescheidnen, mit Büchern
vollgestopften Klause rauchumhüllt auf das breite grüne Elsterthal zu seinen
Füßen und auf die gegenüberliegenden Höhen; dort war er auch am ehesten
zu behaglichem Plaudern geneigt. Gern erzählte er da von seinem Leben, wie
er gegen seine eigentliche Neigung seiner Mutter zuliebe Theolog geworden sei,
dann längere Zeit als Hauslehrer, als "Lehrkerl," wie man dort zu sagen
pflegte, auf einem adlichen Gute in der Nähe von Stettin pommersche Junker
erzogen, und wie sehr es dem sächsischen Kandidaten imponirt habe, daß diese
adlichen Kreise auf jeden mit Verachtung gesehen hätten, der 1813/15 nicht
"dabei gewesen" sei, denn fast jeder dieser Herren trug das Eiserne Kreuz.
Sehr zeitig war er dann nach dem Vogtlande gekommen und hier ganz heimisch
geworden, also unter Umständen auch zu einer gewissen Derbheit des Auftretens
geneigt. Er pflegte dann zu sagen, daß er die "Rindsledernen" (Stiefel) an¬
ziehen müsse. Dann konnte der sonst so gehaltne, ernste Mann sogar leiden¬
schaftlich werden. Von der Welt hatte er auf weiten Wanderungen manches
gesehen; damals war er sehr seßhaft geworden, nur einmal kam er in diesen
Jahren der Erholung wegen in die Schweiz. Aber er sah mit klugen Augen
und gesundem Urteil in die Welt und führte ein genaues Tagebuch über alles,
was ihm begegnete und interessant war, merkwürdigerweise in neuhebräischer
Kursivschrift, damit es niemand außer ihm lesen könne. Daß er 1870 die
Redaktion des Vogtländischen Anzeigers übernahm, war für das Blatt ein
Vorteil, wenngleich er einen schwerflüssigen Stil schrieb und seine Leitartikel
mehr Gedanken enthielten, als die Mehrzahl seiner Leser vertragen konnte. Als
er am 16. Juli 1874 einem Herzleiden erlag, setzten ihm seine dankbaren
Schüler einen Grabstein, dessen Inschrift mit den bezeichnenden Worten schließt:
"Er war ein Mann." Anspruchslos wie er lebte das Kollegium überhaupt,
denn begüterte Leute gab es nicht darunter, und die Gehalte waren schmal.
Soviel aber auch gelegentlich darüber und auch über andres räsonirt wurde,
und trotz mancher persönlichen Häkeleien, wie sie überall vorkommen, thaten
doch die Amtsgenossen unverdrossen ihre Pflicht, genossen auch die Freuden
einfacher Geselligkeit innerhalb und außerhalb des Hauses, durchstreiften viel
die anmutige Umgebung der Stadt und nahmen auch an politischen Dingen
meist regen Anteil.

Um so größer war die Aufregung, als am 4. Juli die ersten Nachrichten
von der spanischen Thronkandidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern
eintrafen. An Krieg dachte zunächst natürlich niemand, aber schon vor dem
Eintritt in die Sommerferien war er unzweifelhaft. In der letzten Geschichts¬
stunde der Gymnasialprima gab ich daher den Schülern einen kurzen Überblick
über die Verwicklung und schloß mit den Worten: "Wenn wir, was Gott


Lin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^ 370/7 l

mahlsfeier. Mit seiner zahlreichen Familie und seinen Pensionären hauste er
in einem alten weitläufigen Gebäude an der Hauptkirche auf der alten Stadt¬
mauer und sah von dort aus den Fenstern seiner engen, bescheidnen, mit Büchern
vollgestopften Klause rauchumhüllt auf das breite grüne Elsterthal zu seinen
Füßen und auf die gegenüberliegenden Höhen; dort war er auch am ehesten
zu behaglichem Plaudern geneigt. Gern erzählte er da von seinem Leben, wie
er gegen seine eigentliche Neigung seiner Mutter zuliebe Theolog geworden sei,
dann längere Zeit als Hauslehrer, als „Lehrkerl," wie man dort zu sagen
pflegte, auf einem adlichen Gute in der Nähe von Stettin pommersche Junker
erzogen, und wie sehr es dem sächsischen Kandidaten imponirt habe, daß diese
adlichen Kreise auf jeden mit Verachtung gesehen hätten, der 1813/15 nicht
„dabei gewesen" sei, denn fast jeder dieser Herren trug das Eiserne Kreuz.
Sehr zeitig war er dann nach dem Vogtlande gekommen und hier ganz heimisch
geworden, also unter Umständen auch zu einer gewissen Derbheit des Auftretens
geneigt. Er pflegte dann zu sagen, daß er die „Rindsledernen" (Stiefel) an¬
ziehen müsse. Dann konnte der sonst so gehaltne, ernste Mann sogar leiden¬
schaftlich werden. Von der Welt hatte er auf weiten Wanderungen manches
gesehen; damals war er sehr seßhaft geworden, nur einmal kam er in diesen
Jahren der Erholung wegen in die Schweiz. Aber er sah mit klugen Augen
und gesundem Urteil in die Welt und führte ein genaues Tagebuch über alles,
was ihm begegnete und interessant war, merkwürdigerweise in neuhebräischer
Kursivschrift, damit es niemand außer ihm lesen könne. Daß er 1870 die
Redaktion des Vogtländischen Anzeigers übernahm, war für das Blatt ein
Vorteil, wenngleich er einen schwerflüssigen Stil schrieb und seine Leitartikel
mehr Gedanken enthielten, als die Mehrzahl seiner Leser vertragen konnte. Als
er am 16. Juli 1874 einem Herzleiden erlag, setzten ihm seine dankbaren
Schüler einen Grabstein, dessen Inschrift mit den bezeichnenden Worten schließt:
„Er war ein Mann." Anspruchslos wie er lebte das Kollegium überhaupt,
denn begüterte Leute gab es nicht darunter, und die Gehalte waren schmal.
Soviel aber auch gelegentlich darüber und auch über andres räsonirt wurde,
und trotz mancher persönlichen Häkeleien, wie sie überall vorkommen, thaten
doch die Amtsgenossen unverdrossen ihre Pflicht, genossen auch die Freuden
einfacher Geselligkeit innerhalb und außerhalb des Hauses, durchstreiften viel
die anmutige Umgebung der Stadt und nahmen auch an politischen Dingen
meist regen Anteil.

