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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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wegung setzen. Sie sind der "gewohnte Gedankenkreis, der gleichsam im Be¬
wußtsein seinen festen Wohnsitz aufgeschlagen hat. Weil nun das Streben
solcher Vorstellungen ins Bewußtsein von Erfolg begleitet zu sein Pflegt, so
wird dieser auch unbedingt vorausgesetzt, d. h. ihr Streben schlägt in ein
Wollen um. Der Kern einer solchen Vorstellungsgruppe, der immer mehr
andre, die sich ihm gleichsam aus Gnade und Ungnade ergeben müssen, an sich
zieht, ist nunmehr ein Vorsatz. Der Vorsatz verhält sich aber zu den einzelnen
Strebungen, d. h. den einzelnen Handlungen, genau wie das Genus zur
Spezies."") Die Summe dieser im Innern sich erzeugenden Vorsätze und
geistigen Vorbilder ist nun das, was das Gewissen des Einzelmenschen aus¬
macht.

Aus der Übereinstimmung der einzelnen Strebungen mit dem Vorsatz
entsteht dann die Ruhe und Kraft des guten Gewissens, d. h. die Überein¬
stimmung mit sich selbst, aus ihrem Widerstreit entstehen die Versuchungen
und Schwankungen vor, die Gewissensbisse nach der That.

Nach dieser Auffassung ist das Strafgesetz das Mittel, die Vorstellungen,
die das persönliche Gewissen des Einzelnen erzeugen, in Übereinstimmung zu
bringen mit dem allgemeinen Gewissen des Volkes, und zwar dnrch die Strafe.
Das geistige Bild von der Strafbarkeit einer Handlung an sich und sodann
von der zu erwartenden Strafe soll in den emporsteigenden Vorstellungen zu
einem solchen Einfluß gelangen, daß es die Vorstellungen böser Gelüste ver¬
dunkelt und zurückdrängt. Die Versuche, durch die Strafe den Verbrecher zu
bessern, haben doch nur einen zweifelhaften Erfolg gehabt; wie die Hygiene
für den gesamten Gesundheitszustand wichtiger ist als die Therapie, so ist für
die moralische Gesundheit die Erziehung im allgemeinen, Religion und Schule
wichtiger als die Strafe. Wie die Mutter, so die Brut; wie die Schule, so
das Leben!

Viel wirksamer als durch negatives Verdicken verdrängt man nicht-
gewollte Vorstellungen dadurch, daß man in positiver Weise andre an ihre
Stelle setzt. Weicht nun die moralische Verantwortlichkeit in der Hauptsache
von der einzelnen Handlung in den Charakter zurück, so trägt der Mensch
auch die Verantwortung für die Bildung seines eignen Charakters, sowie des
Charakters der von ihm heranzubildenden Menschen. Nach einem Kantischen
Ausdruck hat jedes Volk und jeder Mensch den Charakter, den er sich selbst
angeschafft hat, und nur Weiber glauben sich völlig gerechtfertigt, wenn sie
sagen: Ja, ich bin nun mal so.

Ohne uns in die Probleme der Vererbung und der angebornen Eigen¬
schaften zu vertiefen, können wir doch eine zeitliche Entwicklung des Charakters,
die von frühester Kindheit an beginnt, gar nicht verkennen. Es scheint, daß
sich die Triebe des Menschen wie die Naturkräfte in der Richtung des ge-



^) Drobisch, Empirische Psychologie.

wegung setzen. Sie sind der „gewohnte Gedankenkreis, der gleichsam im Be¬
wußtsein seinen festen Wohnsitz aufgeschlagen hat. Weil nun das Streben
solcher Vorstellungen ins Bewußtsein von Erfolg begleitet zu sein Pflegt, so
wird dieser auch unbedingt vorausgesetzt, d. h. ihr Streben schlägt in ein
Wollen um. Der Kern einer solchen Vorstellungsgruppe, der immer mehr
andre, die sich ihm gleichsam aus Gnade und Ungnade ergeben müssen, an sich
zieht, ist nunmehr ein Vorsatz. Der Vorsatz verhält sich aber zu den einzelnen
Strebungen, d. h. den einzelnen Handlungen, genau wie das Genus zur
Spezies."") Die Summe dieser im Innern sich erzeugenden Vorsätze und
geistigen Vorbilder ist nun das, was das Gewissen des Einzelmenschen aus¬
macht.

Aus der Übereinstimmung der einzelnen Strebungen mit dem Vorsatz
entsteht dann die Ruhe und Kraft des guten Gewissens, d. h. die Überein¬
stimmung mit sich selbst, aus ihrem Widerstreit entstehen die Versuchungen
und Schwankungen vor, die Gewissensbisse nach der That.

Nach dieser Auffassung ist das Strafgesetz das Mittel, die Vorstellungen,
die das persönliche Gewissen des Einzelnen erzeugen, in Übereinstimmung zu
bringen mit dem allgemeinen Gewissen des Volkes, und zwar dnrch die Strafe.
Das geistige Bild von der Strafbarkeit einer Handlung an sich und sodann
von der zu erwartenden Strafe soll in den emporsteigenden Vorstellungen zu
einem solchen Einfluß gelangen, daß es die Vorstellungen böser Gelüste ver¬
dunkelt und zurückdrängt. Die Versuche, durch die Strafe den Verbrecher zu
bessern, haben doch nur einen zweifelhaften Erfolg gehabt; wie die Hygiene
für den gesamten Gesundheitszustand wichtiger ist als die Therapie, so ist für
die moralische Gesundheit die Erziehung im allgemeinen, Religion und Schule
wichtiger als die Strafe. Wie die Mutter, so die Brut; wie die Schule, so
das Leben!

Viel wirksamer als durch negatives Verdicken verdrängt man nicht-
gewollte Vorstellungen dadurch, daß man in positiver Weise andre an ihre
Stelle setzt. Weicht nun die moralische Verantwortlichkeit in der Hauptsache
von der einzelnen Handlung in den Charakter zurück, so trägt der Mensch
auch die Verantwortung für die Bildung seines eignen Charakters, sowie des
Charakters der von ihm heranzubildenden Menschen. Nach einem Kantischen
Ausdruck hat jedes Volk und jeder Mensch den Charakter, den er sich selbst
angeschafft hat, und nur Weiber glauben sich völlig gerechtfertigt, wenn sie
sagen: Ja, ich bin nun mal so.

Ohne uns in die Probleme der Vererbung und der angebornen Eigen¬
schaften zu vertiefen, können wir doch eine zeitliche Entwicklung des Charakters,
die von frühester Kindheit an beginnt, gar nicht verkennen. Es scheint, daß
sich die Triebe des Menschen wie die Naturkräfte in der Richtung des ge-



^) Drobisch, Empirische Psychologie.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/19>, abgerufen am 06.10.2024.