Um so größer war die Aufregung, als am 4. Juli die ersten Nachrichten
von der spanischen Thronkandidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern
eintrafen. An Krieg dachte zunächst natürlich niemand, aber schon vor dem
Eintritt in die Sommerferien war er unzweifelhaft. In der letzten Geschichts¬
stunde der Gymnasialprima gab ich daher den Schülern einen kurzen Überblick
über die Verwicklung und schloß mit den Worten: „Wenn wir, was Gott


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[0205] Lin sächsisches Gymnasium während des Krieges von ^ 370/7 l mahlsfeier. Mit seiner zahlreichen Familie und seinen Pensionären hauste er in einem alten weitläufigen Gebäude an der Hauptkirche auf der alten Stadt¬ mauer und sah von dort aus den Fenstern seiner engen, bescheidnen, mit Büchern vollgestopften Klause rauchumhüllt auf das breite grüne Elsterthal zu seinen Füßen und auf die gegenüberliegenden Höhen; dort war er auch am ehesten zu behaglichem Plaudern geneigt. Gern erzählte er da von seinem Leben, wie er gegen seine eigentliche Neigung seiner Mutter zuliebe Theolog geworden sei, dann längere Zeit als Hauslehrer, als „Lehrkerl," wie man dort zu sagen pflegte, auf einem adlichen Gute in der Nähe von Stettin pommersche Junker erzogen, und wie sehr es dem sächsischen Kandidaten imponirt habe, daß diese adlichen Kreise auf jeden mit Verachtung gesehen hätten, der 1813/15 nicht „dabei gewesen" sei, denn fast jeder dieser Herren trug das Eiserne Kreuz. Sehr zeitig war er dann nach dem Vogtlande gekommen und hier ganz heimisch geworden, also unter Umständen auch zu einer gewissen Derbheit des Auftretens geneigt. Er pflegte dann zu sagen, daß er die „Rindsledernen" (Stiefel) an¬ ziehen müsse. Dann konnte der sonst so gehaltne, ernste Mann sogar leiden¬ schaftlich werden. Von der Welt hatte er auf weiten Wanderungen manches gesehen; damals war er sehr seßhaft geworden, nur einmal kam er in diesen Jahren der Erholung wegen in die Schweiz. Aber er sah mit klugen Augen und gesundem Urteil in die Welt und führte ein genaues Tagebuch über alles, was ihm begegnete und interessant war, merkwürdigerweise in neuhebräischer Kursivschrift, damit es niemand außer ihm lesen könne. Daß er 1870 die Redaktion des Vogtländischen Anzeigers übernahm, war für das Blatt ein Vorteil, wenngleich er einen schwerflüssigen Stil schrieb und seine Leitartikel mehr Gedanken enthielten, als die Mehrzahl seiner Leser vertragen konnte. Als er am 16. Juli 1874 einem Herzleiden erlag, setzten ihm seine dankbaren Schüler einen Grabstein, dessen Inschrift mit den bezeichnenden Worten schließt: „Er war ein Mann." Anspruchslos wie er lebte das Kollegium überhaupt, denn begüterte Leute gab es nicht darunter, und die Gehalte waren schmal. Soviel aber auch gelegentlich darüber und auch über andres räsonirt wurde, und trotz mancher persönlichen Häkeleien, wie sie überall vorkommen, thaten doch die Amtsgenossen unverdrossen ihre Pflicht, genossen auch die Freuden einfacher Geselligkeit innerhalb und außerhalb des Hauses, durchstreiften viel die anmutige Umgebung der Stadt und nahmen auch an politischen Dingen meist regen Anteil. Um so größer war die Aufregung, als am 4. Juli die ersten Nachrichten von der spanischen Thronkandidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern eintrafen. An Krieg dachte zunächst natürlich niemand, aber schon vor dem Eintritt in die Sommerferien war er unzweifelhaft. In der letzten Geschichts¬ stunde der Gymnasialprima gab ich daher den Schülern einen kurzen Überblick über die Verwicklung und schloß mit den Worten: „Wenn wir, was Gott

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/205>, abgerufen am 28.07.2024.